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„Aktuelle Themen der deutschen Europapolitik“ - Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth an der Wirtschaftsuniversität Bratislava

10.10.2016 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Liebe Studierende,
sehr geehrte Damen und Herren,

viel war in den vergangenen Tagen die Rede vom „Geist vom Bratislava“, der hier beim letzten Gipfel des Europäischen Rates zu spüren gewesen sein soll. Deswegen freue ich mich heute hier zu sein, um zu erfahren, was es mit diesem berühmten „Geist von Bratislava“ eigentlich auf sich hat. Hoffentlich ist es kein böses Schreckgespenst, sondern eher eine neue Form des Miteinanders in Europa. Denn Zusammenhalt und Solidarität können wir in den aktuellen Krisenzeiten mehr denn je gebrauchen.

Die Europäische Union befindet sich derzeit in keiner guten Verfassung. Zuletzt hat das Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede zur Lage der Union sehr deutlich gesagt: Die Europäische Union steckt in einer existenziellen Krise. Das Brexit-Referendum in Großbritannien hat seinen Teil dazu beigetragen, grundsätzliche Fragen nach der Zukunft der EU aufzuwerfen.

Was nun, Europa? Verfallen wir etwa in kollektive Depression? Überbieten wir uns jetzt in Horrorszenarien zum bevorstehenden Zusammenbruch der EU? Kürzlich habe ich in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Foreign Affairs“ den Aufsatz des Politikwissenschaftlers Jakub Grygiel gelesen. Er redet einem Zerfall der EU das Wort und preist die Rückkehr zu einem Europa der Nationalstaaten als einzig erfolgversprechende Alternative, um die Probleme unseres Kontinents zu lösen. Was für ein Unsinn!

Da frage ich mich schon: Lebt Herr Grygiel eigentlich auf demselben Planeten wie ich? Für mich bleibt es dabei: Die EU ist unsere Lebensversicherung in diesen stürmischen Zeiten der Globalisierung und Krisen in unserer Nachbarschaft!

Deshalb möchte ich heute doch etwas grundsätzlicher werden. Die EU steht für uns nicht zur Disposition. Für die Bundesregierung ist der europäische Integrationsprozess Teil einer Staatsräson, die wir in unserem Grundgesetz fest verankert haben. 70 Jahre Frieden, Demokratie und Freiheit in der Europäischen Union sind alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das spüren wir doch in diesen Zeiten bewaffneter Konflikte in unserer Nachbarschaft ganz besonders.

Nur gemeinsam sind und bleiben wir eine Kraft, mit der man rechnen muss. Heute machen wir Europäer gerade einmal acht Prozent der Weltbevölkerung aus, im Jahr 2050 werden es nur noch fünf Prozent sein. Unter den führenden Wirtschaftsnationen der Welt wird dann kein einziges EU-Land mehr sein. Die EU als Ganzes wäre hingegen immer noch in der Spitzengruppe.

Wenn ich die Statistiken richtig interpretiere, dann genießt die EU auch in der Slowakei nach wie vor einen hohen Stellenwert. In der aktuellen Eurobarometer-Umfrage geben 87 Prozent der Slowaken an, dass sie die Freiheiten, die der europäische Binnenmarkt bietet – einschließlich der Personenfreizügigkeit – besonders schätzen. 78 Prozent sprechen sich für den Euro aus. Und 76 Prozent unterstützen weitere Schritte in Richtung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas.

Wenn dem so ist, dann dürfen wir auf gar keinen Fall dem Gefühl der Frustration nachgeben. Im Gegenteil: Jetzt ist der Moment, um die Ärmel hochzukrempeln und für ein anderes Europa zu kämpfen. Die EU muss besser werden, genauer: wir Europäer müssen als Team besser werden!

Europa besser machen. Lassen Sie mich an vier Beispielen darstellen, wie das gelingen kann:

Erstens muss die EU viel handlungsfähiger werden. Damit meine ich, dass sie in der Lage sein muss, Lösungen für konkrete Probleme und Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger zu liefern. Europa muss von den Menschen endlich wieder als Teil der Lösung und nicht nur als Teil des Problems wahrgenommen werden.

Genau hier setzt der Bratislava-Fahrplan an. Dieser Fahrplan ist Teil der Erklärung, die von den Staats- und Regierungschefs der EU27 in dieser Stadt vor wenigen Wochen angenommen wurde. Dieser Fahrplan enthält eine lange Liste von konkreten Projekten, die in den nächsten Monaten abgearbeitet werden sollen. Wir haben uns also darauf verpflichtet, das Besprochene und Vereinbarte auch umzusetzen. Nicht irgendwann, sondern alsbald. Schritt für Schritt.

Zum Beispiel im Bereich innere Sicherheit: Hier wollen wir ein neues System für die Einreise in die EU auf die Spur setzen. Dieses System – ETIAS – wird ermöglichen, dass Reisende, die nicht visumspflichtig sind, dennoch vorab überprüft werden und ihnen notfalls die Einreise verweigert wird.

Oder im Bereich äußere Sicherheit: Wir wollen unsere Fähigkeiten im Bereich Sicherheit und Verteidigung verstärken, etwa im Bereich Cyber oder Satellitenkommunikation. Deutschland setzt sich dafür ein, dass wir im Bereich der Verteidigung eine ständige strukturierte Zusammenarbeit interessierter Mitgliedstaaten einrichten – wir wollen das prüfen für den Sanitätsbereich und den Bereich Logistik.

Zweitens müssen wir konkret im Bereich Migration und Außengrenzschutz besser werden. Seit vergangener Woche hat die EU, genauer die Schengen-Zone, einen eigenen Grenzschutz. Diese Europäische Grenz- und Küstenschutzagentur ist viel mehr als es Frontex bisher war. 1000 Beamte soll die neue Behörde bis 2020 umfassen und ein Budget von 320 Millionen Euro verwalten, doppelt so viel wie heute. Dazu kommen 1500 nationale Polizisten und Experten als schnelle Eingreiftruppe in Reserve.

Aber mir liegt auch am Herzen, dass wir die Migrationspolitik nicht allein auf die Verbesserung des Außengrenzschutzes verengen. Denn es ist doch eine Illusion zu glauben, dass wir uns durch Mauern und Zäune von den Problemen in anderen Teilen der Welt abschotten könnten – selbst wenn wir es wollten. Das haben uns die vergangenen Monate eindringlich vor Augen geführt. Flüchtlingsbewegungen machen nicht an nationalen Grenzen halt, sie bahnen sich ihren Weg – bis vor unsere Haustür, bis wir sie nicht länger ignorieren können.

Dabei möchte ich nicht verhehlen: Deutschland ist mitverantwortlich für die Unzulänglichkeiten der bisherigen Regeln, z.B. der sogenannten Dublin-Verordnung. Lange Zeit haben wir uns dagegen gewehrt, dass der Schutz der Außengrenzen europäisiert wird. Und wir haben uns auch gegen eine faire Verteilung von Flüchtlingen ausgesprochen und die Verantwortung viel zu lange auf die Staaten an der EU-Außengrenze abgewälzt.

Mittlerweile sieht die deutsche Position – wie Sie wissen – ganz anders aus. Das hat auch bei uns etwas Zeit gebraucht, aber wir waren eben auch bereit unsere Position kritisch zu befragen und neu auszurichten. Nun werben wir gemeinsam mit anderen Partnern für eine echte europäische Migrations- und Asylpolitik, die wirksam, aber vor allem auch solidarisch und menschenwürdig ist. Keine Verordnung oder Richtlinie darf jemals infrage stellen, was die EU im Kern ausmacht: Wir sind und bleiben eine Wertegemeinschaft!

Drittens möchte ich das schwierige Thema Solidarität ansprechen. Auch hier müssen wir noch besser werden. Wir sind uns in Europa einig, dass Solidarität zu den Grundfesten der Union gehört. Wir haben in Europa – und damit meine ich alle in Europa – in der Vergangenheit häufig den Fehler gemacht, unsere eigenen Vorstellungen von Solidarität zum Maßstab für Solidarität in ganz Europa zu machen. Das wird uns nicht weiter führen. Solidarität ist unerlässlich, muss aber für jeden Bereich im Einzelfall definiert und konkretisiert werden.

Gerade beim Thema Flucht und Migration sind im vergangenen Jahr deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten darüber entstanden, wie wir innereuropäische Solidarität verstehen wollen.

Eines steht dabei für mich außer Diskussion: Denen, die vor Gewalt, Terror und Krieg flüchten, muss unsere uneingeschränkte Solidarität gelten. Hierzu sind wir rechtlich und moralisch verpflichtet. Und es ist schon merkwürdig, dass Deutschland teilweise in der Kritik steht, weil wir mit Flüchtlingen so umgehen, wie es uns unsere gemeinsamen Werte doch vorgeben – nämlich human und anständig. Dies werden wir auch weiterhin tun und hierfür werden wir uns bei niemandem entschuldigen.

Deutschland und andere Mitgliedstaaten haben die Ansicht vertreten, dass zu Solidarität in Europa auch ein Mechanismus für die faire Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten gehört. Mitgliedstaaten, darunter die Slowakei und die anderen Visegrád-Staaten, haben sich gegen einen solchen Mechanismus gewandt. Das ist ihr gutes Recht. Aber dann müssen wir darüber reden, wie Solidarität in diesem Bereich denn genau aussehen soll.

Ich bin froh, dass der informelle Gipfel in Bratislava hier einen ersten Schritt gemacht hat. Wir reden wieder mehr miteinander anstatt übereinander. Ich sehe in der Mitteilung der Visegrád-Staaten, nach anderen Modellen der Solidarität suchen zu wollen, durchaus einen diskussionswürdigen Ansatz. Wir müssen ja letztlich alle zu Lösungen kommen. Deshalb wird es interessant sein, mit den Staaten darüber zu sprechen, was sie sich genau vorstellen. Ich bin auf konkrete Vorschläge gespannt. Es gilt aber nach wie vor: Solidarität ist eine Zweibahn-, keine Einbahnstraße. Wenn jeder sich eine eigene nationale Interpretation von Solidarität zusammen bastelt, hat das womöglich auch Konsequenzen für andere Politikbereiche wie die Regional-, Agrar- oder auch Kohäsionspolitik. Und wie Sie wissen: Europa ist immer darauf angewiesen, Kompromisse zu finden.

Wer glaubt, dabei würde es ausschließlich geradlinig und am besten ohne Streit ablaufen, der hat von Europapolitik nicht viel verstanden. Im Gegenteil: Wir werden zukünftig noch mehr streiten müssen, weil wir in Europa zunehmend mit schwierigen Verteilungsfragen konfrontiert sind. Aber: Das handfeste Aushandeln nationaler Interessen – und auch Interessengegensätze, wo es sie gibt – ist kein Zeichen von Schwäche, sondern eine schlichte Notwendigkeit. Und manchmal sogar ein Ausdruck von Fortschritt.

Viertens müssen wir bei der Kommunikation über Europa viel besser werden. Es stimmt schon: Diese Forderung richtet sich in erster Linie an Politiker wie mich. Noch immer ist es häufig so, dass nach Ratssitzungen in Brüssel die Vertreter der Mitgliedstaaten vor die Mikrofone treten und das Ergebnis der Sitzung ausschließlich durch die nationale Brille kommentieren. So kann Europa sicher nicht funktionieren. Wir alle müssen auch das europäische Interesse im Blick haben.

Wir müssen damit aufhören, das Cliché von der angeblich regelungswütigen Brüsseler Bürokratie zu bedienen. Lassen Sie mich das an einem kleinen Beispiel illustrieren. Als im Sommer die EU-Verordnung über persönliche Schutzaus-rüstungen beschlossen wurde, mokierten sich die Medien überall in Europa, dass die Kommission nun auch noch Omas gehäkelten Topflappen regulieren würde. Dabei hatten gewählte Politikerinnen und Politiker aus den Mitgliedstaaten im Ministerrat und im Europäischen Parlament die Verordnung beschlossen – und Omas Topflappen war überhaupt nicht davon erfasst.

Diesem und den vielen weiteren Beispielen, die ich nennen könnte, ist eines gemeinsam: So schaden wir Europa. Wenn wir Europa besser machen wollen, dürfen wir nicht so verantwortungslos damit umgehen. Die gerade genannte Verordnung dient beispielsweise dem Verbraucherschutz und führt sogar zu einer Verringerung von Bürokratie, da nicht mehr 28 verschiedene nationale Gesetze in diesem Bereich zu beachten sind. Das heißt nicht, dass die EU nun alle Regelungen vereinheitlichen soll – aber wir sollten auch öffentlich anerkennen, dass viele Regelungen aus Brüssel für den Binnenmarkt schlicht und ergreifend sehr sinnvoll sind.

Wenn wir diese vier Projekte verwirklichen würden, dann wären wir in Europa schon einen großen Schritt weiter. Schon immer in der Geschichte hat sich die Europäische Union aus ihren Krisen nach vorn entwickelt. Krisen können auch Motor für Integration und mehr Zusammenhalt sein. Viele Dinge, die zum Teil vor zehn Jahren – auch aus deutscher Sicht – noch gänzlich unvorstellbar waren, haben wir gemeinsam geschaffen. Das Beispiel des Grenzschutzes habe ich genannt – es gibt viele andere.

Auf diesem Weg sind wir auch heute wieder. Wenn wir die Europäische Union in der Krise zusammenhalten, dann wird sie hinterher nicht dieselbe sein wie vorher, sondern eine stärkere!

Daran werden wir mit unseren Partnern in der EU, gerade auch der slowakischen Ratspräsidentschaft und mit den europäischen Institutionen arbeiten.

Und jetzt bin ich gespannt: Lassen Sie den „Geist von Bratislava“ nun aus der Flasche? Wird er uns zu neuem Mut und neuer Tatkraft beflügeln? Ich freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.

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