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EU-Annäherungsprozess Albaniens: „Es steht viel auf dem Spiel“
Namensartikel von Außenminister Steinmeier anlässlich seines Besuches in Albanien am 14.06.2016. Erschienen auf Albanisch auf www.shqiptarja.com am 14.06.2016.
Namensartikel von Außenminister Steinmeier zum EU-Annäherungsprozess Albaniens anlässlich seines Besuches in dem Land am 14.06.2016. Erschienen auf Albanisch auf www.shqiptarja.com am 14.06.2016.
Für mich steht ganz ohne Zweifel fest: Die Bürgerinnen und Bürger Albaniens sehen die Zukunft ihres Landes in der Europäischen Union. Wir in Deutschland teilen diese Vision. Die europäische Perspektive Albaniens und seiner Nachbarstaaten im Westlichen Balkan haben wir auch im Rahmen des 'Berlin-Prozesses' immer wieder ganz deutlich unterstrichen. Auch deshalb bin ich heute in Tirana.
Wir alle wissen aber auch: Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es nur einen Weg, und das sind grundlegende und tief greifende Reformen. Dass die Umsetzung von Reformen auch immer wieder steinig ist, dass es dazu einiges an politischem Durchhaltevermögen und Kraft braucht, ist nur wahr. Niemand weiß das so gut wie wir. Aber wir wissen auch: es lohnt sich! Deshalb haben sich die albanische Bevölkerung und die politische Führung auch für diesen nicht ganz einfachen Weg entschieden. Dabei gibt es keine Abkürzungen oder Gefälligkeiten. Ich bin mir aber sicher: Albanien und seine Bürgerinnen und Bürger können die anstehenden Aufgaben meistern.
Deutschland bleibt dabei an der Seite Albaniens. Das hat gute Tradition: In den letzten gut 25 Jahren haben wir mit politischem Engagement und breit aufgestellter wirtschaftlicher Zusammenarbeit zur Stabilisierung der neuen demokratischen Ordnung und zur Verbesserung der konkreten Lebenssituation hunderttausender Menschen in Albanien beigetragen. Auch zukünftig kann Albanien auf uns zählen!
Und ich meine, das Erreichte kann sich sehen lassen. Beeindruckende Fortschritte gibt es bei der Transformation der demokratischen Institutionen, des Rechtstaats und der Wirtschaft. Wir haben diese mutigen Schritte wahrgenommen – deshalb haben wir uns vor zwei Jahren dafür eingesetzt, Albanien den Status eines Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu verleihen. Damit konnte ein wichtiges Etappenziel erreicht werden. Darauf darf Albanien sich aber nicht ausruhen! Umso mehr kommt es jetzt darauf an, alle Anstrengungen darauf zu richten, den nächsten Schritt zu tun und die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen auch wirklich möglich zu machen.
Dafür gibt es einen klaren Fahrplan. Fünf Schlüsselprioritäten sind noch zu erfüllen, die damit verbundenen Reformen nachhaltig und umfassend umzusetzen. Dies gilt für alle Felder, sei es die Reform der öffentlichen Verwaltung, die Justizreform an Haupt und Gliedern, den Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen, die Wahrung der Menschenrechte.
Das wichtigste Reformprojekt ist der Umbau der Justiz, die mit vielen Problemen und besonders mit tief sitzender Korruption zu kämpfen hat. Gleichzeitig ist dies die härteste Nuss, die es zu knacken gilt. Rechtsstaatlichkeit ist der Schlüssel zu einem Erfolg des gesamten Reformwegs.
Hier ist Albanien an einer entscheidenden, ja vielleicht historischen Weggabelung angekommen. Die Verantwortlichen in Regierung und Parlament müssen sich fragen: Wollen wir jetzt den nächsten großen Schritt in der EU-Annäherung gehen, oder lassen wir die Chance dazu verstreichen?
Die Europäische Kommission hat sehr deutlich gemacht: Nur wenn die Justizreform in der nächsten Zeit vom albanischen Parlament beschlossen wird, kann die Kommission im Herbst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen. Anders gesagt: Sollte es aller Anstrengungen zum Trotz nicht gelingen, die Justizreform jetzt zu verabschieden, rücken Albaniens Aussichten auf Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen wieder in weitere Ferne.
Auf dem Tisch liegen umfassende Reformvorschläge, die in den vergangenen zwei Jahren unter intensiver Beratung erfahrener europäischer und amerikanischer Experten erarbeitet wurden. Sie haben die volle Unterstützung der hochangesehenen Juristen der Venedig-Kommission des Europarats.
Die übergroße Mehrheit der albanischen Bevölkerung will diese Reform. Sie wünscht sich einen funktionierenden Rechtstaat mit effektiv arbeitenden, unabhängigen Gerichten. Das ist zugleich die Grundlage dafür, dass Albanien sich wirtschaftlich weiterentwickeln kann. Auch deutsche Investoren sind sehr zögerlich mit Investitionen in Ländern, in denen es keine Rechtsstaatlichkeit und keine verlässliche Justiz gibt.
Ich glaube: Mit diesem Reformprojekt kann Albanien zum Vorreiter in der Region für den rechtstaatlichen Umbau des Justizsektors werden. Das würde auch ein beeindruckendes Signal der Bereitschaft Albaniens zu tief greifender Reformpolitik in die EU senden.
Die Reform ist lange und ausführlich im Parlament und in der albanischen Öffentlichkeit diskutiert worden. Dabei hatten alle politischen Kräfte Gelegenheit, im Ringen um die beste Lösung ihre Vorstellungen einzubringen.
Jetzt ist der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen. Jetzt kommt es darauf an, dass die albanischen Politiker Führungsstärke zeigen - zum Wohl ihres Landes und im Interesse der europäischen Perspektiven Albaniens.
Für Albanien steht zu viel auf dem Spiel, als dass es sich ein Scheitern dieses großen Projekts leisten könnte. Ich appelliere an alle politischen Kräfte, jetzt im Interesse des Gemeinwohls staatspolitische Verantwortung zu übernehmen und die Reform zügig im Parlament zu beschließen.