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„Das Schlimmste wäre es jetzt, sich zu verstecken“

07.05.2016 - Interview

Ein Gespräch mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Berliner Schriftstellerin Antje Rávic Strubel und der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb über Europas Pflichten, Fallstricke der Sprache und Syriens Hoffnung. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (07.05.16).

Ein Gespräch mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der Berliner Schriftstellerin Antje Rávic Strubel und der syrischen Autorin Kefah Ali Deeb über Europas Pflichten, Fallstricke der Sprache und Syriens Hoffnung. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (07.05.16).

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Herr Steinmeier, gerade heraus gefragt: Was ist an einer europäischen Schriftstellerkonferenz wichtig?

FWS: Die Fliehkräfte in Europa sind größer geworden. Die Finanzkrise, die Abstimmung in Großbritannien über das Ausscheiden aus der EU, der antieuropäische Rechtspopulismus, die Annexion der Krim, die Krise in der Ostukraine - sie fordern alle Kräfte, auch die intellektuellen. Wir müssen uns deshalb aufs Neue mit der Frage beschäftigen, wofür Europa steht. Auch im Verhältnis zu unseren Nachbarn im Krisenbogen des Nahen Ostens. Ein fünfjähriger Krieg in Syrien mit 300.000 Toten und zwölf Millionen Heimatlosen – das geht uns alle an. Unser Kontinent trägt den Namen einer phönizischen Königstochter aus Sidon, im heutigen Libanon - das ist mehr als nur eine symbolische Verbindung. Es macht deutlich: Europa ist keine Insel, sondern unser Schicksal ist mit dem unserer Nachbarn untrennbar verwoben.

ARS: Ich bin bestimmt keine Autorin, die sich in jede Debatte einmischt. Aber was Europa angeht, so kann man sich hier keine Zurückhaltung leisten. Es radikalisiert sich gerade die Sprache, immer extremere Ansichten werden geäußert, auch im Mainstream der Gesellschaft, immer pauschalere Urteile, etwa in Bezug auf Migranten, werden gefällt. Was Schriftsteller verbindet ist demgegenüber das Interesse am Einzelnen, am Individuum.

Woher kommt die Unruhe in Europa, woher die Attraktion rechter Parteien? An der Wirtschaftslage können solche Radikalisierungen in Ländern wie Österreich, der Niederlande, Dänemark oder auch Deutschland ja derzeit kaum liegen.

ARS: Wir reden falsch. Das fängt schon mit Worten wie „Flutwelle“ und „Flüchtling“ und „Überrolltwerden“ an.

Sie finden schon das Wort „Flüchtling“ irreführend?

ARS: Es macht aus einem Individuum einen Fall, es bringt Unterschiede zum Verschwinden.

FWS: In der Politik machen wir eine ähnliche Erfahrung. Wir reden über Migration, über Konfliktlösungsmodelle, wie haben es mit ungeheurer Komplexität zu tun, die sich in langen Zeiträumen entfaltet. Demgegenüber gibt es das Bedürfnis nach einfachen Antworten. Dieses Bedürfnis erkennen wir an, aber wir sollten uns davon nicht treiben lassen und „einfach“ mit „schnell“ verwechseln. Über die sozialen Medien verbreiten sich Nachrichten heute in rasender Geschwindigkeit – unbestreitbar ein Vorteil in unserer heutigen Welt. Aber mit derselben Geschwindigkeit befördern die sozialen Medien eben auch Gerüchte und Halbwahrheiten. Was wir dringend brauchen, das ist die Bereitschaft zu genauer Lektüre, zur Analyse.

KAD: Der Hinweis darauf, dass Europa seinen Namen von der Tochter eines Königs aus Sidon hat, ist wichtig. Ich glaube, dass wir Syrer die Werte teilen, an die Europäer glauben. Es wird oft anders dargestellt, aber gerade in Syrien ist die Vorstellung weit verbreitet, dass die Gesellschaft sich an Europa orientieren sollte, nicht an den Vereinigten Staaten oder Russland. Darum war auch die Erwartung der Opposition gegen Assad an europäische Unterstützung so hoch. Mittlerweile reden aber alle nur noch von Flüchtlingen und nicht von einem demokratischen Wandel in Syrien, obwohl doch die Lösung des Flüchtlingsproblems in Syrien liegt und nicht in Europa. Und das Flüchtlingsproblem muss gelöst werden, weil davon wiederum die Zukunft Europas abhängt. Denn natürlich führen die Flüchtlinge, wenn noch mehr kommen, hier zu einem demographischen Wandel, natürlich bringen sie eine andere Kultur mit.

FWS: Es ist offensichtlich, dass die Zusammenarbeit in Europa durch die Migration belastet ist. Aber in einem Punkt muss ich widersprechen. Ich verstehe, dass manchmal der Eindruck entstehen kann, die Europäer würden sich nur noch mit der Flüchtlingsfrage befassen. Trotzdem ist er falsch, denn er spiegelt nur die Binnensicht, nicht aber die außenpolitischen Anstrengungen, um die Konflikte in Syrien zu entschärfen und zu beenden. Jeder hat sehen können, wie schwer das ist, wie schwer es etwa war, alle an einen Tisch zu bekommen: Amerika, Russland, Saudi-Arabien und den Iran. Aber jetzt gibt es die Genfer Gespräche, und auch wenn niemand glaubt, dass über Nacht in Syrien Frieden einkehrt, es wird mit einer klaren Perspektive verhandelt: Syrien soll als Staat erhalten werden, der allen ethnischen und religiösen Gruppierungen Raum gibt, und das Assad-Regime soll abgelöst werden.

Frau Deeb, Sie haben vorhin gesagt, in Syrien teile man die europäischen Werte. Zugleich haben Sie von einer besonderen syrischen Kultur gesprochen. Was kann man darunter verstehen?

KAD: Zum einen unterschiedet sich Syrien von anderen Gesellschaften des Nahen Ostens durch eine extreme Vielfalt der Lebensformen und Einstellungen. Zum anderen sind für die Kultur Traditionen und Bräuche entscheidend. Ich nehme als Beispiel einmal die Familie. Durch alle Ethnien und Religionen hindurch ist in Syrien die Familie, als Kernfamilie und als Großfamilie, heilig. Das unterscheidet sich von Gesellschaften, in denen Trennung, Mobilität, das Ausziehen der Kinder aus dem Haus normal sind. Zumal wenn die Migranten aus den mittleren Schichten kommen, in denen der Bezug auf Europa nicht so ausgeprägt ist, wird an diesen Traditionen festgehalten werden.

ARS: Wir wissen ja schon innerhalb Europas oft sehr wenig voneinander. Je abstrakter die Begriffe sind, beispielsweise Werte, desto mehr Einigkeit herrscht – in der Zustimmung wie in der Ablehnung. Aufgabe von Schriftstellern ist es, konkret zu werden, Geschichten zu erzählen, in denen die Individuen dann nicht einfach „Flüchtling“ heißen und in einer Statistik mit großen Zahlen verschwinden.

Erreicht man damit mehr als die Leute, die ohnehin schon bereit sind, von bestimmten Schlagworten und Reflexen abzusehen? Anders gefragt: Wie viele FPÖ-Wähler vermuten Sie unter ihren österreichischen Lesern und wie viele AfD-Anhänger unter den deutschen?

ARS (lacht): Wie man den eigenen Leserkreis ausweitet, ist für jeden Schriftsteller ein Problem.

FWS: Es wird oft und zurecht beklagt, dass wir keine europäische Öffentlichkeit haben. Eine Schriftstellerkonferenz kann so etwas nicht ersetzen, aber sie kann zum Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. So wie eben auch Literatur ganz allgemein hierzu beitragen kann. Denken Sie an Autoren wie Nino Haratischwili, Olga Grjasnowa oder Katja Petrowskaja – wenn uns ihre Geschichten ergreifen, dann begreifen wir zugleich mehr von den Verbindungslinien zwischen unseren Ländern. Außerdem haben Kultur und Politik verschiedene Aufgaben. Politik hat die Freiräume zu schaffen und zu gewährleisten, in denen Kultur entstehen kann. Wenn Antje Ravic Strubel sagt „Wir wollen den Menschen sichtbar machen“, dann heißt da ja gerade nicht, Politik und Kultur gegeneinander auszuspielen!.

ARS: Die Stimme und das Leben des Einzelnen darzustellen, ist selbst ein politischer Vorgang. So, wie es beispielsweise auch das Übersetzen ist. Immer mehr Schriftsteller sind mehrsprachig, immer mehr von ihnen wohnen in mehreren Ländern, oder in Ländern, in denen sie nicht geboren wurden. Es sind solche Perspektiven und solche Erfahrungen, die für Europa wichtig sind.

KAD: Aus einem Staat zu kommen, der einen seiner politischen Ansicht wegen ins Gefängnis gesteckt hat, bedeutet zu wissen: Die eigene Arbeit als Schriftstellerin und Intellektuelle lässt sich nicht von der politischen Situation des Landes trennen, in dem man lebt. Man darf sich nicht vor ihr verstecken.

Interview: Jürgen Kaube. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Frankfiurter Allgemeinen.

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