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„Sprachlosigkeit überwinden“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht im Interview über ein intensivers Zugehen auf Russland und warnt vor den Folgen eines Brexits. Erschienen im Handelsblatt am 22.04.2016.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht im Interview über ein intensivers Zugehen auf Russland und warnt vor den Folgen eines Brexits. Erschienen im Handelsblatt am 22.04.2016.
Herr Minister, Syrien, Ukraine, Islamischer Staat – das sind Begriffe, die das geopolitische Chaos in der Welt beschreiben. Ist Unordnung die neue Weltordnung?
Mit dem Ende der Block-Konfrontation ist eine jahrzehntelange Ordnung mit all ihren zynischen Erscheinungen untergegangen. Wir Deutschen haben davon vielleicht am allermeisten profitiert. Die Berliner Mauer ist gefallen, die deutsche Wiedervereinigung wurde möglich. Nur an die Stelle der alten ist noch keine neue dauerhafte Ordnung getreten. Die Welt ist auf der Suche nach neuer Ordnung. Und dieses Ringen um Einfluss, um Vorherrschaft vollzieht sich eben nicht in friedlicher Seminaratmosphäre, sondern entlädt sich auch gewaltsam. Wir erleben das vor allem im Nahen und Mittleren Osten, wo Konflikte unter dem Mantel kultureller oder religiöser Auseinandersetzung ausgetragen und von Ideologien überlagert werden, die aus Unterschieden Feindschaften machen.
Ist Syrien die größte Herausforderung zur Stabilisierung der Welt?
Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer, eine Hierarchie der Krisen vorzunehmen. Man könnte nach geografischer Nähe, nach der Zahl der Opfer oder dem Potenzial für zukünftige Eskalationen ordnen. Was die Nähe zu uns angeht, ist der Ukraine-Konflikt ohne Zweifel die wichtigste Krise. Bei der Zahl der Opfer und dem Leid im fünfjährigen Bürgerkrieg samt der davon ausgehenden Flüchtlingsströme ganz sicherlich Syrien. Und was das Potenzial grenzenloser Eskalationen betrifft, müssen wir Libyen im Auge behalten und uns dort ganz besonders engagieren.
Sind mit Libyen ähnliche Abmachungen möglich wie mit der Türkei, um keine neuen Flüchtlingsrouten entstehen zu lassen?
Wir sollten die neue Regierung fordern, aber nicht überfordern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre es eine Überforderung, der Regierung Maßnahmen abzuverlangen, die effektive Regierungsgewalt über die Hauptstadt hinaus voraussetzen. Es gibt darüber hinaus einen entscheidenden Unterschied zur Türkei: Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet, und ist bisher nicht einmal ansatzweise in der Lage, eine auch nur einigermaßen menschengerechte Unterbringung von Flüchtlingen sicherzustellen.
Nach einer Welle der Hilfsbereitschaft in der Flüchtlingskrise wachsen bei vielen Deutschen die Zweifel, ob der Bürgerkrieg in Syrien bald beendet werden kann. Wie optimistisch sind Sie, dass eine Lösung noch in diesem Jahr gelingt?
Wer den Mittleren Osten kennt, kann kein Optimist sein. Allerdings ist nach fünf Jahren Bürgerkrieg, fast 300 000 Toten und zwölf Millionen Menschen, die Haus und Hof verloren haben, endlich etwas in Gang gekommen. Im November sind in Wien Amerikaner, Russen, Iraner, Saudis und weitere Akteure aus der Region und aus Europa zusammengekommen, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten. Uns war bewusst, dass das kein einfacher Gang wird, auch jetzt nicht. Man muss sich vorstellen: Auf der Seite der Opposition sitzen Vertreter von Organisationen, die einander vor kurzem noch spinnefeind waren. Diese zu einer gemeinsamen Verhandlungslinie gegen Syriens Präsident Assad zu bringen ist schon schwer genug. Es wird umso schwerer, je konkreter die Entscheidungen werden, die jetzt zu fällen sind. Nicht unerwartet tritt die erste wirkliche Verhandlungskrise zu dem Zeitpunkt ein, in dem wir jetzt ernsthaft über die Bildung einer syrischen Übergangsregierung reden.
Droht nicht ein Scheitern der Gespräche? Die Oppositionsparteien haben gerade den Verhandlungstisch verlassen.
Mich überrascht die Entscheidung der Opposition nicht. Die Eskalationen der letzten Tage um Aleppo und in den Vorstädten von Damaskus haben nach sieben Wochen Waffenruhe wieder Hunderte Menschenleben gefordert. Das war für die Opposition ein Anlass, sich zumindest teilweise von den Gesprächen zurückzuziehen. Ich glaube aber nicht, dass uns jetzt ein völliger Zusammenbruch der Verhandlungen bevorsteht. Trotzdem müssen wir alles tun, um der Waffenruhe wieder Geltung zu verschaffen.
Woher nehmen Sie diese Zuversicht?
Wir haben jetzt immerhin einen halbwegs funktionierenden politischen Mechanismus in Form der Syrien-Kontaktgruppe und der beiden in München eingerichteten Taskforces. Auch der Kontakt zwischen Russen und Amerikanern ist deutlich intensiver. Dass es nach dem Beschuss eines Wochenmarkts bei Idlib mit 40 Toten vor drei Tagen sofort einen Kontakt zwischen Obama und Putin gegeben hat, ist ein gutes Zeichen. Mein Eindruck ist, dass auch Russland ein hohes Interesse hat, dass der Friedensprozess nicht an die Wand fährt.
Gleichwohl sitzt Assad immer noch fest im Sattel. Durch seine Erfolge gegen den IS entsteht der Eindruck, dass es den deutschen Interessen sogar entgegenkommt, Assad noch ein wenig im Amt zu belassen.
Das unterstellt, dass Russen und Iraner Assad um jeden Preis und komme, was wolle, im Amt halten wollen. Natürlich handeln nicht alle, die sich für die Zukunft eines einheitlichen syrischen Staates engagieren, mit derselben Motivation. Und klar ist auch, dass sich durch Russlands Eintritt in den syrischen Bürgerkrieg die Kriegslage verändert hat. Was Russland nach meiner Einschätzung jedenfalls vermeiden wollte und will, sind der völlige Zusammenbruch des syrischen Staatsapparats und die Übernahme der Macht durch islamistische Milizen.
Aber was will der Kreml denn?
Über Russlands Motivationen kann man nur spekulieren. Sicherlich gehören vordergründig auch die Sicherung eigener Marinebasen und damit der Zugang zum Mittelmeer dazu. Ganz sicher will Moskau bei der Neuordnung des Mittleren Ostens auch ein Wort mitreden. Und Moskau geht es auch darum, durch das Engagement in Syrien auf Augenhöhe mit der verbliebenen Weltmacht, den USA, zu agieren. Neben all diesen Interessen sollten wir nicht Russlands Sorge unterschätzen, dass sich Radikalisierungstendenzen in der islamischen Welt des Mittleren Ostens an und sogar in den Südrand Russlands verbreiten könnten. Ich glaube aus all den Gründen nicht, dass Russlands Interesse nur oder vorrangig Assad gilt.
Muss man nicht Russland wieder auf der internationalen Bühne einbinden?
Bei einer flagranten Verletzung des Völkerrechts konnten wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber die Frage der Einbindung und unserer Dialogfähigkeit und Bereitschaft ist für mich keine tagesaktuelle, sondern eine prinzipielle Frage. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man gerade in schwierigen Situationen keine Abschottungspolitik betreiben darf. Es gibt nicht viele Beispiele aus der jüngeren Geschichte, in denen die Folge einer solchen Abschottung, Ausgrenzung und Isolation einer politischen Lösung auf den Weg geholfen hätte.
Ist nicht sogar das Gegenteil der Fall?
Die Beendigung des Iran-Konflikts hat gezeigt, wer sich nur auf ein Instrument festlegt, erreicht selten Veränderungen. Auch in ausweglos erscheinenden Situationen darf man nicht aufgeben, sondern sollte weiter auf Verhandlungen setzen. Aus Erfahrungen wie unseren mit Iran rührt mein Rat, die wenigen Begegnungsmöglichkeiten, die wir noch haben, nicht abzubrechen. Deshalb habe ich mich auch für die Wiedereinsetzung des Nato-Russland-Rats eingesetzt. Der erste Nato-Russland-Rat war mit Schwierigkeiten belastet. Doch ich freue mich, wenn die Einsicht wächst, dass das völlige Abschneiden von Verbindungen mehr Risiken als Chancen birgt.
Würden Sie sich eine Rückkehr zum G8-Format wünschen, also mit der Teilnahme des russischen Präsidenten Putin?
Dass wir im Augenblick im G7-Format sind, ist ja kein Selbstweck. Ich würde mir wünschen, dass wir besser früher als später die Bedingungen vorfinden, die eine Rückkehr zum G8-Format möglich machen.
Altkanzler Gerhard Schröder hat gefordert, Russland stärker entgegenzukommen. Die Fortschritte im Ukraine-Konflikt noch mehr zu würdigen und anzuerkennen. Hat man da eine Chance vertan?
Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass mit der Annexion der Krim Völkerrecht gebrochen wurde. Russland ist nicht irgendjemand, sondern ein Unterzeichnerstaat der Schlussakte von Helsinki. Darin ist die Unverletzlichkeit der Grenzen als eines der obersten Prinzipien Europas festgeschrieben. Darüber können wir nicht einfach hinweggehen. Richtig ist aber: Wir müssen uns aufeinander zubewegen. Ich hoffe sehr, dass wir nach Wochen des Stillstands und nach Überwindung der Regierungskrise in der Ukraine wieder in eine Phase der Kooperation und Kompromissbereitschaft kommen, um das Minsker Abkommen weiter umzusetzen. Die Signale, die wir von der neuen Regierung aus Kiew hören, sind ermutigend.
Haben Sie das Gefühl, dass vonseiten Russlands die Bereitschaft da ist, sich aufeinander zuzubewegen?
Ich sehe ein gemischtes Bild. Beim Iran-Konflikt war Russland sehr kooperativ. In der Ukraine muss Moskau ganz klar mehr tun. Wenn wir über Syrien reden, ist Moskau bei der Unterstützung der Friedensgespräche in Genf hilfreich. Libyen ist im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen seit 2011 und den Folgen der damaligen Entscheidung des Sicherheitsrates ein heikles Thema. Es wäre gut, hier jetzt die Sprachlosigkeit zu überwinden. Ich kann mir vorstellen, dass wir einen ernsthaften Versuch machen, mit Russland in Libyen zu kooperieren. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass sich die Lage in Libyen stabilisiert und IS nicht noch weiter Fuß fasst.
Befinden wir uns in einem Kalten Krieg?
Der Kalte Krieg hatte unterschiedliche Temperaturen. In den kältesten Zeiten gab es sicherlich Situationen, in denen es noch weniger politische Kontakte gab als derzeit. Aber der Vergleich täuscht darüber hinweg, dass wir heute in einer völlig veränderten Situation sind: Die Aufteilung der Welt mit zwei dominierenden Weltmächten liegt hinter uns. Die Vielzahl der derzeitigen Konflikte zeigt uns doch, wie die Welt in Unordnung ist. Staaten befinden sich in Auflösung, in einigen Regionen dieser Welt fehlen jegliche Strukturen und Ansprechpartner. Einen Rückfall in den Kalten Krieg wird es aber nicht geben, weil die Welt komplett anders ist, als in den 60er und 70er Jahren. Und anders heißt vor allem: unübersichtlicher, weniger geprägt von zwischenstaatlichen Konflikten, mit einer stärkeren Überlagerung machtpolitischer Konflikte mit ethnischen und religiösen Motiven. Und insgesamt deshalb gefährlicher, weil unkalkulierbarer als die alte Welt.
Wie wappnen wir uns gegen den Terror?
Unsere Sicherheitsbehörden arbeiten professionell. Allerdings zeigen die Biografien der Attentäter und die Struktur der Anschlagsvorbereitungen, in welchem Maß internationale Vernetzung zu den Anschlagsmustern gehört. Es führt deshalb kein Weg daran vorbei, dass auch die Sicherheitsbehörden in Europa noch stärker zusammenarbeiten.
Wir haben über die Fliehkräfte in Europa gesprochen. Welche Folgen hätte ein Brexit, also ein Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union?
Ich befürchte, dass die Folgen eines Brexits von manchen unterschätzt werden. Sollten sich die Briten wirklich so entscheiden, hätte dies unmittelbare Folgen für Großbritannien selber, für Nachbarn wie Irland und auch für uns. Wir hätten dann ganz schnell und mit voller Wucht eine neue euroskeptische Debatte, die Rechtspopulisten weiter Auftrieb geben kann. Auch deshalb hoffe ich, dass es den Befürwortern in Großbritannien gelingt, die Europagegner zu überzeugen.
Wäre der Brexit der Anfang vom Ende der Europäischen Union?
Das wäre ein Einschnitt! Es ist aus meiner Sicht eine Illusion, dass es am Tag danach unter den 28 minus 1 einfach so weitergeht als wäre nichts geschehen.
Herr Steinmeier, vielen Dank für das Interview.
Das Gespräch führten Sven Afhüppe, Mathias Brüggmann und Thomas Sigmund.