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Laudatio von Europa-Staatsminister Michael Roth zur Verleihung des Weimarer-Dreieck-Preises am 15.11.2015

15.11.2015 - Rede

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Frau Honorarkonsulin,
lieber Herr Hackmann,
sehr geehrte Damen und Herren,

„Wo finden Sie auf einem so engen Fleck noch so viel Gutes? […] Es gehen von dort die Tore und Straßen nach allen Enden der Welt“, schrieb einst Johann Wolfgang von Goethe über seine Wahlheimat Weimar.

Und der gute Goethe kann einfach nicht irren. Ob er wohl meinen Terminkalender kannte? Denn auch für mich als Europa-Staatsminister geht es in den nächsten Tagen im wahrsten Sinne des Wortes „nach allen Enden der Welt“ – nach Berlin, Brüssel, Kopenhagen und New York. Und da ist Weimar – ganz im Sinne Goethes – ein perfekter Startpunkt für meine neue Woche in Europa und der Welt. Und deshalb, lieber Herr Hackmann, bin ich Ihrer Einladung nach Weimar auch so gerne gefolgt.

Bevor ich mich aber den Preisträgern zuwende, lassen auch Sie mich meiner Trauer und Fassungslosigkeit Ausdruck über die Terroranschläge in Paris Ausdruck verleihen. Ich bin so dankbar über jede Kerze, die angezündet, jede Blume, die abgelegt, und jede Gedenkminute, die abgehalten wird. Hier zeigt sich: nicht nur wenige Politikerinnen und Politiker, vielmehr unendlich viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich unseren französischen Freunden in Solidarität und Mitgefühl verbunden. Und genau darauf kommt es an. Schließlich galt das grausame Attentat nicht allein unschuldigen Menschen. Es galt unseren gemeinsamen Werten. Es galt Europa als Gemeinschaft von Demokratie und Freiheit. Es galt unseren offenen, liberalen Gesellschaften.

Bereits zum vierten Mal verleiht der Verein Weimarer Dreieck heute den Preis für zivilgesellschaftliches Engagement. Und was mich besonders freut: Immer haben Sie dabei Projekte ausgezeichnet, bei denen vor allem Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen. Immer haben Sie Initiativen mit dem Weimarer-Dreieck-Preis gewürdigt, die den Blick in die Zukunft richten.

Dass die heutige Preisverleihung ausgerechnet auf den Volkstrauertag fällt, mag purer Zufall sein. Aber es ist ein schönes Symbol. Denn Zukunft braucht eben auch Erinnerung! Beides gehört untrennbar zusammen. Zugebenermaßen ist der Blick in die Zukunft an einem Tag wie heute kein ganz leichtes Unterfangen. Heute gedenken wir der 129 Menschen, die gestern in Paris ermordet wurden, und der Millionen Opfer von zwei furchtbaren Weltkriegen und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft.

Doch auch an einem Tag wie heute geht unser Blick nicht nur zurück, sondern wir haben auch gute Gründe, trotz unserer Trauer und unserem Schmerz voller Hoffnung in die Zukunft zu schauen. Die Preisträger, die wir heute hier in Weimar auszeichnen, sind für uns alle Mutmacher. Ja, eine friedliche Zukunft in einem vereinten Europa ist möglich!

Es ist mir eine große Freude, heute den vom Thüringer Landesverband des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge organisierten trinationalen Jugendaustausch mit dem Weimarer-Dreieck-Preis zu ehren. Auf ursprünglich polnische Initiative hat der Thüringer Landesverband des Volksbundes die Kontakte zur Wojewodschaft Małopolska sowie zur französischen Region Picardie nutzen können, um jeweils 30 Jugendlichen eine Begegnung zu ermöglichen. Zunächst 2014 in Erfurt und Weimar und 2015 im polnischen Gorlice. Im kommenden Jahr ist ein drittes Treffen in Frankreich geplant.

Heute sind mit Anna Sniegwoska, Alicja Werblinska, Verena Kaldik, Clement Siche und Stephanie Roth fünf Teilnehmer und Betreuer des Projekts unter uns. Wie schön, dass Sie da sind! Sie schlagen auf ganz wunderbare Weise Brücken, indem sie die Erinnerung an unsere wechselhafte Geschichte wach halten. Sie schlagen diese Brücken nicht nur zwischen den Völkern und Kulturen, sondern auch zwischen den Generationen. Und deshalb ist der Weimarer-Dreieck-Preis für zivilgesellschaftliches Engagement bei Ihnen auch in den allerbesten Händen!


Sehr geehrte Damen und Herren,

„Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden, sondern Friedensdienst.“ Das sagte der deutsch-amerikanische Soziologe Eugen Rosenstock, der aufgrund seiner jüdischen Wurzeln aus Nazi-Deutschland flüchten musste. Friedensdienst – das klingt erstmal militärisch und so gar nicht nach Frieden.

Als ich das erste Mal hörte, dass ein Projekt der Jugendbegegnung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge den Weimarer-Dreieck-Preis 2015 erhalten soll, habe auch ich zunächst gestutzt: Kriegsgräber – das klingt erstmal nicht nach Frieden. Und warum engagieren sich junge Menschen aus Deutschland, Polen und Frankreich eigentlich bei der Pflege solcher Gräber?

Doch was auf den ersten Blick zunächst abwegig erscheint, leuchtet mehr als ein: Erstens haben viele Jugendlichen ein ausgeprägtes Interesse an Geschichte. Bei der Pflege von Gräbern aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg setzen sie sich aktiv mit den Biographien der dort bestatteten Personen auseinander. In Gesprächen und Diskussionsrunden nähern sie sich den persönlichen Schicksalen von Opfern wie auch von Tätern. Das ist nicht immer leicht. Ihre Geschichten sind berührend und manchmal sogar so schockierend, dass sie uns sprachlos zurücklassen.

Zweitens lernen sich bei den Jugendbegegnungen junge Menschen kennen, die sich vielleicht sonst niemals begegnet wären. Über Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede hinweg treffen sie sich und üben Fähigkeiten, die heute in unserer globalisierten Welt besonders wichtig sind: Offenheit für Menschen unterschiedlicher Herkunft und die Bereitschaft, diese Unterschiede zu überbrücken.

Und drittens zeigt sich bei den Jugendbegegnungen etwas, das wir in Europa derzeit dringend brauchen: gelebte Solidarität. Jugendliche ganz unterschiedlicher sozialer Schichten treffen sich und können ihre Erfahrungen austauschen – gefördert unter anderem durch das Deutsch-Französische Jugendwerk und das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Unabhängig vom Einkommen der Eltern oder dem schwer verdienten Geld aus dem studentischen Nebenjob erleben sie so ein offenes und solidarisches Europa.

Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben selbst erfahren, dass die Friedhöfe, die sie besucht haben, und die Gräber, die sie gepflegt haben, Narben und Wunden in der wechselhaften Geschichte unseres Kontinents sind. Aber sie sind zugleich auch die Keimzelle des vereinten Europas! Denn über diesen Gräbern reichen sich heute Europas junge Menschen die Hände. „Versöhnung über den Gräbern“ – unter diesem wunderbaren Motto steht die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.

Sie haben bei Ihrer Arbeit auch erlebt, was die Pflege von Kriegsgräbern mit dem Friedensprojekt Europa zu tun hat. Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, hat das treffend formuliert: „Wer Europa verstehen will, der sollte einen Soldatenfriedhof besuchen.“

Und Jean-Claude Juncker hat recht: Wo sonst, wenn nicht am Ort eines Massengrabs, wird das unvorstellbare Leid des Krieges zumindest ansatzweise begreifbar? Wo sonst, wenn nicht am Grab eines jungen gefallenen Soldaten, verwandeln sich abstrakte Opferzahlen in die vielen tief berührenden Einzelschicksale von Millionen von Soldaten und Zivilisten, die in zwei Weltkriegen ihr Leben lassen mussten?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ein sehr wichtiges und schon traditionsreiches Format bei der Fortentwicklung des europäischen Friedensprojektes ist das Weimarer Dreieck. Polen, Frankreich und Deutschland hatten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das Ziel vor Augen, die Teilung Europas in Ost und West zu überwinden. Mit der Einbindung Polens in die Nato und die Europäische Union sind wir diesem Ziel näher gekommen.

Im kommenden Jahr feiert das Weimarer Dreieck bereits seinen 25. Geburtstag. Schon jetzt ein Anlass, um eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wie steht es heute um die Ziele des Weimarer Dreiecks? Ist die Teilung Europas in Ost und West heute bereits Geschichte? Ist der Brückenschlag durch die Osterweiterung der Nato und der EU bereits vollendet?

Eine Zeit lang schien es so. Aber lassen Sie mich zwei aktuelle Beispiele nennen, warum wir das Weimarer Dreieck gerade in den derzeitigen Krisenzeiten ganz besonders brauchen.

Zum einen hat sich Weimarer Dreieck in der Ukraine-Krise als trilaterales Format zur Lösung regionaler Fragen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft bewährt. Auf dem Höhepunkt der Krise zeigten die Außenminister des Weimarer Dreiecks Frank-Walter Steinmeier, Radosław Sikorski und Laurent Fabius enormes Verhandlungsgeschick, um in der Nacht vom 20. auf den 21. Januar 2014 mit dem Staatspräsidenten der Ukraine sowie mit den Führern der Opposition in Kiew eine politische Lösung zu erarbeiten. Durch ihren unermüdlichen Einsatz konnte Blutvergießen verhindert werden.

Zum anderen ist da unser Umgang in Europa mit der derzeitigen Flüchtlingsbewegungen: Um die Not der vielen Flüchtlinge zu lindern und sie in unsere Gesellschaften zu integrieren, werden enorme Anstrengungen notwendig sein. Vor uns steht eine Aufgabe, die nicht von einem oder einigen wenigen Ländern in Europa gelöst werden kann. Vielmehr benötigen wir eine gesamteuropäische Kraftanstrengung. Diese Aufgabe werden wir nur gemeinsam schaffen.

Hier sind besonders die Länder des Weimarer Dreiecks als die drei größten Staaten im Zentrum Europas gefragt. Ich bin froh, dass Polen in dieser Frage zuletzt eine konstruktive Haltung in den europäischen Gremien vertreten hat. Und ich hoffe, dass auch die neue Regierung in Warschau diesen Weg weitergehen wird, der Europa als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems begreift.

Lösungen für die Flüchtlingskrise werden aber nicht nur in Paris, Warschau oder Berlin und auch nicht nur von einigen wenigen Politikern entwickelt. Vielmehr bedarf es des Engagements und der Initiative von vielen insbesondere jungen Menschen. So lebt das Weimarer Dreieck nicht nur von den Treffen der Staats- und Regierungschefs sowie der Außenminister. Das Weimarer Dreieck wird getragen vom zwischenmenschlichen Erfahrungsaustausch und lebt im zivilgesellschaftlichen Engagement.

Hier habt Ihr, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des trinationalen Jugendaustausches, Wunderbares geleistet. Den Erfahrungsaustausch und die Verständigung über Grenzen hinweg müssen auch wir Politiker immer wieder neu üben. Von Euren Begegnungen können auch wir noch viel lernen.

Durch Euer ausgeprägtes Interesse für Geschichte wisst Ihr: Europa ist ein Kontinent von Migration, Flucht, Vertreibung und Deportation - von den Völkerwanderungen bis hin zu den furchtbaren Gräueln des Bürgerkriegs auf dem Westbalkan. Ihr begegnet Menschen unterschiedlicher Herkunft mit Offenheit und Respekt. Und Ihr habt erfahren, dass Solidarität nicht nur vom Engagement Einzelner lebt. Es muss von Menschen gemeinsam ausgeübt und so Tag für Tag mit Leben gefüllt werden.

Willy Brandt, selbst ein Flüchtling, sagte einmal „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts.“ Er wusste, dass der Frieden nicht einfach nur die Abwesenheit des Krieges ist. Er wusste, dass das europäische Friedensprojekt – die Überwindung der europäischen Teilung in Ost und West – immer wieder aufs Neue errungen werden muss.

In diesem Sinne habt Ihr als Teilnehmerinnen und Teilnehmer des trilateralen Jugendaustausches im besten Sinne Dienst für den Frieden in Europa geleistet. Ich freue mich, dass Ihr im kommenden Jahr in Frankreich abermals zusammenkommen werdet und so die Möglichkeit habt, Kontakte zu knüpfen. Dieses Zeichen der Solidarität ist ein wunderbares Geschenk. Ihr steht an der Seite Frankreichs. Ihr gestaltet Europas Zukunft. Darauf sind wir stolz. Und dafür danken wir Euch.

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