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Außenminister Steinmeier im Interview mit der Rheinischen Post

08.08.2015 - Interview

Mit der Rheinischen Post (08.08.2015) sprach Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die Rolle der Türkei im Kampf gegen den „Islamischen Staat“, den türkisch-kurdischen Konflikt, die europäische Flüchtlingskrise, die Verhandlungen der Institutionen mit der griechischen Regierung, den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Lage in der Ostukraine.

Mit der Rheinischen Post (08.08.2015) sprach Außenminister Frank-Walter Steinmeier über die Rolle der Türkei im Kampf gegen den „Islamischen Staat“, den türkisch-kurdischen Konflikt, die europäische Flüchtlingskrise, die Verhandlungen der Institutionen mit der griechischen Regierung, den israelisch-palästinensischen Konflikt und die Lage in der Ostukraine.

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Die Türkei hat sich offiziell dem Kampf gegen den Islamischen Staat angeschlossen, bombardiert aber vor allem kurdische Einheiten. Hat Präsident Erdogan die Nato über den Tisch gezogen?

Wir haben immer gefordert, dass die Türkei eine eindeutige Haltung im Kampf gegen islamistische Gruppen in Syrien einnimmt. Sie tut es jetzt. Dass umgekehrt die NATO der Türkei Solidarität beim Kampf gegen den Terror zusichert, ist konsequent und richtig. Dennoch wäre es fatal für die Türkei und für die Region, wenn über die regionalen Konflikte des Mittleren Ostens der innerstaatliche Friedensprozess mit den Kurden jetzt gegen die Wand fahren würde. Das darf nicht sein. Das haben wir unseren türkischen Gesprächspartnern in den letzten Tagen immer wieder vermittelt. Die türkische Führung hat uns und den europäischen Partnern zugesichert, dass sie am Friedensprozess festhalten will, allerdings auch erwartet, dass die PKK umgehend Angriffe auf türkische Sicherheitskräfte einstellt.

Wie lässt sich der Friedensprozess zwischen der Türkei und den Kurden wieder in Gang bringen? Was erwarten Sie jetzt von Ankara?

Es geht jetzt darum, die Abwärtsspirale von Gewalt und Vergeltung zu durchbrechen. Es war die jetzige türkische Regierung, die erstmals die Rechte der Kurden behutsam erweitert und Gespräche mit dem Ziel einer Beilegung dieses langjährigen Konflikts auf den Weg gebracht hat. Dieser Fortschritt darf im Gesamtinteresse der Türkei – und nicht nur der Kurden – nicht wieder zerstört werden.

Nur auf dem Verhandlungsweg kann ein Rückfall in die gewaltsamen Auseinandersetzungen der 90er Jahre verhindert werden, der in der jetzigen Krisenlage unabsehbare Folgen für die ganze Region hätte.

Wie sehr ist die neue türkische Außenpolitik innenpolitisch motiviert?

Über Motive will ich nicht spekulieren. Richtig ist: Die Türkei hat Anfang Juni gewählt, übrigens mit beeindruckend hoher Wahlbeteiligung. Zurzeit finden Koalitionsgespräche statt: Wir wissen noch nicht, mit wem und ob sie überhaupt zu einem Ergebnis führen werden. Dass erstmals auch eine kurdische Partei ins Parlament gewählt wurde, zeigt jedenfalls, dass die Kurden eine ernstzunehmende politische Stimme im türkischen Parteienspektrum sind. Diese Stimme durch administrative und rechtliche Ausnahmen vom politischen Prozess auszuschließen, hielte ich für unklug.

Verändert die türkische Offensive gegen Kurden im Nordirak nicht auch die Geschäftsgrundlage, was den deutschen Patriot-Einsatz in der Türkei betrifft?

Der Auftrag der Bundeswehr in Kahramanmaras ist, die türkische Bevölkerung und die Türkei gegen die Gefahr syrischer Raketenangriffe zu schützen. Und genau in diesem Rahmen sind wir tätig.

Der Wohlfahrtsstaat Deutschland bekommt die Flüchtlingskrise nicht in den Griff. Was läuft da schief?

Nicht wir allein, ganz Europa steht hier in der Tat vor einer Jahrhundertaufgabe, für die es ganz einfache Antworten nicht gibt. Ich bin zunächst einmal froh über die vielen Menschen, die sich ehrenamtlich für die Flüchtlinge, die bei uns ankommen, einsetzen: Soviel zivilgesellschaftliches Engagement hatten wir in diesem Bereich in der Vergangenheit noch nie!

Das kann sich ändern ...

Wir werden diesen großen Rückhalt in der Bevölkerung aber nur erhalten, wenn wir über Schwierigkeiten offen sprechen und glaubwürdig handeln. Ein Problem von vielen ist, dass die Bearbeitung der Anträge zu lange dauert. Das macht den Städten und Gemeinden zu schaffen, die Flüchtlinge aufnehmen. Und auch die Flüchtlinge selbst bleiben zu lange im Ungewissen, wie es mit ihnen weitergeht. Die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer auf dem Westbalkan würde das Problem allein nicht lösen, aber helfen, die Verfahren zu beschleunigen.

Braucht Deutschland auch ein neues Zuwanderungsgesetz?

Ich bin fest davon überzeugt – und nicht erst seit gestern! Wir haben uns zu lange etwas vorgemacht. Wir sind ein Einwanderungsland. Die Zuwanderung, die wir brauchen, können wir nicht dem Zufall überlassen. Wir brauchen Steuerung und deshalb neben dem Asylzugang eine zweite Tür für legale Arbeitsaufenthalte. Das könnte den gegenwärtigen Druck auf den Zugang über Asyl lindern helfen. Das gilt gerade auch für die Menschen auf dem Westbalkan. Hier gab es in der Vergangenheit einige positive Schritte, aber wir können noch besser werden.

Tausende Flüchtlinge warten an der französischen Kanalküste unter dramatischen Bedingungen auf eine Überfahrt nach England: Muss nicht auch Großbritannien endlich mehr für die Lösung des Problems tun?

Ohne Solidarität in Europa geht es nicht, und das gilt auch für die Aufnahme von Flüchtlingen. Die europäische Diskussion darf nicht bei einem „wer tut mehr“ – „wer tut weniger“ stehenbleiben. Deswegen ist es ein wichtiges Zeichen, dass die französische und die britische Regierung eng auch mit der EU-Kommission zusammenarbeiten, um die Situation in Calais zu lösen. Hier sind beide in der Pflicht.

Braucht Europa einen Masterplan, der Kosten, Verteilung und Zuständigkeiten bei dem Flüchtlingsansturm neu regelt?

Die faire Verteilung von Flüchtlingen wird in Brüssel heiß diskutiert. Ein erster Schritt ist mit der Aufnahme auf freiwilliger Basis geschehen, aber damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Das Ziel vieler Flüchtlinge ist Europa, nicht ein einzelnes Mitgliedsland. Deshalb muss auch jedes Mitgliedsland seinen Teil der europäischen Verantwortung tragen. Nicht nur bei der Flüchtlingsaufnahme, sondern auch dann, wenn es um die Verbesserung der Lebensbedingungen in den wichtigsten Herkunfts- und Transitstaaten geht.

In Griechenland lodert die Krise auf: Börsencrash und ein Regierungschef ohne eigene Mehrheit. Droht Chaos?

Ich hoffe, wie auch alle anderen, dass die jetzigen Verhandlungen der Institutionen und des Euro-Rettungsfonds mit der griechischen Regierung zu tragbaren Ergebnissen führen. Die Mitgliedstaaten der Eurozone haben schließlich genau deshalb für ein neues Hilfsprogramm gestimmt, damit Griechenland aus der Krise findet. Das ist auch in unserem ureigenen Interesse. Ein Auseinanderbrechen der Eurozone müssen wir mit allen verantwortbaren Maßnahmen verhindern.

Hat Deutschlands harte Verhandlungsrolle in der Griechenland-Krise dem Image Deutschlands bei seinen europäischen Partnern geschadet?

Zweifellos: der Verhandlungsprozess hat Spuren hinterlassen. Das Verhandlungsgebahren des griechischen Finanzministers hat Irritation und Ablehnung in Deutschland provoziert. Aber wahr ist auch, dass die deutsche Rolle in den europäischen Verhandlungsprozessen gerade in den mediterranen Ländern heute kritischer gesehen wird als noch vor Jahren. Wir müssen das ernst nehmen, gerade in einer Situation, in der der Norden Europas sich ökonomisch stärker entwickelt als der Süden – aus ökonomischen Unterschieden, die es immer gab in Europa, darf kein dauerhaftes Gegeneinander werden. Wir werden auch in der öffentlichen Debatte noch klarer machen müssen, dass wir für gemeinsame europäische Lösungen stehen und arbeiten und nicht in nationalstaatliche Interessenswahrnehmung zurückfallen wollen. Gerade wir Deutschen dürfen uns nicht der Selbsttäuschung hingeben, für uns würde es ohne Europa einfacher. Kaum jemand in der EU ist so sehr angewiesen auf ein wiedererstarktes Europa wie wir Deutschen.

In der Ost-Ukraine sterben fast jeden Tag Menschen: Ist der Waffenstillstand nicht faktisch gescheitert?

Vor einem Jahr standen wir in der Ukraine kurz vor einem offenen Krieg, der nicht nur das Land, sondern für den gesamten europäischen Kontinent verheerende Folgen gehabt hätte. Auch heute ist die Gefahr einer militärischen Eskalation noch nicht gebannt. Noch immer wird geschossen und noch immer sterben Menschen. Doch Fakt ist: Die Konfliktparteien reden miteinander.

Ist Minsk II angesichts der Verletzungen der Waffenruhe noch eine Verhandlungsgrundlage?

Minsk ist und bleibt das einzige Format, zudem sich alle Konfliktparteien bekannt haben. Eine Alternative haben wir nicht.

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Interview: Michael Bröcker. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Rheinischen Post.

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