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Rede des Staatsministers für Europa, Michael Roth, anlässlich der Eröffnung des Kongresses „Werte und Wandel“ – Zukunftsentwürfe für Kultur und Zivilgesellschaft in der Ukraine, Belarus, Moldau und Georgien am 11.12.2014
--es gilt das gesprochene Wort--
Vor ziemlich genau einem Monat haben wir hier in Berlin den 25. Jahrestag des Mauerfalls gefeiert.
Vergessen wir nie: Es ist immer noch ein kleines Wunder, dass wir heute auf dieser Seite des Brandenburger Tors, hier in der Akademie der Künste, eine Konferenz abhalten können.
Nur etwa 100 Meter von hier verlief über 40 Jahre die innerdeutsche Grenze – 27 Jahre davon befestigt durch eine trutzige Mauer, gewaltsam gesichert durch Soldaten, Stacheldraht und Selbstschussanlagen.
Mit der massiven Abschottung wollte das DDR-Regime vor allem zweierlei bewirken: die Menschen in der DDR vor „schädlichen ideologischen Einflüssen“ von außen „schützen“ und sie daran hindern, das Land zu verlassen.
40 Jahre lang wurde den Bürgerinnen und Bürgern der DDR so eine Werteordnung von oben aufgezwungen, mit der sie sich, ob sie wollten oder nicht, arrangieren mussten.
Die Menschen in den beiden Teilen Deutschlands lebten somit über Generationen hinweg in unterschiedlichen Werteordnungen.
Nur durch die massive Unterdrückung, Einschüchterung und Kontrolle der Menschen konnte sich das DDR-Regime überhaupt so lange halten.
Am 9. November 1989 kam dann die von vielen erhoffte, aber doch unvorstellbare Wende: das kommunistische Experiment war gescheitert, Deutschland wurde wiedervereinigt – wir waren ein Volk, und wir wurden wieder ein Land!
Ein von vielen lang ersehnter Traum ging in Erfüllung, stellte Menschen und Regierungen aber vor gewaltige Bewährungsproben.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sich das anfühlte, als wir uns damals mit unseren Landsleuten aus den thüringischen Nachbargemeinden vor Freude in den Armen lagen: wir waren uns vertraut, aber irgendwie auch fremd.
Denn die beiden Teile Deutschlands hatten sich im Laufe der Jahrzehnte in so unterschiedliche Richtungen entwickelt, dass sie plötzlich nicht mehr so ohne weiteres zusammenpassten.
Heute, 25 Jahre später, blicken wir auf ein buntes, vielfältiges und geeintes Land.
Es ist – wie Willy Brandt es einen Tag nach dem Mauerfall und drei Jahre vor seinem Tod, richtig vorhersah – „zusammengewachsen, was zusammen gehört“. Auch die viel beschworene „Mauer in den Köpfen“ ist heute weitgehend abgebaut.
Und doch gibt es vereinzelt aufgeregte Debatten und enttäuschte Erwartungen, die darauf hindeuten, dass immer noch nicht alle Wunden der jahrzehntelangen Teilung verheilt sind. Manche Narben werden sogar für immer bleiben.
Dass sich Wertvorstellungen im Laufe der Zeit wandeln können, ist doch selbstverständlich. Aber: Wertewandel braucht in der Regel Zeit.
Wir dürfen nicht vergessen: Ein Mensch, der sich den Großteil seines Lebens von bestimmten Werten hat leiten lassen, wird im Alter nicht ohne weiteres von heute auf morgen eine „180-Grad-Wertewendung“ vornehmen können. Alte Vorstellungen wachsen langsam aus, neue wachsen nach.
Wenn sich eine ganze Gesellschaft in einem Prozess des Wandels befindet, wie damals in Deutschland nach der Wiedervereinigung, ist vor allem wichtig, dass wir Toleranz zeigen, uns in Geduld üben und einen respektvollen Umgang miteinander pflegen.
Was können wir aus dem Zusammenbruch der DDR und anderer kommunistischer Regime lernen?
Erstens: Werte sind Stabilisations- und Identifikationsfaktoren einer Gesellschaft.
Zweitens: Werte müssen gelebt und von der Gesellschaft getragen werden. Ein Wertesystem, das im Widerspruch zur Realität steht, und das den Menschen „von oben“ übergestülpt wird, muss über kurz oder lang scheitern.
Drittens: Werte können Ausgangspunkt und Katalysatoren des gesellschaftlichen und politischen Wandels sein.
Diese drei „Lehren“ aus der jüngsten deutschen und europäischen Geschichte möchte ich Ihnen für Ihre heute beginnende dreitägige Konferenz mit auf den Weg geben. Denn aus der Geschichte können wir vieles lernen.
Die Länder, für deren Kultur und Zivilgesellschaft Sie sich vorgenommen haben, „Zukunftsentwürfe“ anzufertigen, stehen derzeit in ganz besonderem Maße vor großen Aufgaben. Das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern gleichermaßen auch für Belarus, Moldau und Georgien.
Die größte Bewährungsprobe für diese Staaten und für uns gemeinsam in Europa ist sicherlich das inakzeptable Vorgehen Russlands in der Ukraine. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ostukraine stellen die Fundamente der europäischen Friedensordnung in Frage. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs drohen neue Trennlinien auf unserem Kontinent. Das dürfen wir nicht zulassen!
Die Ukraine, Belarus, Moldau und Georgien wären – nicht nur wegen ihrer geographischen Lage zwischen Russland und Europa – unmittelbar von neuen Mauern und neuer Entfremdung betroffen.
In allen vier Ländern gibt es – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – Bestrebungen in beide Richtungen: einerseits den Wunsch nach einer stärkeren Anbindung an Europa, andererseits die traditionell engen Beziehungen zu Russland.
Belarus zeigt zuletzt wieder größere Offenheit in den Beziehungen zu Europa. Auch wenn der Abschluss eines Assoziierungsabkommens derzeit nicht zur Debatte steht, so nimmt Belarus doch aktiv an der Östlichen Partnerschaft teil.
Damit soll wohl auch die bisherige einseitige Ausrichtung auf Russland durch sorgsam abgestimmte Kooperation mit der Europäischen Union ausbalanciert werden.
Gleichzeitig geht die Regierung in Belarus aber weiterhin gewaltsam gegen kritische Zivilgesellschaft und Opposition vor und unterdrückt freie Meinungsäußerung.
Die Europäische Union hat daher ihre Unterstützung für die belarussische Zivilgesellschaft seit 2010 kontinuierlich ausgebaut, beispielsweise durch einen engeren Austausch in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Bildung. Damit können wir Belarus langfristig auch an europäische Strukturen der Zusammenarbeit heranführen.
Die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau hingegen gehen nach Ende der Sowjetzeit ein großes Wagnis ein: sie modernisieren, öffnen und demokratisieren Schritt für Schritt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine fundamentale Transformation!
Dieser umfassende Wertewandel verlangt diesen Ländern viel politischen Mut ab. Auch innenpolitische Spannungen bleiben dabei nicht aus. Denn ein so radikaler Wertewandel vollzieht sich ja nicht ohne Spannungen, er kennt nicht nur Gewinner, sondern bringt zumindest kurzfristig immer auch Verlierer hervor.
Dennoch halten diese Länder trotz aller Beschwernisse fest an einem demokratischen und freiheitlichen Weg in Richtung Europa. Der Abschluss der Assoziierungsabkommen mit der EU in diesem Sommer hat dies noch einmal eindrucksvoll bestätigt.
Dass dieser Weg Politik und Gesellschaft vor eine gewaltige Zerreißprobe stellen kann, erleben wir nun seit über einem Jahr in der Ukraine.
Deshalb unterstützen wir die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformprozesse in Ukraine, Georgien und der Republik Moldau nachdrücklich: durch Beratung und enge Begleitung bei der Umsetzung der Assoziierungsabkommen, aber auch durch finanzielle Unterstützung.
Wir machen aber auch immer wieder deutlich: es darf für die Länder der östlichen Partnerschaft nicht um eine Entweder-Oder-Entscheidung gehen.
Die östliche Partnerschaft, der Ausbau der Beziehungen zwischen der EU ihren östlichen Nachbarn, will unsere Partnerländer eben nicht vor die Wahl stellen. Und schon gar nicht ist dieses Projekt gegen Russland gerichtet.
Ganz im Gegenteil: Die EU wird das Ziel einer stabilen, friedlichen und wirtschaftlich gedeihenden Nachbarschaft nur erreichen, wenn unsere Nachbarn auch gute Beziehungen untereinander und zu ihren Nachbarn im Osten pflegen.
In allen vier Ländern wird nur ein Sowohl-Als-Auch-Modell funktionieren. Nur so können wir verhindern, dass ein neuer Eiserner Vorhang entsteht.
Wichtig dabei ist, sich der gemeinsam gelebte Werte immer wieder selbst zu vergewissern. Weder existieren derzeit einheitliche Wertevorstellungen zwischen diesen vier Ländern noch innerhalb ihrer Gesellschaften, noch gibt es ein gemeinsames emotionales, politisches und wirtschaftliches Konzept, das diese Länder zu einen vermag.
Diesen gesellschaftlichen Findungsprozess müssen wir mit größtmöglicher Offenheit, mit Toleranz aber auch gegenseitigem Respekt unterstützen.
Die von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte inspirierte Europäische Menschenrechtscharta und das Völkerrecht bieten einen idealen Rahmen dafür, bilden aber zugleich auch die Grenzen, in denen sich eine Werteordnung bewegen kann.
Maßstab für unser politisches Handeln muss stets die Stärke des Rechts sein, und niemals das Recht des Stärkeren. Die Menschenrechte sowie die universell anerkannten Prinzipien des Völkerrechts sind als Kernbestandteile der Weltwerteordnung nicht verhandelbar.
Dies sollten wir gerade in diesem Jahr, in dem wir uns an den Ausbruch zweier furchtbarer Weltkriege vor 100 bzw. 75 Jahren erinnern, niemals aus dem Blick verlieren. Wir dürfen das in den vergangenen Jahrzehnten Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Als Jean Monnet vor über 60 Jahren die ersten Skizzen für die „Montanunion“ anfertigte, hätte er sich sicher nicht träumen lassen, dass daraus einmal eine Europäische Union mit mittlerweile 28 Mitgliedstaaten werden würde. Heute wäre Jean Monnet wohl hoch erfreut, dass die EU weit mehr ist als nur ein gemeinsamer Markt und eine Währungsunion. Denn Europa ist heute vor allem eine Werteunion, eine Rechtsstaatsfamilie, eine Solidargemeinschaft!
Gerade weil die EU sich immer wieder in einen kritischen Diskurs mit sich selbst und Außenstehenden begibt und bereit ist, Veränderungen und Wandel zu erlauben, ist sie stets „state of the art“.
Und was unsere gemeinsamen Werte angeht: wir wissen, dass wir sie immer wieder aufs Neue pflegen und verteidigen müssen – nicht nur nach außen gegenüber Drittstaaten wie China oder Russland, sondern auch in unseren eigenen Reihen.
Damit wir von anderen glaubwürdig die Einhaltung der Menschenrechte und die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den Schutz von Minderheiten einfordern können, müssen wir auch innerhalb der Europäischen Union schnell und entschlossen reagieren, wenn unsere gemeinsamen Werte in Bedrängnis geraten. Daran arbeiten wir gerade in Brüssel gemeinsam mit unseren Partnern.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie in den kommenden drei Tagen hier in der Akademie der Künste, fruchtbare Ansätze für tragfähige Zukunftsmodelle erarbeiten können.
Die Gedanken, die Sie auf dieser Konferenz austauschen, die Pläne die Sie schmieden und die Lösungen, die Sie hoffentlich entwickeln werden, sind wichtige Mosaiksteine in einem großen Bild.
Das Auswärtige Amt unterstützt gerne diese Konferenz. Wir wollen relevante Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus der Region zusammenbringen und mögliche gemeinsame Konzepte für die Zukunft der postsowjetischen Gesellschaften erarbeiten. Wenn ich heute in diesen Saal blicke, dann bin ich überzeugt: Das war eine gute Investition in die Zukunft!
Gerade in Zeiten der Krise ist es wichtig, dass Zivilgesellschaft und Kulturschaffende ihr Wort erheben und sich kritisch einbringen. Denn Lösungen können nur dann tragfähig sein, wenn ihnen ein gemeinsames Verständnis zugrunde liegt. Und Verständnis zu entwickeln setzt zunächst Zuhören und das Verstehen der jeweiligen Positionen voraus, um Interessen besser nachzuvollziehen und „Brücken“ zu bauen.
Und wer könnte dies besser als Sie? Sie sind die „Freigeister“ und die Seismographen der Gesellschaft, Sie haben ihren Finger nah am Puls der Zeit. Nicht selten waren es auch Kulturschaffende, die ihrer Zeit voraus waren. Sie sind es, die unkonventionelles Denken und Debatten ohne Tabus fördern. Dies gefällt mir!
Veränderung, die von unten kommt, aus dem Herzen einer Gesellschaft, ist die Veränderung, die das Zeug dazu hat, auf Zustimmung zu stoßen und dauerhaft zu bleiben.
Schmieden Sie also Pläne, die nicht allein auf dem Reißbrett verbleiben, sondern irgendwann Früchte tragen und in die Tat umgesetzt werden, um uns allen eine Zukunft in Frieden und Freiheit zu ermöglichen. Ich wünsche Ihnen dabei gutes Gelingen.