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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des von der Deutschen Wehrmacht verübten Massakers an der Zivilbevölkerung in Civitella, Italien
– es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrte Frau Außenministerin,
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
sehr geehrte Damen und Herren,
Deutsche und Italiener teilen viele Traditionen. Am 29. Juni jedes Jahres gedenken wir der Kirchenväter Petrus und Paulus. Nach der Überlieferung hat Jesus zu Petrus gesagt: „Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“
Als die Bewohner dieser Stadt sich am Morgen des 29. Juni 1944 in der Kirche versammelten, mussten sie die Mächte der Unterwelt fürchten wie nie zuvor. Truppen der deutschen Wehrmacht rückten von verschiedenen Seiten nach Civitella ein. Drinnen in der Kirche feierte Pfarrer Don Alcide die Messe, draußen wütete die Gewalt. Deutsche Soldaten jagten die Bewohner durch die Straßen und steckten die Häuser in Brand. Auch die Kirche konnte die Menschen nicht schützen. Sie wurden aus dem Gottesdienst gezerrt. Über 240 Menschen wurden umgebracht, vor allem Männer, aber auch Frauen und Kinder. Blut und Flammen färbten Civitella an jenem Tage rot.
Ich stehe heute vor Ihnen als deutscher Außenminister und kann nicht fassen, was Deutsche hier vor 70 Jahren getan haben. Es erschüttert und beschämt mich zutiefst. Ich verneige mich mit Scham und in Trauer vor den Toten des Massakers von Civitella. Den Anwesenden, den Überlebenden, den Opfern und ihren Nachfahren möchte ich sagen: Wir Deutschen wissen, welche Verantwortung wir bis heute für die Gräueltaten unserer Landsleute tragen.
Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg große Schuld auf sich geladen, auch in Italien. Im ganzen Lande wüteten Wehrmacht und Waffen-SS auf grauenvolle Weise. Zehntausende Menschen fielen ihnen zum Opfer.
Italien, das ist seit Jahrhunderten der Sehnsuchtsort der Deutschen. Unsere besten Dichter, ob Goethe oder Heine, priesen dieses Land. Umso unbegreiflicher nimmt sich dagegen der Zivilisationsbruch aus, den Massaker wie das von Civitella markieren.
Gerade deshalb ist es umso wichtiger, dass wir nicht verdrängen und vergessen, sondern uns mit der Geschichte auseinandersetzen und die richtigen Lehren aus ihr ziehen. Auch das ist unsere Verantwortung vor den Toten von Civitella.
Ich danke jenen, die die Erinnerung aufrechterhalten. Zeitzeugen und Nachfahren, versierte Historiker und engagierte Laien, Italiener und Deutsche bemühen sich, Licht ins Dunkel zu bringen, damit wir heute sehen können, was morgen nicht wieder geschehen darf. Viele von diesen engagierten Menschen sind hier heute mit uns und in den nächsten Tagen werden erstmals Überlebende und Nachkommen des Massakers von Civitella mit Nachkommen der Täter zusammenkommen. Ich empfinde größten Respekt vor diesem mutigen Schritt.
Civitella, Sant'Anna di Stazzema und Marzabotto sind Orte des Schreckens. Sie sind aber auch zu Orten der Begegnung und Versöhnung geworden. Das ist etwas Kostbares. Die Arbeit der Deutsch-Italienischen Historikerkommission war ein Signal dieser Gemeinsamkeit. Mit ihrem Zukunftsfonds wird die Bundesregierung die Aufarbeitung und Erinnerung weiter fördern. Auch die Erweiterung des Dokumentationszentrums hier in Civitella wird dadurch unterstützt.
Gestern jährte sich das Attentat von Sarajewo zum hundertsten Mal. Vor 75 Jahren entfesselte das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg. In Civitella erinnern wir heute daran, wohin Kriege führen können: in den Exzess der Gewalt.
Dass wir nach diesem Schrecken wieder Freunde werden konnten, verdanken wir auch Ihrer Bereitschaft zur Versöhnung. Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, heute zu reden und um Verzeihung zu bitten für das Unverzeihliche.
In der Europäischen Union sind wir heute in Freundschaft vereint. Keine Wirtschaftskrise darf diese europäische Solidarität sprengen. Und keine politische Krise darf uns dazu verleiten, Krieg wieder für eine Lösung zu halten.
Das schulden wir den Toten des 29. Juni 1944. Die Mächte der Unterwelt werden nicht wieder die Oberhand erlangen können – weder in Civitella noch irgendwo sonst in Europa.
Vielen Dank.