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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Veranstaltung „Deutschland und Tunesien“
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrter Herr Premierminister Jomaa,
Exzellenzen, verehrte Gäste,
liebe Frau Mohn,
Ihnen und der Bertelsmann-Stiftung gilt zunächst mein herzlicher Dank dafür, dass Sie uns in Ihren prächtigen Räumlichkeiten unter den Linden empfangen.
Und zwar nicht nur, weil wir Nachbarn sind. Nicht nur, weil es ein kurzer Weg ist. Sondern weil wir heute inmitten all der Krisen und Konflikte – insbesondere den schweren und Besorgnis erregenden Kämpfen im Irak – hier zusammenkommen, um über ein Land zu sprechen, das seit den Umbrüchen der letzten Jahre eine positive Entwicklung genommen hat. Ein Land, das Mut macht!
In den 1930er Jahren prophezeite der tunesische Dichter Abu Kassem El Chebi, dass das Zeitalter der Autokraten zur Neige ginge. Dass sie fortgespült würden von einer Welle des Zorns.
„Ila Tuchat al-Alam“ – „An die Tyrannen dieser Welt“ heißt eines seiner bekanntesten Gedichte. Es heißt darin: „Wer Dornen säht, wird Wunden ernten.“
So ist es geschehen. Am 17. Dezember 2010 steckte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in der Stadt Sidi Bouzid aus Protest gegen die Schikanen der Obrigkeit selbst in Brand.
Die Welle des Zorns hat seither ganze Regime hinweggespült: nicht nur in Tunesien, auch in Ägypten, Libyen, Jemen.
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Und dennoch: Man muss der Versuchung widerstehen, die vielen und vielschichtigen Entwicklungen in der Arabischen Welt über einen Kamm zu scheren.
Dreieinhalb Jahre, nachdem die Welle des Zorns in Tunesien ihren Anfang nahm, ist es an der Zeit für eine ehrliche Bestandsaufnahme. Und eindeutig in dieser Bestandsaufnahme ist nur eines: Die Transformationsländer haben sich höchst unterschiedlich entwickelt.
Ihnen allen dasselbe Analyseschema aufzudrücken – das Schema von einer freiheitsliebenden jungen Generation auf der einen Seite, und alter autokratischer Strukturen auf der anderen – ist nicht richtig. Und es war auch nie richtig. Ein solches Schema hat die Tiefenstruktur der Konflikte in der Arabischen Welt zu keinem Zeitpunkt umfassend und ausreichend beschrieben.
Schon auf Tunesiens Nachbarland Libyen traf dieses Schema nicht zu. Und eklatant versagt es der Beschreibung des Syrienkonflikts. Dort war am Anfang die Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit dominant. Und die gibt es weiterhin. Daneben gab und gibt es aber eben auch einen wachsenden Teil von Opposition, der sich an Brutalität und Rücksichtslosigkeit in nichts vom Regime unterscheidet. Übersehen worden ist, dass der Syrienkonflikt von Anfang an eben auch ein Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft in der islamischen Welt war.
Und dieses Ringen um die sunnitische und schiitische Einflusssphäre bricht nun auf brutale Art und Weise im Irak wieder auf.
Wenn diese komplexere Analyse richtig ist, dann müssen wir dringend verhindern, dass sich die Gewalt auf irakischem Boden ausweitet in einen Stellvertreterkrieg der regionalen Mächte.
Alle Nachbarn – Saudi-Arabien, die Golfstaaten, die Türkei, übrigens auch der Iran – können kein Interesse daran haben, dass sich jenseits Syriens in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein riesiger herrschaftsloser Raum entwickelt, der zum Tummelplatz für Söldnergruppen, Islamisten jedweder Couleur und Terroristen wird. Der Irak darf nicht zu einem ständigen Gefahrenherd für den Nahen und Mittleren Osten werden!
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Gerade weil die Tiefenstruktur in der Region komplex, und die Spannungen enorm sind, lohnt ein genauer Blick auf das tunesische Beispiel. Was ist dort gelungen, was anderswo noch nicht gelungen ist?
An Tunesien zeigt sich vor allem eines: dass es nach einer Umbruchsituation darauf ankommt, einen inklusiven politischen Prozess in Gang zu bringen – einen Prozess, der die verschiedensten Akteure und Parteien möglichst fair und möglichst transparent mit einbezieht.
Ich erinnere mich noch gut an meinen vorletzten Besuch in Tunis vor etwas mehr als einem Jahr. Damals sagte mir die säkulare Opposition: Niemals wird die islamische Ennahdha-Partei freiwillig das Premierminister-Amt räumen. Und dann tat sie es eben doch! Und dafür hat gerade auch der ehemalige Ministerpräsident Ali Larayedh meinen ganz persönlichen Pespekt.
Mit dem Machtverzicht der Ennadha-Partei zugunsten der unparteiischen Regierung unter Mehdi Jomaa ist Vertrauen auf allen Seiten der Bevölkerung entstanden. Und diese Legitimität wiederum ist unerlässlich, um Reformen einzuleiten, die notwendig sind, um Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaft zu stabilisieren.
Das ist jetzt die Aufgabe, die vor Ihnen liegt, sehr geehrter Herr Premierminister, und dafür haben Sie unsere volle Unterstützung.
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Der Kernbegriff für den Erfolg der Transformation lautet also: Teilhabe. Politische genau wie wirtschaftliche Teilhabe. Und Teilhabe aller Gruppen – nicht nur derer, die sich momentan in der Oberhand wähnen.
Wie kann man eine solche Teilhabe organisieren? Ich bin überzeugt – und das Beispiel Tunesiens bestärkt mich darin--, dass die Institutionen einer Demokratie für die politische Teilhabe und die Institutionen einer Marktwirtschaft für die wirtschaftliche Teilhabe immer noch die besten Erfolgsaussichten haben.
Keine Frage: Auch Demokratie und Marktwirtschaft sind nicht perfekt – aber ein besseres Modell ist mir zumindest noch nicht über den Weg gelaufen.
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Erlauben Sie mir zunächst ein paar Worte zur politischen Seite, zum Aspekt der Demokratie.
Wir in Deutschland haben Tunesien das Angebot einer Transformationspartnerschaft gemacht. Hinter diesem Begriff verbirgt sich eine lange Liste konkreter Projekte – von Austauschprogrammen für tunesische Beamte bis hin zum Dialog durch unsere politischen Stiftungen.
Ein Aspekt der Zusammenarbeit ist mir besonders wichtig: die Zusammenarbeit der Parlamente. Wir wollen diesen Austausch zwischen Deutschland und Tunesien weiter stärken. Auch auf vielen eigenen Besuchen, zuletzt gemeinsam mit meinem französischen Kollegen Laurent Fabius, habe ich deutlich gemacht, wie wichtig uns das Gelingen demokratischer Reformen in Tunesien ist.
Denn wenn es dort nicht gelingt – welche Chancen haben dann Länder der Region mit ungünstigeren Bedingungen?!
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Neben dem Aspekt der politischen Teilhabe gerät jetzt das Thema Wirtschaft in den Mittelpunkt.
Herr Premierminister, Sie haben es sich zum Ziel gemacht, Ihr Land auf Wachstumskurs zu bringen! Und kaum einer ist dafür so geeignet wie Sie, lieber Mehdi – ein erfolgreicher Manager, der um seinem Land zu dienen eine Auszeit in seinem eigentlichen Beruf genommen hat. Meine Hochachtung vor Ihrem gelebten Patriotismus – ich bin auf die Memoiren über Ihren Ausflug in die Politik gespannt…
Deshalb folgt nach dem Nationalen Dialog auf politischer Ebene ein Nationaler Wirtschaftsdialog.
Wir sind auf die Ergebnisse gespannt!
Wirtschaftlicher Erfolg ist wichtig, auch für die Demokratie! Denn wenn sich in einer Demokratie nicht auch die Lebensqualität verbessert, wie soll man dann dauerhaft die Herzen der Menschen für die Demokratie gewinnen? Auf diese Verbindung haben Sie, lieber Mehdi Jomaa, zurecht hingewiesen.
In meinen Gesprächen – auch zuletzt in Tunis - höre ich oft die Bitte um mehr Investitionen aus Deutschland.
Bislang ist Deutschland als Wirtschaftspartner in Nordafrika nur die Nummer Vier hinter Italien, Frankreich und Spanien. Deutschland liegt nun mal nicht am Mittelmeer – auch wenn wir das gern hätten, gerade jetzt in den Urlaubsmonaten, aber so ist es nunmal…
Ich teile aber den Wunsch, dass wir die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Tunesien und der EU als Ganzer –nicht nur in der Mittelmeerregion– ausbauen. Denn für Tunesien ist die unmittelbare geographische Nachbarschaft zur Europäischen Union eine enorme Chance!
Schon heute hat Tunesien 80% seines wirtschaftlichen Handels mit der EU. Wir wollen diesen Handel zum Wachsen bringen. Deshalb bietet die EU Tunesien die Perspektive einer vertieften und umfassenden Freihandelszone an. Ich wünsche mir, dass möglichst bald konkrete Verhandlungen daraus werden.
Flankiert werden muss dieser Prozess auch durch eine Europäische Nachbarschaftspolitik, die zu unseren verschiedenen Partnern wirklich passt. Deshalb sollte die finanzielle Unterstützung durch die EU flexibler werden, und eine attraktive langfristige Perspektive bieten für diejenigen Partner, die am weitesten fortgeschritten sind. Das habe ich zusammen mit meinen französischen und polnischen Amtskollegen bei unserem Treffen in Weimar Anfang April betont.
Für Tunesien hat die EU jetzt umfangreiche Finanzhilfen bereitgestellt. Dies war nur möglich, weil sich Tunesien seinerseits zu einem vom Internationalen Währungsfonds betreuten Reformprogramm bereiterklärt hat. Dieser Reformwille ist richtig – und er wird dafür sorgen, dass Investoren Vertrauen schöpfen und sich stärker in Tunesien engagieren – und zwar sicherlich inklusive deutscher Investoren, auch wenn wir nicht am Mittelmeer liegen…
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Zum Schluss will ich aufgreifen, was Frau Mohn erwähnt hat: Ich freue mich, dass die Bertelsmann-Stiftung kommendes Jahr in Tunesien eine Diskussion über die EU-Nachbarschaftspolitik führen möchte. Überhaupt will ich an dieser Stelle – und dies gewiss nicht aus reiner Höflichkeit gegenüber unserer Gastgeberin – die wertvolle Arbeit der Bertelsmann-Stiftung würdigen. Sie tragen vieles bei zur Annäherung zwischen Europa und seiner südlichen und südöstlichen Nachbarschaft – herzlichen Dank.
Sehr geehrter Herr Premierminister,
wenn also im kommenden Jahr eine Bertelsmann-Veranstaltung in Tunesien stattfindet, dann haben dort bereits Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattgefunden und es gibt eine tragfähige Regierung, die in den nächsten Jahren mutige und zukunftsgewandte Entscheidungen zum Wohle des tunesischen Volkes treffen kann. Dies jedenfalls wünschen wir Ihrem Land sehr. Und ich versichere Ihnen, dass Deutschland sich weiterhin dafür einsetzen wird, dass Tunesien diesen Weg tatsächlich gehen kann.