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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Veranstaltung „Kaiserreiche in ihrem letzten Kampf. Imperiale Spätzeit als Sicherheitsrisiko.“ im Deutschen Historischen Museum
--- es gilt das gesprochene Wort ---
Lieber Herr Koch,
lieber Adam Krzeminski,
lieber Igor Narskij,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zur Stunde wird in Brasilien um den Gruppensieg gerungen. Und trotzdem sind Sie hier. Respekt!
Als wir diese Veranstaltung geplant haben, hat man uns gewarnt. Während der WM kommt doch niemand, schon gar nicht am zweiten Spieltag, wenn das Fußballfieber gerade losgeht. Gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Museum haben wir aber gesagt: Doch, so lange es noch nicht das Finale mit der deutschen Mannschaft ist, kommen die Leute.
Diese Zuversicht kommt nicht von ungefähr: Bei unseren Veranstaltungen zum Gedenkjahr 2014 hier im Deutschen Historischen Museum habe ich jetzt schon oft erlebt, wie sehr die Frage nach „Versagen und Nutzen der Diplomatie“ die Menschen umtreibt. Haben wir hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs die richtigen Schlüsse gezogen? Ist eine europäische Katastrophe wie die von 1914 wirklich nicht mehr vorstellbar? Diese Fragen diskutieren wir heute zum vierten Mal hier im Schlüterhof.
Heute sprechen wir über den Osten Europas. Eine Region, in der es gerade in diesen Zeiten ganz besonders darauf ankommt, mit Vernunft und mit Augenmaß zu sprechen und zu handeln.
Seien wir ehrlich: Hier in Deutschland haben wir oft nur ein unscharfes Bild von der Erinnerungskultur, die Polen und Russen zum Ersten Weltkrieg ausgebildet haben. Wer ist sich hierzulande bewusst, dass die Polen gezwungen waren, in den Armeen dreier Kaiser gegeneinander zu kämpfen? Wer kann nachfühlen, wie tiefgreifend Krieg und Revolution die russische Gesellschaft geprägt haben?
Und wer in Deutschland kann einschätzen, welche weitreichenden Folgen die ukrainische Staatsbildung auf der Spitze deutscher Bajonette 1918 und die Niederlage dieses ersten ukrainischen Staates der Moderne gegen die Rote Armee wenig später hatten?
Unsere Gäste an diesem Abend sind bereit, Antworten auf diese schwierigen Fragen zu versuchen. Dafür bedanke ich mich sehr herzlich bei Adam Krzeminski und Igor Narskij, die uns heute Perspektiven aus Polen und Russland geben werden, auf die imperialen Machtkämpfe zu Beginn des Ersten Weltkriegs und vielleicht auch darüber hinaus.
Ich kann mich nicht immer an alles erinnern, was ich nach Hoffnung der Lehrer in der Schule vielleicht hätte lernen sollen. Ganz deutlich erinnere ich mich aber an die Kapiteleinteilung in meinem Geschichtsbuch. Da gab es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Zeitalter des Imperialismus. Das nächste Kapitel handelte dann den Ersten Weltkrieg ab. Heute weiß ich, wie problematisch plakative Überschriften gerade in der Geschichtsschreibung sein können. Trotzdem: In diesem Fall lag mein Schulbuch gar nicht so falsch.
Die Überzeugung bei den politischen Eliten fast überall in Europa saß um 1900 ja tief: „Wir müssen nationale Machtbereiche abstecken, um als Nation eine Zukunft zu haben.“ So oder ähnlich lauteten die Axiome in den Kabinetten der großen europäischen Hauptstädte.
Dieser Logik folgte der vor allem von Großbritannien, Frankreich und Deutschland ausgetragene Wettlauf um die Kolonien, den Platz an der Sonne. Im Deutschen Reich phantasierten einige von einem großen mitteleuropäischen Einflussraum bis in den Orient – und finanzierten die Bagdad-Bahn. Die österreichisch-ungarische Monarchie befürchtete, international ins Hintertreffen zu geraten und war umso mehr entschlossen, „ihren“ Einfluss auf dem Balkan mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Im innenpolitisch spätestens seit 1905 unruhigen Russland träumten einflussreiche Kreise vom politischen Zusammenschluss aller Slawen.
Früher oder später mussten diese verschiedenen imperialen Ambitionen in Gegensatz geraten. Ein Grundmotiv, das 1914 in die Katastrophe führte, war an den maßgeblichen Schaltstellen des Kontinents dasselbe: Fast alle, die in Außenpolitik, Diplomatie und Militär vor hundert Jahren etwas zu sagen hatten, dachten in der Kategorie von Einflusssphären.
Dass dieses Denken eigentlich schon damals nicht mehr auf der Höhe der Zeit war, zeigen die Wirtschaftsdaten. Fachleute rechnen uns vor: In den Jahren vor 1914 war die Weltwirtschaft zu einem Grad vernetzt, den sie erst in den 80er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder erreicht hat. Dabei war Deutschlands Handel mit seinen vermeintlich so wichtigen Kolonien verschwindend gering. Sein enormes Wirtschaftswachstum verdankte das Reich vor allem den guten Geschäften mit den europäischen Nachbarn, allen voran mit dem Handelspartner Nummer Eins, Großbritannien.
Auch die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Europas folgte in den Vorkriegsjahren immer stärker einer Logik, die mit nationalen Einflusssphären wenig zu schaffen hatte.
Ein Schlaglicht zeigt, was auf diesem Kontinent damals, weit vor dem Erasmus-Programm, schon möglich war: Kurz vor der Jahrhundertwende machte sich eine junge Polin namens Marie Salomea Sklodowska auf eigene Faust aus dem damaligen Weichselland nach Paris auf. Sie nahm ein Studium an der Sorbonne auf, heiratete einen französischen Forscher und schlug selbst eine wissenschaftliche Laufbahn ein. Als Marie Curie hat sie wenig später Physik und Chemie revolutioniert. 1903 und 1911 ist sie für diese bahnbrechende Arbeit mit zwei Nobelpreisen geehrt worden. Natürlich war Marie Curie eine Ausnahme, aber ihre Geschichte steht doch für die Herausbildung eines europäischen Lebensgefühls.
Auf diesem Kontinent fühlten sich Schriftsteller wie Stefan Zweig oder Romain Rolland längst nicht mehr nur als Bürger ihrer Heimatländer, sondern als Europäer. Mit dem Nationalismus der politischen Apparate hatte das wenig zu tun.
Diese Umbrüche und Aufbrüche in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur haben die diplomatischen Eliten der Zeit nicht nachvollzogen. Sie verharrten in einem Denken, das um nationale Machtperspektiven kreiste. Es passte schon damals nicht mehr recht in die Zeit; und doch wurde es zur außenpolitischen Signatur des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das ist in der Rückschau besonders bedrückend: Nicht einmal die Schrecken des Ersten Weltkrieges haben ausgereicht, um Europas Diplomatie ein für allemal vom Irrglauben an die Beherrschbarkeit von Kräftegleichgewichten durch die Schaffung von Einflussspähren zu heilen.
Im Gegenteil, das Gefühl wechselseitig erlittenen Unrechts spülte in der Zwischenkriegszeit Wasser auf die Mühlen der Ideologen. So verschieden sie waren – in einem Punkt stimmten sie in gespenstischer Weise überein. Sie waren besessen von der fixen Idee, Machtbereiche zu behaupten und auszudehnen – mit verheerenden Folgen für Millionen Menschen auf unserem Kontinent.
Dafür stehen in einzigartiger Weise die Menschheitsverbrechen nationalsozialistischer „Lebensraumpolitik“.
Auch die Sowjetunion blieb dem Denken in Einflusssphären bis zu ihrem Zusammenbruch verhaftet. Erst als der Kalte Krieg beendet war und die zynische Logik eines Gleichgewichts des Schreckens in sich zusammenbrach, hat auf unserem Kontinent der Alptraum des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ aufgehört, der mit dem Ersten Weltkrieg einen ersten schrecklichen Höhepunkt erreicht hat.
Heute, hundert Jahre später, wäre ein Rückfall in diesen Alptraum eine doppelte Tragödie. Zum einen hat ein außenpolitisches Denken in Einflusssphären und Machtblöcken unserem Kontinent im zwanzigsten Jahrhundert unermessliches Unheil zugefügt. Zum anderen kann dieses Denken unserer fragilen Weltordnung mit ihrer immer engeren kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vernetzung weniger gerecht werden denn je.
Umso wichtiger ist es, dass wir gerade in politisch schwierigen Zeiten das Gespräch zwischen unseren Zivilgesellschaften nicht abreißen lassen, sondern vertiefen. Auch deshalb ist das Historikergespräch an diesem Abend so wichtig. Deshalb ist es übrigens auch wichtig, dass wir vor einer Woche, am Geburtstag Puschkins, auch angesichts der Krise in der Ukraine, ein deutsch-russisches Sprachenjahr eröffnet haben.
Heute Abend geht es um mehr als eine spannende Diskussion über unsere gemeinsame, zuweilen schreckliche Vergangenheit. Es geht darum, als Deutsche, Polen und Russen besser zu verstehen, was den anderen bewegt. Daran haben Radek Sikorski, Sergei Lawrow und ich bei unserem Treffen in Sankt Petersburg Anfang dieser Woche gearbeitet. Das alles ist wichtig, um eine neue Spaltung Europas zu verhindern.
Umso herzlicher danke ich Adam Krzeminski und Igor Narskij für ihre Mitwirkung. Ich danke Almut Möller für ihre Bereitschaft, die Moderation zu übernehmen.
Ich bin sicher: Sie werden nicht bedauern, auf ein Spiel der Fußball-WM verzichtet zu haben. Seien Sie herzlich willkommen!