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Gemeinsam als Partner für ein soziales Europa. Kommentar von Staatsminister Roth zur Rede des Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik, Bohuslav Sobotka, in der Friedrich-Ebert-Stiftung

13.03.2014 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrte Herren Minister,
lieber Kollege Tomáš Prouza,
sehr geehrte Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollege aus der SPD-Fraktion,
sehr geehrte Gäste der Friedrich-Ebert-Stiftung,

wir können in diesen Tagen nicht über Europa sprechen, ohne auf die dramatischen Entwicklungen in der Ukraine einzugehen. Wer von uns hätte es noch vor einigen Wochen für möglich gehalten, dass mitten in Europa ein Konflikt von diesem Ausmaß losbrechen kann. 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und 75 Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen schien diese Gefahr doch eigentlich lange gebannt. Eine neue Spaltung Europas droht. Umso wichtiger ist es, dass die Mitgliedstaaten der EU jetzt in dieser Frage geschlossen und in enger Abstimmung vorgehen – das gilt sowohl für unser Auftreten gegenüber Russland als auch für die Begleitung der Ukraine auf ihrem weiteren Weg der demokratischen Stabilisierung. Wir verfolgen gemeinsam eine Linie, die nicht auf Aggression und Zuspitzung, sondern auf diplomatische Lösungen setzt.

Dieser Politik der gemeinsamen Stimme bleiben wir auch weiterhin verpflichtet. Und bei allem, was wir tun oder auch lassen, gilt es zu bedenken:

Erreichen wir, was wir wollen? Wer bezahlt welchen Preis? Und sind wir zu Solidarität gegenüber denjenigen bereit, die Lasten zu tragen und mit Einschränkungen zu leben haben?

Doch es ist nicht nur die europäische Diplomatie, die in Zeiten der Krise gefordert ist. Auch im Innern der EU haben wir unsere Hausaufgaben zu erledigen, insbesondere mit Blick auf die angespannte soziale Lage in vielen Mitgliedstaaten. Deswegen freue ich mich umso mehr, heute mit Ihnen, Herr Ministerpräsident Sobotka, ins Gespräch zu kommen: Wie kommen wir gemeinsam voran auf dem Weg zu einem besseren, zu einem sozialeren Europa?

Ich darf Ihnen, Herr Ministerpräsident, zunächst ganz besonders dafür danken, dass Sie mit der Neuausrichtung der tschechischen Europapolitik nach dem Regierungswechsel im Januar 2014 ein wichtiges Zeichen der Einigkeit zwischen den EU-Staaten gesetzt haben.

Durch ihre Entscheidung für einen Beitritt der Tschechischen Republik zum Fiskalpakt und den Verzicht auf die Ausnahmeregelung bei der Anwendung der EU-Grundrechtecharta (sog. „Tschechisches Protokoll“) haben Sie sich zu einem Fürsprecher des vereinten Europas gemacht – und das trotz der in Ihrem Land weit verbreiteten Europaskepsis. Doch ein Land wie Ihres, das geographisch im Herzen Europas liegt, gehört auch wieder politisch in die Mitte der Europäischen Union. Welcome back!

Die Bundesregierung, vor allem das Auswärtige Amt, unterstützt Sie bei Ihrem Engagement für ein besseres Europa. Denn wir wissen alle: Wenn wir in Europa wirklich Großes vollbringen wollen, dann schaffen wir das nur gemeinsam. Die EU darf niemals nur eine Angelegenheit der großen Mitgliedstaaten sein. In Europa kommt es weniger auf die Größe eines Landes an. Was zählt, sind vielmehr die Kreativität und die Ideen, mit denen sich ein Land in die europäischen Diskussionen einbringt. Und ich freue mich jetzt schon auf die vielen neuen europapolitischen Impulse aus Prag in den kommenden Monaten. Denn überzeugte und verantwortungsbewusste Europäer kann es gerade in Zeiten der Krise nicht genug geben.

Die enge Partnerschaft zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik ist auch deshalb so wichtig, weil sie Brücken bauen kann – Brücken zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten, zwischen Gründungsmitgliedern und später beigetretenen Mitgliedstaaten, zwischen Mitgliedern der Eurozone und Nicht-Euro-Staaten. In einer immer größer und vielfältiger werdenden EU sind solche Brücken im Geiste der guten Nachbarschaft und des vertrauensvollen Miteinanders unverzichtbar, um Gegensätze zu überwinden und zu gemeinsamen europäischen Positionen zu kommen.

In welchen Bereichen können Deutschland und die Tschechische Republik ganz konkret zusammenarbeiten und ihren gemeinsamen Beitrag zu einem besseren Europa leisten?

Mir kommen bei dieser Frage zwei Antworten in den Sinn, bei denen unsere Länder zeigen können, dass wir tatsächlich – wie der Titel der heutigen Veranstaltung der FES verspricht – „Partner für ein soziales Europa“ sind:

Erstens: Im Schatten der Krise sind die sozialen Probleme in vielen EU-Staaten aus dem Blick geraten. Wir müssen in der EU endlich wieder die drängenden Probleme der Menschen in den Vordergrund rücken. Hier können wir viel von den Erfahrungen der Tschechinnen und Tschechen mit dem Transformations- und Reformprozess vor und nach dem EU-Beitritt lernen.

Zweitens: Wir arbeiten gemeinsam daran, dass wir endlich vorankommen auf dem Weg zu einer echten europäischen Sozialunion. Dabei geht es mitnichten um eine europaweite Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme, sondern um mehr verbindliche Koordinierung im Bereich der Sozialpolitik. Auch hier können Deutschland und die Tschechische Republik wichtige Impulse setzen.

I. Den sozialen Zusammenhalt in der EU wieder stärker in den Blick nehmen

Wir müssen uns gemeinsam darauf besinnen, das einzigartige europäische Gesellschaftsmodell zu bewahren und zu stärken. Was im 20. Jahrhundert mit der sozialen Marktwirtschaft im nationalen Rahmen gelungen ist, muss nun im 21. Jahrhundert auf europäischer Ebene aufs Neue erkämpft werden:

Eine gerechte, demokratische und soziale Ordnung der Märkte, die dem Wohlstand Aller und nicht nur dem Reichtum einiger weniger verpflichtet ist.

Aus diesem Grundverständnis heraus müssen wir gemeinsam die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass der so hoffnungsvoll begonnene wirtschaftliche und soziale Aufholprozess vieler Mitgliedstaaten erfolgreich fortgesetzt werden kann. Wir brauchen in der EU keine vereinzelten Wohlstandsinseln.

Unser Ziel muss vielmehr sein, mittelfristig überall in Europa wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger zu garantieren. Dazu gehört auch, dass junge Menschen in ihrer Heimat eine Zukunftsperspektive haben und für sie Auswanderung nicht die – gezwungenermaßen – einzige Option ist.

Die Tschechische Republik hat seit dem Fall des Eisernen Vorhangs eine beeindruckende Transformationsleistung erbracht. Die Anstrengungen von Politik und Wirtschaft, vor allem aber auch der Bürgerinnen und Bürger auf dem Weg in die EU waren enorm – dies kann man gar nicht oft genug betonen.

Ihr Land, Herr Ministerpräsident Sobotka, verfügt daher über wichtige Erfahrungen bei der Umsetzung schmerzhafter Reformen und den damit verbundenen sozialen Problemen. Heute, fast zehn Jahre nach dem EU-Beitritt im Mai 2004, können wir aber durchaus selbstbewusst sagen:

Es war ein schwerer und steiniger Weg. Doch er hat sich ausgezahlt für die Mehrheit der Tschechinnen und Tschechen.

Von diesen Erfahrungen können wir heute in ganz Europa lernen. Das gilt insbesondere für die vielen Menschen in den krisengeschüttelten Staaten Europas, die sich heute als die großen Verlierer des Reform- und Konsolidierungsprozesses fühlen. Sie müssen ganz reale Einschnitte in ihrem täglichen Leben, einen Verzicht auf ihren bislang gewohnten Lebensstandard hinnehmen. Während man die Einschnitte sofort spürt, entfalten sich die positiven Effekte oft erst viel später. Strukturreformen brauchen eben Zeit, bis sie wirken. Es sind gerade diese Erfahrungen mit der Ungleichzeitigkeit von schmerzvollen Einschnitten und dem späteren Einfahren der „Ernte“ der Reformpolitik, die die Menschen aus mittel- und osteuropäischen EU-Staaten an die Bürgerinnen und Bürger in den heutigen Krisenstaaten weitergeben können.

II. Den Ausbau zu einer echten Sozialunion voranbringen, die nicht auf eine Vereinheitlichung der Sozialsysteme angelegt ist.

Deutschland und die Tschechische Republik hat schon immer das gemeinsame Interesse an einer Fortentwicklung des Binnenmarktes verbunden – gerade auch als gemeinsames Band zwischen Euro- und Nicht-Euro-Staaten. Europa ist aber weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsgemeinschaft. Wir müssen jetzt gemeinsam daran arbeiten, dass wir den Binnenmarkt zu einer echten Sozialunion weiterentwickeln.

Mir ist bewusst, dass die letzte tschechische Regierung einen anderen Kurs verfolgt hat. Mir ist auch bewusst, dass sich viele Menschen in der Tschechischen Republik (noch) nicht auf das europäische Hoffnungsversprechen eingelassen haben, weil ihnen die EU immer noch fremd geblieben ist. Aber gerade deshalb erlauben Sie mir, dass ich als Sozialdemokrat heute die Frage stelle:

Wer, wenn nicht wir – Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung – kann sich erfolgreich für mehr soziale Gerechtigkeit in der gesamten EU einsetzen?

Das „soziale Europa“ war lange Zeit nicht viel mehr als ein Thema für Sonntagsreden. Das müssen wir gemeinsam ändern. Schöne Worte reichen bei weitem nicht aus. Ohne eine echte soziale Balance in der EU werden die Menschen die notwendige Reform- und Konsolidierungspolitik auf Dauer nicht unterstützen. Wir brauchen einen umfassenden Politikansatz, der der angespannten sozialen Lage in vielen Teilen unseres Kontinents Rechnung trägt. Lassen Sie uns in Europa endlich das soziale Fundament stabilisieren und spürbare Impulse für Wachstum und Beschäftigung geben!

Die notwendige Reform der Wirtschafts- und Währungsunion und die anstehende Halbzeitbilanz der Europa-2020-Strategie im Jahr 2015 bieten einen geeigneten Rahmen, um jetzt die Weichen zu stellen für ein Europa, das sich stärker dem Ziel des sozialen Zusammenhalts verpflichtet sieht.

Wir müssen zu einer verstärkten Koordinierung auch in den Bereichen kommen, die über die Finanz- und Wirtschaftspolitik im engeren Sinne hinausgehen. Die wirtschaftspolitische Koordinierung im Europäischen Semester erfasst bisher nicht die notwendigen sozialpolitischen Bereiche und ist darüber hinaus auch nicht hinreichend verbindlich.

Die Europa-2020-Strategie ist aber auch aus einem anderen Grund ein geeignetes Instrument: Sie hat die gesamte EU im Blick hat und nicht nur die Mitgliedstaaten der Eurozone. Der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit ist schließlich nicht nur auf eine Gruppe von EU-Staaten beschränkt.

Um mit einer Mär aufzuräumen: Wir brauchen und wollen keine europaweite Vereinheitlichung der nationalen Sozialsysteme. Aber wir brauchen sehr wohl die Perspektive verbindlicher Leitlinien, entsprechend der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten.

Ich denke dabei an Zielkorridore und Mindeststandards in der Arbeitsmarktpolitik, der Alterssicherung, der Gesundheitsversorgung, bei Mindestlöhnen und Renten sowie konkrete Abbaupläne für die Jugendarbeitslosigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten.

Ich bin sicher, dass diese Diskussion spätestens Ende des Jahres mit Amtsantritt der neuen EU-Kommission rasch an neuer Dynamik gewinnen wird.

Lassen Sie uns verloren gegangenes Vertrauen in die EU zurückgewinnen, und zwar in allen Mitgliedstaaten, gleich ob innerhalb oder außerhalb der Währungsunion. Dieses Vertrauen kann nur wachsen, wenn die Menschen sich in ihren wirtschaftlichen und sozialen Sorgen nicht allein gelassen fühlen. Die EU muss von den EU-Bürgerinnen und Bürgern wieder als Teil der Lösung ihrer realen Probleme angesehen werden und nicht als Teil des Problems.

Die Europawahl im Mai 2014 ist angesichts zunehmender Europaskepsis in weiten Teilen unseres Kontinents die wichtigste Wahl seit langem. Sie wird die politischen Weichen stellen, ob Europa weiter zusammenhält oder auseinanderdriftet. Es geht darum, ob Europa zurückfällt in alte Muster nationaler Ressentiments oder ob wir gemeinsam aus der Krise heraus eine hoffnungsvolle Perspektive für alle Europäerinnen und Europäer entwickeln.

Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Europa ist klar: Wir brauchen ein anderes, ein besseres Europa. Ein Europa, in dem es Arbeitsplätze für alle gibt, die Finanzmärkte strenger reguliert werden, Bürgerinnen und Bürger mehr Mitsprache haben und Steuerbetrug hart geahndet wird.

Ich wünsche mir, dass Deutschland und die Tschechische Republik gemeinsam an dieser Zukunft Europas arbeiten. Denn für ein Europa der Solidarität und des sozialen Zusammenhalts lohnt es sich zu kämpfen.

Denn wie sagte schon der große Europäer Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Vielen Dank.

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