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Rede von Außenminister Guido Westerwelle „Ostpolitik im Zeitalter der Globalisierung“ vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrter Egon Bahr,
lieber Martin Zeil,
lieber Herr Beckstein,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Ostpolitik“ ist einer dieser Begriffe, die ihren Weg in viele andere Sprachen gefunden haben. Mit dem Wort „Ostpolitik“ verbinden Menschen bis heute weit über Deutschland und Europa hinaus einen spezifisch deutschen Beitrag zur europäischen Geschichte. Es ist daher nur angemessen, an diesem Ort an die intellektuelle und politische Leistung zu erinnern, die die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition und mit langem Atem auch die deutsche Wiedervereinigung möglich gemacht hat.
Sie haben mich heute eingeladen, um darüber zu sprechen, was wir aus den Erfahrungen jener Zeit für die Welt von heute lernen können. Erlauben sie mir aber zu Beginn doch einige Sätze zur Rede Egon Bahrs, die mir wichtig scheinen. Der Kalte Krieg war nahe am Gefrierpunkt. Der Bau der Berliner Mauer lag keine zwei Jahre zurück, die Kubakrise nur wenige Monate. Der Kern der Rede, die Idee vom „Wandel durch Annäherung“, war ebenso pragmatisch wie visionär.
Sie war pragmatisch, weil sie den Mut hatte, die Umstände realistisch, illusionslos und frei von Vorurteilen zu betrachten. Sie war visionär, weil sie erkannte, dass das Ziel nicht die Eliminierung der kommunistischen Herrschaft sein durfte, sondern dessen Transformation. Visionär, weil sie erkannte, dass eine Außenpolitik, die nur die Kategorien Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind kennt, eher vom Ziel weg als zu ihm hinführt. Visionär, weil sie erkannte, dass die quer durch Europa verlaufende Mauer durch den Ausbau menschlicher, kultureller und wirtschaftlicher Kontakte zumindest porös werden konnte.
Über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg begann damals ein europäischer Dialog. Der Grundstein wurde gelegt für die Aussöhnung und den schrittweisen Ausbau der Zusammenarbeit mit Russland und den Staaten Mittel- und Osteuropas.
Zwanzig Jahre nach dem berühmten „Brief zur deutschen Einheit“, der die Unterschrift Walter Scheels trägt, wurde die deutsche Einheit Wirklichkeit. Die Anerkennung des Status Quo führte zur Überwindung der europäischen Trennlinien. Das klingt nur scheinbar paradox. Es lohnt sich, diesen Kerngedanken für unsere heutigen politischen Herausforderungen festzuhalten.
Auch in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas setzte sich die Demokratie durch. Die deutsche Einheit war Teil einer europäischen Wiedervereinigung. Unzählige mutige Bürger haben die Mauer von Osten her eingedrückt, den Eisernen Vorhang zerrissen.
Das gemeinsame europäische Haus ist noch nicht vollendet. Russland, die Ukraine und andere osteuropäische Staaten müssen den ihnen zukommenden Platz finden. Es ist Deutschlands eigenes Interesse und erklärtes Ziel, eine weitere Annäherung der Ukraine, Russlands und anderer osteuropäischer Partner an die Europäische Union zu erreichen. Deshalb haben wir uns intensiv für eine Öffnung der Visabestimmungen eingesetzt, um mehr direkte Kontakte, mehr Studentenaustausch, mehr Besuchsreisen zu ermöglichen. Deshalb liegt die Unterzeichnung des längst ausgehandelten Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine in unserem strategischen Interesse. Seine Anwendung wird die Ukraine Schritt für Schritt näher an uns heranführen. Ich bin nach meinen Gesprächen in Kiew vergangene Woche zuversichtlicher, dass die ukrainische Regierung die notwendigen Voraussetzungen bis zum Gipfel von Vilnius schaffen kann.
Ähnliche Abkommen streben wir auch mit den anderen Ländern der Östlichen Partnerschaft an. Enge wirtschaftliche Vernetzung kann dazu beitragen, die verbleibenden Trennlinien auf unserem Kontinent durchlässiger zu machen und zu überwinden. Handel bewirkt Wandel. Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum von Vancouver bis nach Wladiwostok ist ein Ziel, das wir nicht aus den Augen verlieren sollten, auch wenn es noch ein weiter Weg zur Realisierung ist.
Unsere Kooperation mit Russland ist breit und vielfältig. Der Handelsaustausch erreicht Rekordhöhen, der Kultur- und Wissenschaftsaustausch ist intensiver und dichter als je zuvor. Politisch arbeiten Russland und Deutschland, Russland und die EU in einer strategischen Partnerschaft zusammen. Uns verbinden zahlreiche gemeinsame Interessen, und auf vielen Feldern, von den G-8 über Afghanistan und die Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika bis zu den E3+3-Gesprächen zu Iran, arbeiten wir eng zusammen.
Aber es gibt auch Differenzen, und viele Beobachter sehen das Trennende derzeit schneller wachsen als die Gemeinsamkeiten. Wir sehen mit Sorge den Umgang mit politischer Opposition und Zivilgesellschaft, selektive Strafverfolgung oder die Diskriminierung von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen. Diese Sorgen und Differenzen verschweigen wir nicht. Denn wir haben einen gemeinsamen Referenzrahmen, gemeinsam vereinbarte Maßstäbe für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Menschenwürde. Russland und Deutschland sind beide Mitglied der OSZE, wir sind beide Mitglied des Europarats.
Eine Politik der Konfrontation gegenüber Russland würde keine Früchte tragen. Wir müssen offen, aber respektvoll miteinander sprechen. Was wir brauchen, ist strategische Geduld und politische Kreativität. Gemeinsam mit meinem russischen und polnischen Amtskollegen haben wir zahlreiche Projekte für die Region Kaliningrad auf den Weg gebracht. Heute gibt es dort einen funktionierenden kleinen Grenzverkehr. Das kommt hunderttausenden Menschen unmittelbar zugute. Es zeigt aber auch, dass wir die Schnittmenge unserer gemeinsamen Interessen beharrlich und zum Nutzen aller Seiten erweitern können. Die deutsch-russische Rechtszusammenarbeit und der deutsch-russische Austausch über die Bedeutung von Mittelschicht und Mittelstand sind zwei weitere Projekte, die auf langfristige Modernisierung und Transformation setzen. Wir werben für ein Zusammenwirkens mit Russland beim Aufbau eines NATO-Raketenabwehrsystems und für gemeinsame Schritte, um die nukleare und konventionelle Abrüstung voranzutreiben.
Sicherheit und Frieden in Europa gibt es dauerhaft nur mit Russland, nicht gegen Russland.
Mit dem Fall der Mauer wuchsen nicht nur in Deutschland und Europa Ost und West zusammen. Die Weltwirtschaft öffnete sich. Über eine Milliarde Menschen wurden Teil und Teilhaber globaler Wertschöpfungsketten. Die Digitalisierung hat als technologischer Treiber die Vernetzung unserer Welt in den vergangenen zwanzig Jahren ungeheuer beschleunigt. Deutschland profitiert in besonderer Weise von den Chancen dieser Globalisierung. Der Erfolg unseres Landes gründet auf seiner Offenheit, auf aktiver Vernetzung und dem Austausch von Produkten, Ideen, Daten. Unsere Wirtschaft und Gesellschaft haben die Anpassung an die neue, globalisierte Welt bislang eindrucksvoll gemeistert. Umgekehrt gilt: Deutschland als weltoffenes, tief in Europa integriertes, global verflochtenes Land ist auch den Risiken der Globalisierung besonders ausgesetzt.
Die kluge Gestaltung der Globalisierung gehört deshalb heute zu den Kernaufgaben deutscher und europäischer Außenpolitik. Eine freiheitliche und auf festen Regeln gegründete internationale Ordnung ist elementare Voraussetzung dafür, dass wir Frieden und Wohlstand auch in Zukunft mehren können. Für viele Probleme brauchen wir heute globale Lösungen. So wichtig die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarn sind und auch bleiben, wir leben heute in einer komplexer gewordenen, einer polyzentrischen Welt.
Die meisten der neuen Kraftzentren, die jetzt auf die politische Bühne drängen, liegen im Süden. Wir sehen uns neuen Partnern gegenüber, von denen einige andere Wertvorstellungen pflegen und andere politische Systeme haben als wir. Was können wir aus den Erfahrungen der Ostpolitik lernen für diese neue Welt? Die Bundesregierung hat mit ihrem Gestaltungsmächtekonzept vom vergangenen Jahr entscheidende Weichen gestellt für unsere Politik gegenüber diesen Staaten.
Die enge Vernetzung mit diesen neuen Kraftzentren liegt in unserem ureigenen Interesse. Mehr Handel, mehr Investitionen, mehr Kultur- und Wissenschaftsaustausch, eine weniger einschränkende Visapolitik, ein intensiver strategischer Dialog auf politischer Ebene, Regierungskonsultationen nicht nur mit Frankreich, Polen oder Israel, sondern auch mit Indien und China, all das sind Schritte in die richtige Richtung. Diese bilateralen Partnerschaften sind Bausteine für die „global governance“, die wir für die Probleme unserer Zeit brauchen.
Manch einer leitet aus unserem Drängen auf eine intensivere Zusammenarbeit mit diesen Ländern ab, dass wir deshalb unsere Werte in der Außenpolitik hintenan stellen. Das halte ich für eine völlig falsche Schlussfolgerung. Deutsche Außenpolitik ist wertegebunden und interessengeleitet. Oft genug sind das zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ich will nur zwei Beispiele nennen: Wenn wir im Ausland für deutsche Wirtschaftsinteressen eintreten, dann können verantwortlich investierende deutsche Unternehmen als Mikrokosmos westlicher Werte ein Beispiel setzen. Sie bringen Wohlstandsgewinne und setzen Standards in Schwellenländern. Sie fördern so das Entstehen einer selbstbewussten Mittelschicht, die Rechtstaatlichkeit und politische Teilhabe einfordert. Zweitens: Wenn wir im Rahmen unserer zahlreichen Menschenrechts- und Rechtstaatsdialoge gegenüber einem Land konkrete Verbesserungen anmahnen, dann fördert das zugleich unsere langfristigen wirtschaftlichen und politischen Interessen. Handel und Investitionen florieren dort, wo es ein verlässliches, berechenbares Regelwerk gibt. Frieden ist vor allem zwischen Demokratien gesichert.
Es ist wohl richtig, dass unsere direkten Hebel zur Durchsetzung eines bestimmten Verhaltens eher kürzer werden, wenn andere Staaten selbstbewusster werden und politisch an Gewicht gewinnen. Aber das ist kein Grund, in Selbstzweifel zu verfallen oder gar unseren eigenen Wertekanon in Frage zu stellen. Wir erleben nicht nur eine Globalisierung der Güter- und Finanzmärkte. Wir werden auch Zeuge einer Globalisierung der Erwartungen. In der digitalen Welt sind die Distanzen von Zeit und Raum praktisch verschwunden. Je mehr wir uns vernetzen, desto mehr haben Menschen überall auf der Welt Zugang zu unserer Kultur und können sich ein Bild von unseren Gesellschaften machen. Die Digitalisierung und der Siegeszug des Internets hat eine transformierende Wirkung, die wir erst beginnen, in ihrer vollen Auswirkung zu verstehen. Dazu gehören wichtige Fragen des Datenschutzes und der Privatsphäre, die uns in diesen Tagen intensiv beschäftigen. Dazu gehört aber auch die enorme Ausstrahlung unseres Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells in die ganze Welt.
Ob es Deutschland und Europa gelingt, weltweit erfolgreich für unsere Werte zu werben, hängt immer weniger von der Lautstärke unserer Forderungen, sondern immer mehr von der Stärke unseres eigenen Beispiels ab. Es hat einen Grund, dass autoritäre Regime versuchen, sich abzuschotten von freier Information und kulturellem Einfluss, dass sie versuchen, die Freiheit des Internet zu beschneiden. Dahinter steht die Sorge vor der transformierenden Kraft, vor dem Wandel, der mit dieser Vernetzung, dieser realen und digitalen Annäherung verbunden ist.
So wie die Öffnung nach Osten, damals nur möglich war, weil Deutschland fest im Westen verankert war, so wissen wir auch heute, wo wir hingehören. Das westliche Bündnis ist nicht nur unser Sicherheitsanker. Wir wollen mit dem Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen ein Gravitationszentrum für das 21. Jahrhundert schaffen. Wenn dieses ambitionierte Projekt gelingt, haben wir die Chance, dass Normen und Standards bei uns und von uns gesetzt werden. Das wäre ein wichtiger Baustein zu einer freien und offenen internationalen Ordnung. Dafür müssen wir uns aber dem Wandel selber stellen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in Europa schneller werden müssen, wenn wir besser bleiben wollen als andere. Unsere Wettbewerbsfähigkeit hängt von unserer Anpassungsfähigkeit ab. Das ist für mich der tiefere Kern der Herausforderung, vor der wir in Europa und besonders in der Eurozone stehen. Ich bin aber ebenso fest davon überzeugt, dass unsere Kombination aus Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aus sozialer Marktwirtschaft und der freien Entfaltung eines jeden Einzelnen in der Welt von morgen die attraktivste und leistungsfähigste Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist. Freie Meinungsäußerung und die Fähigkeit und Freiheit zu konstruktiver Kritik sind entscheidend wichtig, um in einer offenen Gesellschaft die besten Lösungen zu finden. Wir haben in diesem Wettbewerb allen Grund, selbstbewusst zu sein. Zweifel kann produktiv sein. Aber er sollte nicht in Selbstzweifel umschlagen, wozu wir gelegentlich in Europa neigen.
Vertrauen wir auf die Stärke unseres eigenen Beispiels. Vertrauen wir auf die Attraktivität unserer Gesellschaften. Unsere „soft power“ – diesen Begriff gab es vor 50 Jahren noch nicht – ist erheblich. Sie zu mehren und auf sie zu setzen ist klüger als viele „regime change“-Konzepte, in denen aus politischer Ungeduld politische Fehler werden.
„Wandel durch Annäherung“ war kein Patentrezept für die Wiedervereinigung. Es war eine Idee, die in vielen kleinen Schritten und in zahllosen schwierigen Abwägungen die Veränderung einer vermeintlich festgefügten Ordnung möglich machte. Darin steckt für uns heute die Aufforderung, kreativ zu sein, die Welt so zu sehen, wie sie ist - als Ausgangspunkt, um sie allmählich zu verändern.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Gedanken hinzufügen, den wir der historischen Erfahrung der Ostpolitik verdanken. Die Transformation, die die Ostpolitiker herbeiführen wollten, hat ja in der Tat stattgefunden. Auch wenn es nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte beharrlicher Arbeit und strategischer Geduld brauchte. Aber der entscheidende Träger und Treiber dieser Transformation war nicht der Staat, das waren nicht die sozialistischen Regime, sondern es war die Zivilgesellschaft. Es waren Bürgergruppen, Vereine und Menschenrechtler, ermutigt durch den Helsinki-Prozess und das Bekenntnis zu universellen Freiheitsrechten in der Schlussakte von Helsinki.
Wohl niemand hat präziser und bewegender als der große Vaclav Havel beschrieben, was diese „Macht der Machtlosen“ tatsächlich in Bewegung gesetzt hat. Staaten und Regierungen sind bis heute zentrale Akteure der internationalen Politik, aber sie sind beileibe nicht die einzigen. Träger von Veränderung, das haben wir auch in der Arabischen Welt und anderswo beobachten können, sind oft nichtstaatliche Akteure, Gruppen selbstbewusster Bürger, die Teilhabe, Würde und Zukunftschancen einfordern. Mit dieser Kraft müssen wir rechnen. Diese Kräfte sollten wir fördern und unterstützen, wo immer sie im Sinne einer freiheitlichen Ordnung wirken.
Die Menschenrechte sind universell und sie sind unveräußerlich. Das bleiben sie auch dann, wenn wir sie nicht überall und nicht sofort durchsetzen können. Sie sind und bleiben Maßstab unseres Handelns, im Innern und in der Außenpolitik.
Unsere Partner weltweit schätzen die Stärken des modernen Deutschland – unsere Kraft als Wirtschafts- und Exportnation, unseren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt, unsere Innovationskraft und Bildungsorientierung, unser Ringen um ein Modell nachhaltigen Wachstums, und nicht zuletzt unseren aus der Aufarbeitung von begangenem Unrecht erwachsenen Einsatz für eine gerechte globale Ordnung. Wir haben uns viel Vertrauen erarbeitet. Das ist auch ein Verdienst der Architekten der Ostpolitik. Auf diesem festen Fundament leisten wir unseren Beitrag zu einem geeinten und wettbewerbsfähigen Europa und zu einer Weltinnenpolitik, in der wir nicht nur ein Volk guter Nachbarn sind, sondern ein „guter internationaler Bürger“.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.