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„Die Fliehkräfte in Europa waren noch nie so groß“
Außenminister Westerwelle warnt im Interview mit der FAZ vor einem Auseinanderdriften Europas. Weitere Themen: Nordkorea, Syrien, Iran, das deutsch-russische Verhältnis und der „NSU“-Prozess.
Außenminister Guido Westerwelle im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen zur aktuellen Situation in Nordkorea und Syrien, zum Atomstreit mit Iran, zum deutsch-russischen Verhältnis, zu Europa und zur Rolle Deutschlands in der EU sowie zur internationalen Aufmerksamkeit für den Münchner „NSU“-Prozess. Erschienen am 10.04.2013.
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Herr Minister, Nordkorea droht offen mit Atomangriffen. Ist das nur Maulheldentum eines unreifen Führers? Wie ernst ist die Lage?
Allein die Kriegsrhetorik ist ein ernster Vorgang und verschärft die Lage auf der koreanischen Halbinsel und in der ganzen Region.
Wie groß ist die Gefahr einer Eskalation?
Auch wenn wir bislang nicht davon ausgehen, dass der Beginn eines tatsächlichen Krieges bevorsteht: Das Vorgehen der Regierung in Pjöngjang ist hoch gefährlich und in keiner Weise akzeptabel. Ich begrüße deshalb, dass nicht nur Partner im Westen, sondern auch andere Länder sich sehr verantwortungsvoll einlassen.
Sie meinen China…
Peking spielt eine konstruktive Rolle. Niemand hat ein Interesse an einer Eskalation. Man sieht, dass auch China über die Situation sehr besorgt ist.
Was ist denn das Kalkül Nordkoreas?
Vermutlich spielt Innenpolitik eine große Rolle. Es fällt auf, dass der neue Machthaber anfangs Öffnungssignale sendete. Möglicherweise hat das zu Gegenreaktionen bestimmter Kräfte geführt, die jetzt besänftigt werden müssen.
Welche Lehren sind aus dem Fall Korea für Iran zu ziehen? Dass eine Politik der Eindämmung nicht anzustreben ist?
Die Lage in beiden Ländern ist sehr unterschiedlich. Was Iran betrifft, so haben die Atomgespräche in Almaty gezeigt, dass die Meinungsunterschiede noch groß sind. Dennoch: In der Sache wurde noch nie so intensiv diskutiert.
Vor einem Jahr noch schien größte Eile geboten, nun scheinen beide Seiten die Wahlen in Iran abzuwarten.
Mein Eindruck ist, dass in der Vergangenheit leider auch auf Zeit gespielt wurde. Ich glaube aber, dass eine diplomatische Lösung unverändert möglich ist. Die Wahlen in Iran sind ein Faktor, aber nicht der alleinige. Es geht darum, zeitlich, aber auch inhaltlich Brücken zu bauen, um eine diplomatische Lösung zu ermöglichen.
Sind wir denn heute einer Lösung näher als zu Beginn Ihrer Amtszeit?
Das wird die Zeit zeigen.
Das klingt nicht sehr optimistisch.
Es ist zurückhaltend. Die Frage ist eine dreifache: Gibt es in Teheran einen Sinneswandel? Gibt es ihn auch in maßgeblichen Teilen des Regimes? Und schließlich: Wann ist für das Regime dann der richtige Zeitpunkt, daraus Konsequenzen zu ziehen? Spätestens nach den Wahlen werden wir Antworten bekommen. Ich rate auch im Westen allen, die Gespräche nicht durch Kriegsszenarien unmöglich zu machen.
Den Satz „Alle Optionen liegen auf dem Tisch“ schätzen Sie nicht?
Es kommt darauf an, wer es sagt. Wenn es diejenigen sagen, die es immer sagen …
… Amerika …
… hat es einen anderen Klang, als wenn es diejenigen sagen, die damit ansonsten zurückhaltender sind.
Sie meinen Israel. Iran spielt auch im Syrien-Konflikt eine bedeutende Rolle. Sie haben, auch in der Debatte über Waffenlieferungen, davor gewarnt, dass Syrien Schauplatz eines Stellvertreterkrieges wird. Dabei ist das längst der Fall: Teheran, Ankara, die Golfstaaten - alle sind längst in Syrien aktiv. Washington, aber auch London und Paris stellen deshalb das Waffenembargo in Frage. Waffen werden ohnehin geliefert, muss man jetzt nicht dazu beitragen, dass die richtigen Gruppen sie bekommen?
Wir müssen die gemäßigten Kräfte der Opposition unterstützen. Wir tun das auf vielfältige Weise. Was Waffen anbelangt: Wie kann man sicherstellen, dass diese in die richtigen Hände gelangen? Die Geschichte lehrt, dass sich am Ende diese Waffen gegen uns selbst, gegen die Demokraten, richten können. Deshalb bin ich zurückhaltend.
Das Ergebnis dieser Haltung ist, dass Al Qaida beziehungsweise die Al Nusra-Gruppe in Syrien an Boden gewinnt. Wird das Embargo nicht ohnehin Ende Mai auslaufen, da die EU sich nicht auf eine Verlängerung einigen wird?
Das beraten wir gerade. Das Sanktionspaket wurde absichtsvoll auf drei Monate begrenzt. Nicht-tödliche Ausrüstung darf übrigens schon jetzt geliefert werden. Ich halte es für erwägenswert, dass wir selbst defensive Güter zur Verfügung stellen, etwa Schutzwesten. Aber können die Befürworter von Waffenlieferungen die Frage beantworten, wie sicherzustellen ist, dass diese in die richtigen Hände gelangen und dort auch bleiben?
Fachleute sagen, je länger der Konflikt dauert, desto tiefer die Gräben, desto schwieriger die Zeit nach dem Regimewechsel. Daher sei das Risiko der Waffenlieferung in Kauf zu nehmen, das Risiko eines noch längeren Zuwartens sei größer.
Dieses Argument muss weiterhin berücksichtigt werden. Dass aber in Syrien weniger Menschen sterben, wenn mehr Waffen geliefert werden, halte ich alles andere als für ausgemacht. Wir haben zwei Ziele: Einerseits wollen wir gemäßigten Kräften der Opposition helfen. Andererseits wollen wir einen Flächenbrand verhindern, der große Auswirkungen auf Irak, Jordanien, den Libanon, die Türkei und auch Israel haben könnte. Ich fürchte, dass im Denken mancher Islamisten Damaskus nur ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Jerusalem ist.
Wie enttäuscht sind Sie über die Haltung Russlands im syrischen Bürgerkrieg?
Natürlich bin ich von der Haltung Russlands enttäuscht. Selbst mit Blick auf die nationale Interessenlage Russlands ist diese Haltung nicht überzeugend.
Was sagen Sie über den strategischen Partner Russland, der deutsche politische Stiftungen bei sich zuhause gängelt?
Die jüngsten Vorkommnisse und der Umgang mit der Zivilgesellschaft in Russland sind bedrückend. Deshalb ist es wichtig, dass unsere Politik auf zwei Säulen steht: klare Botschaften, aber auch partnerschaftliche Angebote. Wandel ist nur über weitere Annäherung und Hinwendung möglich. Der Gesprächsfaden darf nicht abreißen, es könnte Jahre dauern, ihn wieder zu knüpfen.
Auch im Russland eines Wladimir Putin?
Der Umgang mit der Zivilgesellschaft und besonders mit Minderheiten im heutigen Russland berührt mich nicht nur als Außenminister, sondern auch persönlich. Und dennoch halte ich es für richtig, auf das Prinzip Wandel durch weitere Annäherung zu setzen.
Syrien ist nur das jüngste Beispiel für Uneinigkeit innerhalb der EU. Einmal abgesehen vom Streitfall Libyen, ist Frankreich auch in Mali zunächst allein vorgeprescht. Wie steht es eigentlich um die gemeinsame europäische Außenpolitik im Vergleich zu dem, was sie vor dreieinhalb Jahren vorgefunden haben?
Die europäische Außenpolitik ist besser geworden, wenn auch noch nicht gut genug. Schauen Sie auf die Atomgespräche mit Iran, in denen Europa eine führende Rolle spielt, oder die Serbien-Kosovo-Gespräche unter Vermittlung von Lady Ashton. Der Europäische Auswärtige Dienst ist erst zwei Jahre alt. Haben Sie erwartet, dass die nationalen Außenministerien überflüssig würden? Das ist weder gewollt noch wäre es sinnvoll. Es gibt auch unterschiedliche historische Herangehensweisen: Deutschland hatte anders als Frankreich nicht Tausende eigener Bürger in Mali. Umgekehrt vertritt Deutschland auch aufgrund seiner Geschichte eine Kultur der militärischen Zurückhaltung. Das ist nicht nur Teil meiner politischen Gene, sondern auch gelebter Ausdruck der deutschen Verfassung.
Bleiben wir in Europa: Was beunruhigt Sie mehr: Die wirtschaftliche Lage in Frankreich, die politische Lähmung in Italien, die Folgen des Verfassungsgerichtsurteils in Portugal oder die Krisen in Griechenland und Zypern?
Das Jahr 2013 wird die eigentliche Bewährungsprobe für Europa sein. Meine große Sorge ist, dass augenscheinlich einige versuchen, uns in den alten Trott des Schuldenmachens zurückzuführen. [...] So mancher in Europa lauert schon auf ein Ende der Konsolidierungspolitik. Das wäre aber genau der falsche Weg.
Was kann man tun, um das Auseinanderdriften zwischen Nord- und Südeuropa zu verhindern?
Ich kann mich nicht erinnern, dass die Fliehkräfte in Europa schon einmal so groß gewesen wären. Ich appelliere an alle, eigene Fehler oder Versäumnisse nicht mit Schuldzuweisungen in Richtung Brüssel oder Berlin vergessen machen zu wollen. Umgekehrt warne ich davor, in Deutschland den Euro zur Abwicklung frei zu geben. Wer den Euro aufgeben möchte, würde viel mehr als nur eine Währung verlieren!
In Europa erwarten viele eine deutsche Führungsrolle. Gleichzeitig sieht Berlin sich alten Ressentiments ausgesetzt. Wie kann die Bundesregierung dem Dilemma entkommen?
Die Bilder einzelner Demonstranten mit anti-deutschem Zungenschlag sind nicht identisch mit der wirklichen Stimmung in europäischen Ländern. Es gibt auch viel Respekt für das erfolgreiche deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft. Viele Europäer wollen gerade jetzt Deutsch lernen, die Goethe-Institute sind so gefragt wie nie. Anti-deutsche Töne dürfen nicht mit gleicher billiger Münze zurückzahlt werden. [...] Es ist mir sehr wichtig, dass Deutschland nicht Dominanz ausübt, sondern durch Überzeugungskraft und eigenes gutes Beispiel führt. Denn wir leben nicht nur in Zeiten einer großen Bewährung, sondern auch in einer Prägephase für das Deutschlandbild in Europa und in der Welt. Problematisch ist hier übrigens auch, wenn eine mutmaßliche terroristische Vereinigung über Jahre in Deutschland morden kann und es dann beim Prozess ausreichen soll, dass nationale Medien, nicht aber Vertreter der internationalen Öffentlichkeit ausreichend Zugang zur Verhandlung haben.
Wenn Sie einmal in die nähere Zukunft blicken, in die nächsten zwei drei Jahre, wieviel Mitglieder wird die Eurozone dann haben? Weniger oder mehr als heute?
Wenn wir das Jahr 2013 meistern, wird auch das Interesse an der Euro-Zone wieder zunehmen. Es werden eher mehr und nicht weniger Mitglieder sein.
Fragen: Klaus-Dieter Frankenberger und Majid Sattar. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen. Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.