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Außenminister Westerwelle im Interview mit der italienischen Zeitung „La Stampa“

04.07.2012 - Interview

Ist Deutschland Verlierer des europäischen Gipfels am vergangenen Donnerstag und Freitag?

Ganz Europa ist der Gewinner, wenn wir die Schuldenkrise dauerhaft und nachhaltig hinter uns lassen. Dieses Ziel lässt sich aber nicht über Nacht erreichen. Wir machen Fortschritte, die uns mit langen Atem zum Ziel bringen werden. Solidität beim Haushalten, Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität mit unseren Partnern, das ist unsere Strategie. Der nun beschlossene Pakt für Wachstum und Beschäftigung mobilisiert europäische Gelder für zukunftsträchtige Investitionen. Besonders der Jugendarbeitslosigkeit sagen wir entschlossen den Kampf an. Wachstum kauft man nicht durch neue Schulden, sondern erarbeitet man sich durch Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit.


Glauben Sie, dass dieser Gipfel eine Verschiebung der Machtbalance in Europa markiert, mit einer Öffnung des deutsch-französischen Motors hin zu einem System, in dem Italien oder auch Spanien eine stärkere Rolle spielen?

Italien ist von Beginn an dabei gewesen. Schließlich ist Italien Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften. Nur zusammen wird uns Europäern der Weg aus der Schuldenkrise gelingen. Nur gemeinsam können wir den Weg der europäischen Integration fortsetzen. Die enge Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich ist immer eine Kraftquelle der europäischen Integration gewesen. Sie bleibt es auch in Zukunft. Das schließt aber niemanden aus. Für Deutschland ist es wichtig, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Wir brauchen starke und solide Partner, die durch Reformen die Lösung der Krise voranbringen. Italien steht dabei für uns ganz vorne.


Sind die Beschlüsse des Gipfels endgültig oder wird Deutschland versuchen, sie in der Eurogruppe am Montag neu zu verhandeln?

Was in der Europäischen Union vereinbart wurde, gilt. Entscheidend ist doch, dass wir so schnell wie möglich das Vertrauen unserer Bürger und der Märkte in die Handlungsfähigkeit Europas zurückgewinnen. Für uns ist bei allen weiteren Schritten auf dem Weg aus der Schuldenkrise aus politischen, aber auch verfassungsrechtlichen Gründen wichtig, dass die nationalen Regierungen, aber auch die Parlamente, in Deutschland der Bundestag, vollumfänglich, beteiligt werden.


Hat sich das Verhältnis zwischen der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti geändert, nachdem Monti bei diesem Gipfel gedroht hat, ein Veto einzulegen, wenn keine konkreten Maßnahmen gegen die hohen Zinsen auf italienische Staatsanleihen getroffen werden? Wird das ihr künftiges Verhältnis beeinflussen/beeinträchtigen?

Die große Bedeutung, die beide Regierungen, die deutsche und die italienische, den bilateralen Beziehungen zumessen, zeigt sich gerade heute in den deutsch-italienischen Regierungskonsultationen in Rom. Die Bundeskanzlerin und zahlreiche deutsche Minister kommen heute nach Rom, um mit ihren italienischen Kollegen die ganze Bandbreite der engen bilateralen Beziehungen zu besprechen. Solche Regierungskonsultationen unterhält Deutschland nur mit seinen engsten Partnern.


Man konnte in den letzten Monaten einen intensiveren Austausch zwischen den beiden Regierungen beobachten. Welche politischen Projekte können Deutschland und Italien zusammen in Europa voranbringen?

Ich sehe großes Potenzial, das wir gemeinsam ausschöpfen sollten. Natürlich ist die Überwindung der Schuldenkrise erste Priorität. Als Außenminister denke ich aber auch an die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Nur gemeinsam werden die europäischen Staaten ihre Interessen und Werte im Konzert der neuen globalen Kraftzentren in einer multipolaren Welt erfolgreich wahren können. Auch bei anderen großen Herausforderungen, wie einer ökologischen und bezahlbaren Energieversorgung, im Umweltschutz und beim Kampf gegen den Klimawandel ist Italien ein Schlüsselpartner.
Wir müssen gemeinsam überlegen, wie die Zukunft Europas aussehen soll. Ich bin überzeugt, dass „mehr Europa“ das Gebot der Stunde ist, und weiß unsere italienischen Gesprächspartner dabei an unserer Seite. Mit meinem italienischen Amtskollegen Giulio Terzi arbeiten wir deshalb in unserer 'Zukunftsgruppe' an konkreten Vorschlägen, wie sich Europa weiterentwickeln kann.


Wird sich Italien aus eigener Kraft von seinen wirtschaftlichen Problemen erholen oder wird es externe Hilfe brauchen?

Italien ist ein großes Land mit einer diversifizierten, modernen und wettbewerbsfähigen Industrie. Italien hat große wirtschaftliche Pfunde, mit denen es wuchern kann, allen voran seine zahlreichen kreativen und hochspezialisierten kleinen und mittelständischen Unternehmen.
Im Zeitalter der Globalisierung müssen wir uns einem harten internationalen Wettbewerb stellen. Der Maßstab ist nicht mehr unsere nähere Nachbarschaft, sondern die ganze Welt. Reformen sind deshalb eine Daueraufgabe, in Deutschland, in Italien und überall sonst in der EU. Wenn wir mutig und entschlossen unsere Hausaufgaben machen, unsere Arbeitsstrukturen flexibler gestalten, konsequent Bürokratie abbauen und unsere Sozialsysteme modernisieren, können wir wieder zu einer der wettbewerbsfähigsten Regionen der Welt werden.
Reformen sind mitunter schmerzhaft, aber sie lohnen sich. Wir Deutschen wissen ein Lied davon zu singen. Noch vor zehn Jahren galt Deutschland als der 'kranke Mann Europas'. Wir haben dann – auch gegen großen politischen Widerstand – tief greifende Reformen angepackt. Heute gehört Deutschland wieder zu den wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit einer ganzen Generation nicht mehr.


Ist Deutschland bereit, Griechenland zwei Jahre mehr Zeit für die Umsetzung der Reformen zu geben?

Es ist gut, dass es jetzt, nach zwei Parlamentswahlen, eine neue Regierung mit einer stabilen Mehrheit in Athen gibt. Das, was Griechenland mit der Troika und der Europäischen Union vereinbart hat, gilt natürlich weiter. Es ist offensichtlich, dass in den Wahlkämpfen wertvolle Zeit für Reformen verloren gegangen ist. Deshalb begrüße ich, dass die Troika nach Athen reist und Gespräche mit der griechischen Regierung aufnimmt. Danach wird uns die Troika über den Stand der Umsetzungen berichten. Darauf muss dann der weitere Kurs aufbauen. Klar ist: Die gemeinsam gesteckten und vereinbarten Ziele stehen nicht zu Debatte.


Was muss geschehen, damit Deutschland den sogenannten Eurobonds zustimmt? Wann könnten Sie eingeführt werden? Bedarf es dafür einer Änderung des Grundgesetzes?

Eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa wäre ein grundsätzlicher Konstruktionsfehler, der die europäische Idee gefährdet. Sie ist deshalb kein Ziel Deutschlands, auch kein Fernziel. Zu wenig Solidarität gefährdet Europa, zu viel Solidarität kann Europa aber nicht minder gefährden. Die Belastbarkeit der deutschen Volkswirtschaft und der deutschen Steuerzahler ist nicht unbegrenzt. Eine Überforderung Deutschlands ist ebenso wenig hilfreich wie eine Unterforderung der Reformfähigkeit unserer Partner.


Die deutschen Exporteure befürchten Nachteile wegen Deutschlands harter Haltung in der EU-Schuldenkrise und klagen über eine zunehmende Zurückhaltung der Handelspartner; halb Europa feiert, weil Deutschland gegen Italien in der EM verliert. Sind Sie besorgt wegen des sich verschlechternden Bildes Deutschlands in Europa? Was kann die Bundesregierung tun, um dieses Bild zu verbessern?

Ich sehe mit gewisser Sorge, dass in diesen schwierigen Zeiten manche Vorurteile und Klischees wiederaufleben, übrigens auf allen Seiten. Dagegen müssen wir mit allem Nachdruck angehen. Alle, die Verantwortung tragen, sind aufgerufen, hier mit gutem Beispiel voranzugehen. Wir müssen den Menschen in Europa immer wieder zeigen, dass Europa eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Schicksalsgemeinschaft ist, dass unsere Zukunft als Europäer untrennbar miteinander verbunden ist. Und in aller Bescheidenheit: Die überragende Solidarität, die Deutschland in diesen Monaten zeigt, ist in Europa vorbildlich. Wir haften jetzt in der Höhe eines kompletten deutschen Bundeshaushaltes für ein ganzes Jahr.

Das Interview erschien im Original in italienischer Sprache.

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