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„Europa ist unsere Schicksalsgemeinschaft und Wohlstandsversicherung“

04.03.2012 - Interview

Interview mit Außenminister Guido Westerwelle zum Wahlkampf in Frankreich, zur europäischen Schuldenkrise, zu den Wahlen in Russland sowie über die Menschenrechtslage in Aserbaidschan und der Ukraine. Erschienen in der Welt am Sonntag vom 04.03.2012.

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Der französische Präsidentschaftswahlkampf wird eine ziemlich deutsche Veranstaltung: Angela Merkel kämpft für Nicolas Sarkozy, und Sigmar Gabriel tritt an der Seite von Francois Hollande auf. Wie findet das der Außenminister?

Ich rate allen deutschen Parteien zu Zurückhaltung. Die parteipolitische Auseinandersetzung in Deutschland darf nicht nach Frankreich verlagert werden. Die Bundesregierung ist jedenfalls nicht Teil des französischen Wahlkampfs. Wir arbeiten mit der jetzigen französischen Regierung ausgezeichnet zusammen, aber wir werden keinen Zweifel daran lassen, dass Deutschland mit jeder Regierung, für die sich das französische Volk entscheidet, hervorragend zusammenarbeiten wird. Gerade jetzt ist Fingerspitzengefühl gefragt. Wir befinden uns in einer Prägephase für Europa.

Was meinen Sie?

Deutschland wird derzeit als besonders stark und einflussreich in Europa wahrgenommen. Es gibt in ganz Europa eine Debatte über die Rolle Deutschlands in der Schuldenkrise. Jetzt entscheidet sich, welches Deutschlandbild sich auf Jahre in Europa festsetzt. Diese Prägephase müssen wir klug gestalten. Gerade der Starke hat eine Verpflichtung, mit seiner Stärke sensibel und verantwortungsvoll umzugehen.

Merkel und Sarkozy sind in der öffentlichen Wahrnehmung zum Euro-Rettungspaar Merkozy verschmolzen - mit der Kanzlerin auf dem Fahrersitz. Ist das schon die ökonomische und politische Führungsrolle, die Weltbankpräsident Zoellick oder der britische Historiker Garton Ash von Deutschland verlangen?

Es gibt einen Unterschied zwischen Meinungsführerschaft und Anordnung. Meinungsführerschaft wächst durch die Kraft des Arguments, Anordnung ist das Ummünzen von Stärke in Gefolgschaft. Ersteres wird zu Recht von Deutschland erwartet. Letzteres ist falsch. Wer jetzt die teutonische Keule schwingt, bekommt einen Bumerang zurück.

Die Kanzlerin hat für sich persönlich eine Führungsrolle reklamiert. Sie sagte im Bundestag: Ich gehe Risiken bei der Griechenland-Rettung ein, aber keine Abenteuer. Wohlgemerkt: „ich“, nicht „wir“. Haben wir eine Kanzlerdemokratie?

Sie hat sicher „wir“ gemeint. Wir haben eine Parlamentsdemokratie und eine Koalitionsregierung. Das haben alle Repräsentanten der Koalitionsparteien verinnerlicht.

Sie haben in dieser Woche ein Kommunikationskonzept für Europa vorgestellt. Ist das eine befriedigende Aufgabenteilung: Merkel und Schäuble retten den Euro, und das Auswärtige Amt kümmert sich um die PR?

Wenn das auch nur ansatzweise zuträfe, wäre es wirklich nicht in Ordnung.

Sie werden nicht bestreiten, dass das Auswärtige Amt in der Europapolitik an Bedeutung verloren hat...

Richtig ist, dass die Linie der deutschen Europapolitik in den vergangenen beiden Jahren wesentlich vom Auswärtigen Amt geprägt wurde. Wir haben unseren Beitrag geleistet, damit der Schuldenkrise nicht mit neuen Schulden, sondern mit Haushaltsdisziplin und Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit begegnet wird. Der am Freitag unterzeichnete Fiskalpakt wurde entscheidend im Auswärtigen Amt konzipiert.

Wie sehen die nächsten Schritte in der Krise aus? Drittes Hilfspaket für Griechenland? Aufstockung des Euro-Rettungsschirms?

Ich werde nicht dazu beitragen, Bürger und Märkte zu verunsichern. Es wurde und wird ohnehin zu viel spekuliert, auch von Verantwortungsträgern, die eigentlich die Lage beruhigen sollten. Mir ist wichtig, dass wir das nächste Kapitel der europäischen Integration aufschlagen...

... und das wäre?

Europa ist unsere Schicksalsgemeinschaft und eine Wohlstandsversicherung in Zeiten der Globalisierung. Europa muss sich viel mehr auf die eigene Identität besinnen. Europa ist ein Binnenmarkt und eine Währungsunion, aber vor allem eine Kulturgemeinschaft, eine Gemeinschaft von Werten. Ich bedauere, dass es bisher nicht gelungen ist, eine echte europäische Verfassung zu beschließen. Wir merken, dass der Vertrag von Lissabon Konstruktionsmängel hat. Viele Entscheidungsmechanismen sind zu kompliziert, es mangelt auch immer noch an Transparenz und Klarheit.

Sollten wir einen neuen Anlauf wagen?

Europa braucht eine gemeinsame Verfassung, über die die Bürger in einer Volksabstimmung entscheiden sollten. Ich hoffe sehr, dass hier mittelfristig ein neuer Anlauf gelingt.

Was wäre damit verbunden?

Wir brauchen europäische Persönlichkeiten, mit denen sich die Menschen in ganz Europa identifizieren können. Deshalb bin ich für die Direktwahl eines europäischen Präsidenten, der zuvor in ganz Europa antreten und für sich werben müsste. Das könnte der EU neuen Schwung verleihen. Außerdem hielte ich es für sinnvoll, langfristig zu einem wirklichen parlamentarischen Zweikammersystem zu kommen: mit dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat als einer Art Länderkammer.

Wie lange würde es dauern, bis diese neue Architektur steht?

Das klingt für viele nach antizyklischer Zukunftsmusik, und es lässt sich auch nicht von heute auf morgen umsetzen. Aber wenn wir in einigen Jahren etwas erreicht haben wollen, müssen wir heute damit anfangen. Es gilt, 500 Millionen Europäer auf diesen Weg mitzunehmen.

[...]

Während die Koalitionsspitzen [in Berlin] tagen, wählt Russland einen neuen Präsidenten. Wünschen Sie Wladimir Putin ein gutes Ergebnis?

Eine preisverdächtige Fragestellung!

Und die Antwort?

Wir warten das Ergebnis ab und setzen darauf, dass wir auch mit dem neuen Präsidenten in einem Geist der Kooperation zusammen arbeiten können. Wir möchten die weiterhin dringend notwendige Modernisierungspartnerschaft mit Russland fortsetzen, zu der auch der Rechtsstaatsdialog gehört. Russland ist eine Kulturnation, es liegt zu einem großen Teil in Europa. Sicherheit in Europa gibt es nicht gegen, sondern nur mit Russland. Ich setze mich dafür ein, dass Russland ein strategischer Partner Deutschlands und Europas bleibt.

In Moskau gibt es Massendemonstrationen gegen Putin. Stehen wir vor einem Russischen Frühling?

Lassen Sie uns die Entwicklung abwarten. Interessant und ein positives Anzeichen ist, dass Demonstrationen dieser Größenordnung stattfinden. Bei allen kritikwürdigen Defiziten setze ich darauf, dass diese Tendenzen keine Momentaufnahmen sind.

Putin wirft der Opposition vor, sie wolle Gewalt anzetteln und suche nach Märtyrern...

Ich will das am heutigen Tag nicht kommentieren - und rate zur Differenzierung. Es gibt Fortschritte in Russland: wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche. Und es gibt Entwicklungen, die mich besorgt machen, zum Beispiel bei der Pressefreiheit. In St. Petersburg wurde ein Gesetz gegen die „Propaganda von Homosexualität“ beschlossen. Das spricht gegen Aufgeklärtheit und Toleranz.

Die Missachtung von Menschenrechen ist auch Thema in Aserbaidschan und der Ukraine, die demnächst Veranstaltungen im Weltmaßstab ausrichten. Sollte man den Eurovision Song Contest und die Fußball-Europameisterschaft zum Protest nutzen?

Ich habe auch vor den Olympischen Spielen in China auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage gedrängt. Wir werden in Baku und Kiew das ansprechen, was gesagt werden muss. Ich bin aber dagegen, dass wir Ereignisse wie ein Fußballturnier und einen Schlagerwettbewerb, die zunächst eher weniger mit Politik zu tun haben, vorschnell mit Boykottaufrufen versehen.

Fragen: Jochen Gaugele, Thorsten Jungholt, Claus Christian Malzahn. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag.

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