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„Fesseln abstreifen“

25.01.2012 - Interview

Außenminister Guido Westerwelle fordert eine Agenda für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa. Erschienen im Handelsblatt vom 25.01.2012.

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Die Schuldenkrise ist zur tiefsten Vertrauenskrise in der Geschichte der Europäischen Union geworden. Bürger und Anleger fragen sich: Tut Europa genug, um zu verhindern, dass sich die Krise weiter zuspitzt? Überfordern wir Deutsche unsere Partner mit den strengen Bedingungen für mehr Haushaltsdisziplin? Vernachlässigen wir darüber das Thema Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa?

Klar ist: Europa krankt an einer über Jahrzehnte eingeschlichenen Verschuldungsmentalität. Einige Länder haben in dieser Zeit auch stark an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Zusammen wirkt das wie Blei an den Füßen und erschwert die Überwindung der Krise.

Wir sind jetzt auf gutem Weg, die Ursachen der Krise entschlossen anzugehen und das Vertrauen der Bürger und der Märkte zurückzugewinnen. Der in diesen Tagen intensiv verhandelte Fiskalvertrag wird verbindliche Regeln zur dauerhaften Stärkung der Haushaltsdisziplin festschreiben. Die Konsolidierung der Haushalte ist aber nur die halbe Miete. Alle Bemühungen um Solidität könnten vergeblich sein, wenn unsere Volkswirtschaften nicht auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren. Unsere Strategie darf sich deshalb nicht in Austerität erschöpfen, sondern muss gleichzeitig intelligente Impulse für ein gutes, nachhaltiges Wachstum setzen. Der entscheidende Hebel dafür ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.

In diesem Jahr muss es darum gehen, neben der notwendigen weiteren Konsolidierung auch eine ehrgeizige Agenda für mehr Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit auf den Weg zu bringen. Europa muss die selbst angelegten Fesseln abstreifen und das enorme Potenzial heben, das sich auf drei Gebieten bietet:

Binnenmarkt: Schon einmal, in den 80er- und 90er-Jahren, wurden durch die Verwirklichung der „vier Freiheiten“ enorme Kräfte freigesetzt. Heute bietet die Ausdehnung des Binnenmarkts auf neue Felder ein weiteres Mal große Chancen. Das gilt besonders für die digitalisierte Wirtschaft und den Internethandel, den Energiebereich, wo mehr Wettbewerb zu günstigeren Preisen und mehr Versorgungssicherheit führen wird, aber auch für die Stärkung von kleinen und mittleren Unternehmen, durch den Abbau von Bürokratie und besseren Zugang zu Risikokapital. Für den Ausbau des Binnenmarkts liegen viele Vorschläge der Europäischen Kommission auf dem Tisch; sie müssen jetzt mit Hochdruck umgesetzt werden. Allgemein sollte es einen Wachstumstest für die Auswahl prioritärer Vorhaben und ein beschleunigtes Verfahren für deren parlamentarische Behandlung geben.

Zukunftshaushalt: „Mehr Wettbewerbsfähigkeit“ muss zum Leitmotiv der Verhandlungen über den künftigen EU-Haushalt werden. Wir müssen dort investieren, wo wir am besten nachhaltiges Wachstum fördern können. Deshalb muss die Strukturpolitik der EU kritisch überprüft werden. Ein europäischer Wachstumsfonds sollte geschaffen werden, in dem nicht verbrauchte Mittel der Strukturfonds gezielt für Wachstumsimpulse in Problemländern verwendet werden. Entscheidend ist eine gezielte Ausrichtung des Haushalts auf Bildung, Forschung und Innovation.

Freihandel: 2015 werden 90 Prozent des weltweiten Wachstums außerhalb Europas erwirtschaftet werden, vor allem in Asien und in Nord- und Südamerika. Wir Europäer müssen uns mehr als bisher bemühen, unseren Anteil daran auszuweiten. Die Bedeutung des freien Handels wird weiter steigen. Die EU muss deshalb alles daran setzen, weitere Freihandelsabkommen mit den alten und neuen Kraftzentren der Welt abzuschließen. Das gilt für die USA, aber auch für Japan. Auch die Verhandlungen mit Indien, den Golfstaaten und Brasilien müssen wir zügig zum Abschluss bringen.

Die wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum müssen die Mitgliedsstaaten allerdings selbst schaffen: durch ehrgeizige Reformen auf dem Arbeitsmarkt, bei den Systemen der Altersversorgung oder der Infrastruktur. Das gilt nicht nur für die Staaten, die von der Schuldenkrise besonders betroffen sind, sondern für alle EU-Partner. Auch Deutschland wird ohne ein kontinuierliches Reformprogramm nicht auskommen.

In der aktuellen Debatte hört man gelegentlich das Argument, Konsolidierung und Wachstum gingen nicht zusammen. Dem widerspreche ich. Beides ist möglich, das hat Deutschland, das haben auch viele unserer nördlichen und östlichen Nachbarn eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Wenn wir hierfür noch in diesem Jahr die richtigen Weichen stellen, wird es gelingen, einen nachhaltigen Weg aus der Krise zu finden. Wir legen damit auch den Grundstein für ein politisch geeintes Europa, das angesichts globaler Herausforderungen mit einer Stimme spricht.

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