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Europa braucht mehr Integration
Außenminister Guido Westerwelle zu den Konsequenzen aus der europäischen Schuldenkrise. Erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 29.11.2011.
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Die Schuldenkrise hat die Europäische Union vor die schwerste Belastungsprobe seit ihrer Gründung gestellt. Trotz intensiver Bemühungen ist es uns noch nicht gelungen, das Vertrauen der Finanzmärkte zurück zu gewinnen. Schlimmer noch: In vielen Ländern ist das Vertrauen der Bürger in das europäische Projekt in Mitleidenschaft gezogen. Viele Mitgliedstaaten haben ihren Bürgerinnen und Bürgern tiefgreifende und schmerzhafte Einschnitte zumuten müssen. Wir Deutsche haben das mit großem Respekt verfolgt. Ich habe große Hochachtung vor dem Mut und der Entschlossenheit vieler Regierungen, auch unpopuläre Reformprogramme zu verwirklichen. Auch die Bundesregierung hat bereits im vergangenen Jahr das größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht. Wir haben viel Kritik dafür einstecken müssen. Es war vorausschauend, wie man heute sieht.
Die Krise hat offenbart, dass die Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone stark auseinandergedriftet ist. In einigen Ländern ist es auch mit den historisch niedrigen Zinssätzen nach Einführung des Euro zu folgenschweren Fehlentwicklungen gekommen: Schulden wurden allzu leichtfertig aufgenommen, der Staatsapparat übermäßig aufgebläht, Investitionen in zukunftsträchtige Branchen kamen zu kurz, Aufsicht und Kontrolle über Banken und Finanzmärkte waren unzureichend. Lange konnten diese Probleme übertüncht werden. Jetzt sehen wir: So kann es nicht weitergehen. Und wir haben gelernt: Eine vergemeinschaftete Geld- und Währungspolitik kann dauerhaft ohne eine streng koordinierte Wirtschafts– und Fiskalpolitik nicht funktionieren.
Quo vadis, Europa?
Erstens, akutes Krisenmanagement: Die Beschlüsse des Europäischen Rates müssen wir schnellstmöglich umsetzen. Wir spannen finanzielle Rettungsschirme auf und statten sie mit größtmöglicher Kraft aus. Damit können wir Staaten und Banken vor Ansteckungsgefahren schützen. Deutschland ist solidarisch und steht – mit einem breitem parlamentarischem Konsens im Rücken – mit großem Engagement an der Seite seiner europäischen Partner. Für eine Rückkehr zu wirtschaftlicher Dynamik überall in der EU ist all das notwendig, es ist aber nicht hinreichend: Auch nationale Spar- und Reformprogramme müssen zügig umgesetzt werden und in eine glaubwürdige, nachhaltige Politik der Schuldenrückführung einmünden.
Zweitens: Wettbewerbsfähigkeit ist der Schlüssel für neue Wachstumsdynamik. Die EU hat mit der Agenda „Europa 2020“ wichtige Orientierung gegeben. Mit dem „Euro-Plus-Pakt“ werden auch nationale Maßnahmen, etwa in der Steuer- oder Arbeitsmarktpolitik, auf europäischer Ebene koordiniert. Wir wollen den Binnenmarkt weiter ausbauen. Aber auch hier gilt: Europa gibt den Rahmen vor. Entscheidend ist, dass alle ihre Ideen und Kreativität einbringen. Nur so können wir unser großes, gemeinsames Potenzial ausschöpfen und den Boden für neue Dynamik und nachhaltiges Wachstum bereiten.
Drittens: Die bereits erfolgten Verschärfungen der Stabilitätsregeln weisen in die richtige Richtung. Sie reichen aber nicht. Der anhaltende Vertrauensmangel zeigt sich doch an den weiter steigender Zinsen für die Anleihen einiger Euro-Staaten. Wir müssen deshalb weitergehen und die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer wirklichen Stabilitätsunion ausbauen. Nur so machen wir die Fehlentwicklungen der Vergangenheit ein für alle Mal unmöglich. Das wird nicht ohne eng begrenzte Änderungen des EU-Vertrages gehen. Was wir brauchen, sind vor allem automatische Sanktionen bei Verstößen gegen die Stabilitätsregeln, die durch ein Klagerecht beim Europäischen Gerichtshof bei wiederholter Missachtung ergänzt werden sollten.
Wir haben keine Zeit zu verlieren, sondern brauchen dazu schon beim kommenden Europäischen Rat eine politische Vereinbarung. Auf dieser Grundlage könnte dann im Frühjahr 2012 ein Konvent zusammentreten, der zügig mit einem zeitlich und inhaltlich eng begrenztem Mandat klare Stabilitätsregeln ausarbeitet. Auch diese neuen Regeln werden nur für die Euro-Staaten gelten. Dennoch ist es wichtig, sie inklusiv, das heißt, „zu 27“ zu entwickeln. Eine Spaltung der Europäischen Union gilt es zu vermeiden.
Für uns Deutsche ist und bleibt das Bekenntnis zu Europa das Fundament unserer Politik. Die EU braucht zeitgerechte Lösungen, um unser einzigartiges Lebensmodell der Freiheit, sozialen Gerechtigkeit und kulturellen Vielfalt zu bewahren. Dass das gelingt, ist die Verantwortung aller Mitgliedstaaten gemeinsam. Jeder hat seinen gleichberechtigten Platz in Europa und das Recht, ja die Pflicht, sich mit seinen Ideen und Vorstellungen engagiert und konstruktiv einzubringen. Wo immer das zweckmäßig ist, sollten wir die Gemeinschaftsmethode nutzen und ausbauen; sie gibt jedem am Tisch Sitz und Stimme und hat in Europa viel Vertrauen gestiftet.
Unsere gemeinsame Währung ist ein Projekt, dessen Bedeutung für Europa gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Euro wird weltweit respektiert; seine Bedeutung als internationale Reservewährung nimmt ungeachtet der derzeitigen Turbulenzen weiter zu. Er untermauert so auch unseren Anspruch auf Mitgestaltung der Globalisierung. Eines ist klar: Nur gemeinsam wird es uns Europäern gelingen, uns im globalisierten Wettbewerb mit den neuen Kraftzentren der Welt zu behaupten.
Wir Europäer haben es immer geschafft, gemeinsam aus Krisen gestärkt hervorzugehen und das Projekt Europa voran zu bringen. Das wird uns auch diesmal gelingen. wenn wir gemeinsam und mit Entschlossenheit einen mutigen Schritt zu mehr Integration gehen. Die Fortentwicklung der Verträge ist sicher kein bequemer Spaziergang; aber er ist der einzige Weg, der uns zu einer Union der Stabilität und des Wachstums führt.