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Das europäische Deutschland

12.11.2011 - Interview

Gemeinsam mit den ehemaligen deutschen Außenministern Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel und Walter Scheel hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. November 2011 den folgenden Namensartikel veröffentlicht.

Europa ist in schweren Turbulenzen. Eine jahrelange staatliche Schuldenpolitik wurde durch die zusätzlichen Belastungen der Finanz- und Bankenkrise plötzlich im wahrsten Sinne des Wortes „untragbar“. Zweifel an der Bonität staatlicher Schuldner und brüchiges Vertrauen in die Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit des vereinten Europa sind die fatalen Folgen.

Die Lage ist ernst. Sie verlangt gerade deshalb besondere Ernsthaftigkeit und Verantwortung bei der Entscheidung über den künftigen Weg. Manchen ist die geübte Solidarität mit den Eurostaaten in Zahlungsschwierigkeiten nicht geheuer. Das Vertrauen der Bürger in das europäische Projekt ist in Mitleidenschaft gezogen. Die Sehnsucht nach einer einfachen Lösung wächst, nach einem vermeintlich „klaren Schnitt“. Ein kühler Kopf ist ein besserer Ratgeber.

Blicken wir auf die deutschen Interessen. Es ist Mode geworden, deutsche Interessen und europäische Interessen einander gegenüberzustellen, als seien sie zwei verschiedene, bisweilen gegensätzliche Dinge. Nun ist es wahr, dass nicht alles, was in Brüssel gedacht und vorgeschlagen wird, sofortige und ungeteilte Zustimmung verdient. Aber der zentrale Punkt bleibt, dass gerade der gemeinsame Brüsseler Tisch, um den die 27 Mitgliedstaaten gleichberechtigt sitzen und ihre Interessen zu einem fairen Kompromiss ausgleichen, im besonderen deutschen Interesse liegt. Die Kompromissmaschine von Brüssel ist es, die dem großen Deutschland in der Mitte des Kontinents das Vertrauen und die Freundschaft seiner vielen Nachbarn und europäischen Partner sichert. Dieses hohe Gut ist ebenso viel, wenn nicht noch mehr wert als der gemeinsame Binnenmarkt von 500 Millionen europäischen Bürgern, von dem wir als Exportnation besonders profitieren.

Als die Römischen Verträge 1957 unterzeichnet wurden, gab es etwa 3 Milliarden Menschen auf der Erde. In diesen Tagen hat die Weltbevölkerung die 7-Milliarden-Grenze überschritten. In Deutschland nimmt die Bevölkerung ab. Die Gewichte der Nationalstaaten nehmen in der globalisierten Welt ab. Kein Land, auch nicht Deutschland, hat allein das Gewicht, auf zentral wichtige Entscheidungen in Politik und Wirtschaft einzuwirken. Umso wichtiger ist, dass wir als weltweit vernetzte, von Offenheit lebende Volkswirtschaft gemeinsame Regeln in der und für die Welt von morgen haben. Wir müssen aus eigenem Interesse die Globalisierung mitgestalten: Für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, für die Achtung der unveräußerlichen Rechte eines jeden Einzelnen, für freien Handel. Die Chance, darauf im Zusammenwirken mit den neuen Kraftzentren dieser Welt Einfluss zu nehmen, haben wir nur als Europäer gemeinsam. Dabei geht es um unsere Werte genauso wie um unsere Interessen. Die Frage, ob in unserer Nachbarschaft Demokratien oder Diktaturen herrschen, wird auf unsere Sicherheit ausstrahlen. Gegen Klimawandel, Flüchtlingsströme und Rohstoffknappheit gibt es keine nationale Antwort. Globale Normen und Standards für die E-Mobilität der Zukunft entscheiden auch die Zukunft unserer Automobilindustrie.

Das europäische Projekt bleibt also das Fundament deutscher Außenpolitik. Aber es ist in einer Phase ungewöhnlich ernster Herausforderungen und verlangt nach besonderem Verantwortungsbewusstsein – bei uns ebenso wie bei unseren europäischen Partnern. Wir Deutsche haben, ob wir wollen oder nicht, wegen der Vergangenheit eine besondere Verantwortung.

Wir haben in den vergangenen achtzehn Monaten viel erreicht, um deutsche ordnungspolitische Grundsätze in der Eurozone fester zu verankern. Das ist gut so. Dies wird zusammen mit der notwendigen Änderung der Europäischen Verträge den Weg in eine echte Stabilitätsunion ebnen, in der Haushaltsdisziplin und Wettbewerbsfähigkeit einen höheren Rang bekommen als bisher. Die gemeinsame Währung verlangt das gemeinsame Handeln auch in der Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Aber Fiskaldisziplin ist nicht allein ein deutsches Anliegen, gründend auf der historischen Erfahrung der Hyperinflation. Solides Haushalten liegt im gesamteuropäischen Interesse. Mutige Reformschritte in vielen Eurostaaten, etwa die Einführung nationaler Schuldenbremsen, zeigen, dass auch anderswo der Ernst der Lage erkannt worden ist. Eine rasche Lösung wird es nicht geben. Es wird Jahre dauern, bis Europa sich konsolidiert und die gemeinsame Wettbewerbsfähigkeit gestärkt hat.

Es ist wichtig, dass Deutschland diesen Weg gemeinsam mit Frankreich geht. Es ist wichtig, dass wir Polen eng einbeziehen, wenn wir über eine immer engere Zusammenarbeit unter den Staaten der Eurozone sprechen. Das Europa von morgen braucht im deutschen Interesse Frankreich wie Polen als Partner im Kern. Aber wir müssen die Interessen und auch die fragenden Blicke aus anderen Nachbar- und Partnerstaaten ernst nehmen. Das Vertrauen unserer Partner in Deutschland und das Vertrauen Deutschlands in Europa sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir dürfen Europa nicht zu einer Misstrauensgesellschaft werden lassen. Nicht durch unsere Worte, nicht durch unser Handeln.

Entscheidend ist der politische Wille, das Einigungsprojekt gemeinsam zum Erfolg zu führen. Dabei dürfen wir nicht nur feststellen, was alles nicht geht. Wir müssen den Weg in eine Stabilitätsunion aktiv vorantreiben. Wir brauchen in ganz Europa eine neue Debatte über die Zukunft der Europäischen Union. Es geht um unsere zukünftige europäische Verfasstheit. Es geht um eine europäische Verfassung, die die institutionellen Voraussetzungen für die fortschreitende Integration auch in der Wirtschaft- und Finanzpolitik unter der Kontrolle des Europäischen Parlaments schafft.

Die zwischenstaatliche Verabredung hilft, rasch und entschlossen im Angesicht der Krise zu handeln. Aber die Gemeinschaftsmethode hat in Europa Vertrauen gestiftet. Sie gibt allen am Tisch Sitz und Stimme. Sie muss auf weitere Sicht wieder Europas Handeln bestimmen.

Verlieren wir in den Stürmen der aktuellen Krise nicht die Orientierung. Unser Ziel bleibt eine Politische Union Europas, mit offenen Grenzen, mit einem attraktiven „European way of life“, mit kultureller Anziehungskraft, wirtschaftlicher Dynamik und politischer Ausstrahlung. Dafür müssen wir heute Solidität und Solidarität auf kluge Weise verbinden.

Es gibt keine gute Zukunft für unser Land ohne die europäische Einigung. Es gibt für unsere Nachbarn keine gute Zukunft ohne ein europäisches Deutschland. Diese Lektion galt nicht nur in Zeiten des Kalten Krieges. Sie gilt auch heute. Sie sollte unseren europapolitischen Kurs auch morgen bestimmen.

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