Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
„Ich möchte die Vereinigten Staaten von Europa noch selbst erleben“
Die Ursache der aktuellen Krise liegt für Außenminister Westerwelle nicht in zu viel, sondern in zu wenig Europa. Im Interview mit dem Focus äußert er sich außerdem zu Libyen, Nahost und zum 10. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001.
Sie haben sich entschlossen, Deutschland aus dem Krieg der NATO gegen das libysche Regime ganz heraus zu halten. Meinen Sie, dass diese Entscheidung Deutschlands Rolle im Bündnis gestärkt oder geschwächt hat?
Unsere Entscheidung, dass sich die Bundeswehr nicht mit Kampftruppen am Einsatz in Libyen beteiligt, wird von unseren Bündnispartnern respektiert. Und auch außerhalb des Bündnisses gibt es eine hohe Wertschätzung für unsere Kultur der militärischen Zurückhaltung und den Vorrang für politische Lösungen. Diese Entscheidung war richtig.
Dennoch sind wir militärisch das wichtigste europäische Land der NATO?
Es wird anerkannt, dass Deutschland eine Politik betreibt, die das militärische Eingreifen als letztes Mittel begreift. Dass politische Lösungen stets länger bräuchten als militärische Eingriffe, trifft augenscheinlich nicht zu.
Sie setzen sich für den Frieden auf dem Balkan ein. Vor 20 Jahren hat Genscher dort eine entscheidende Rolle gespielt. Sehen Sie Ihre Arbeit in seiner Tradition?
Ich setze diese Arbeit fort. Kriege im Europa des 21. Jahrhunderts darf es nicht geben. Wir haben uns auch stark dafür eingesetzt, dass Kroatien die Voraussetzungen für den EU-Beitritt schafft. Unser Engagement wird geschätzt. Auf diesem Vertrauen können wir aufbauen.
Viele Deutsche fühlen sich von der ständigen Erweiterung der EU aber überfordert...
Kroatien ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Anziehungskraft der Europäischen Union ungebrochen ist. Wenn Länder wie Kroatien die Voraussetzungen für den Beitritt erfüllen, profitieren wir alle davon. Das Land ist wirtschaftlich auf gutem Weg, es gehört zu Europa und auch in die EU. Wir wollen, dass Europa noch stärker zusammenwächst. Europa hat immer dann große Schritte nach vorne geschafft, wenn es in der Krise steckte. Unsere Zukunft heißt Europa. Ich möchte die Vereinigten Staaten von Europa noch selbst erleben. Das hat mit der Aufgabe nationaler Identität nichts zu tun.
Warum ist die politische Einheit Europas so wichtig?
Das geeinte Europa ist unsere Wohlstandsversicherung in Zeiten der Globalisierung. Es wäre eine gefährliche Selbstüberschätzung, wenn wir als Deutsche glauben würden, wir könnten auch ohne Europa unseren Wohlstand halten. Wer Europa in Frage stellt, legt die Axt an den Wohlstand und die Arbeitsplätze in Deutschland. Der europäische Binnenmarkt ist entscheidend für uns. Wir exportieren mehr Güter nach Belgien und in die Niederlande als nach China. Den Wettbewerb mit den neuen Kraftzentren der Welt werden wir nur als ein Europa meistern, das zusammen steht und neue Chancen sucht, z.B. auch in der Partnerschaft mit Russland.
Trotz aller gegenwärtigen Krisen?
Diese Krisen haben ihre Ursache nicht in zu viel, sondern in zu wenig Europa. Damit meine ich, dass wir zwar eine einheitliche Währung erreicht haben, aber noch zu wenig koordinierte Politik betreiben, z.B. bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen oder der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit. Die europäische Einigung ist eine historische Errungenschaft. Aus den Schrecken des Zweiten Weltkriegs wurde der europäische Traum von Frieden, Freiheit und Wohlstand geboren. Heute, in der Schuldenkrise, ist Europa in der Bewährung. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Europäer diese gewaltigen Herausforderungen gemeinsam bewältigen. Es geht jetzt darum, eine Stabilitätsunion zu schaffen. Dabei kommen wir voran. Es wird dabei auch eine differenzierte Zusammenarbeit geben, das heißt die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit einiger Mitgliedsstaaten. Niemand wird ausgeschlossen. Aber genauso soll niemand diejenigen ausbremsen können, die sich auf den Weg machen wollen in Richtung von mehr Wettbewerbsfähigkeit, Zusammenarbeit und Koordination.
Palästinensische Organisationen planen, bei der UNO die Anerkennung eines eigenen Staates zu beantragen, ohne dass es weitere Verhandlungen mit Israel gibt. Wie verhält sich Deutschland dazu?
Unser Ziel ist eine Zwei-Staaten-Lösung, die sich nur über den Verhandlungsweg erreichen lässt. Israel muss ohne Angst vor Raketenangriffen und Terroranschlägen leben können, und die Palästinenser sollen einen eigenen lebensfähigen autonomen, demokratischen und friedlichen Staat haben. Darüber sprechen wir derzeit mit beiden, aber auch mit unseren europäischen Partnern und den USA und Russland. Die Rede von Präsident Obama ist eine gute Grundlage für eine gemeinsame Haltung der Weltgemeinschaft.
Obama fordert eine einvernehmliche Lösung in den Grenzen von 1967. Einem einseitig ausgerufenen Palästina wird er nicht zustimmen. Wie verhalten Sie sich dann?
Es liegt noch nicht einmal ein Antrag vor. Über unser Abstimmungsverhalten entscheiden wir, wenn es soweit ist.
Was nehmen Sie sich für die kommenden zwei Jahre vor?
Seitdem ich Außenminister bin, verfolge ich drei Grundlinien in der Außenpolitik, und das werden auch meine Schwerpunkte bleiben. Das ist erstens das weitere Zusammenwachsen Europas. Gerade in Zeiten der Krise und Infragestellung braucht Europa Freunde. Zweitens geht es mir um eine umfassende Friedenspolitik, von der Beilegung von Konflikten bis zur Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen. Solange die Gefahr besteht, dass Terroristen oder irrationale Staatsführer Atomwaffen in die Hand bekommen können, dürfen wir nicht ruhen, genau das zu verhindern. Drittens möchte ich neue strategische Partnerschaften zu den neuen Kraftzentren in der Welt aufbauen, damit wir als Exportnation in der neuen politischen Architektur der Welt nicht verlieren, sondern gewinnen.
Wie blicken Sie zehn Jahre nach den Anschlägen in New York in die Zukunft?
Wir leben ohne Zweifel in einer Schwellenzeit des Umbruchs zu einer neuen Weltordnung. Neben Sorge sehe ich auch Entwicklungen, die optimistisch stimmen. Dass die Menschen im arabischen Frühling für dieselben freiheitlichen Werte auf die Straße gehen, die auch Grundlage der europäischen Idee sind, ist ein ermutigendes Ergebnis der Globalisierung. Die Geschichte ist offen. Wir wollen sie so gestalten, dass Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand gestärkt werden.
Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch.
Fragen: Gunnar Schupelius. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Focus.