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„Europa endet nicht an der Ostgrenze Polens“ - die Außenminister Westerwelle und Sikorski im Interview mit dem Tagesspiegel, 5. 11. 2010

05.11.2010 - Interview

Frage: Herr Westerwelle, Herr Sikorski, Sie waren beide gemeinsam in Minsk, um dem letzten Diktator Europas einen Besuch abzustatten. Was sollte das?

Westerwelle: Der Besuch ist Ausdruck eines gemeinsamen Anliegens, das wir mit der östlichen Partnerschaft verfolgen: Wir wollen die Beziehungen auch zu den östlichen Nachbarn Europas entwickeln. Deshalb haben wir gemeinsam eine klare Botschaft für freie und faire Wahlen an die weißrussische Regierung gesendet. Denn das Fundament für jedes europäische Engagement sind Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte.

Sikorski: Guido und ich verstehen uns so gut, dass der Besuch in ein paar Tagen organisiert war. Wir wollen Spaltungen in Europa überwinden, und es ist von vornherein überzeugender, wenn man solch ein Anliegen gemeinsam vertritt. Das hat mittlerweile gute Tradition – auch während der orangenen Revolution in der Ukraine haben Deutschland und Polen gemeinsam gehandelt.

Frage: Ab wann gilt denn der Besuch für sie als Erfolg, ab wann nicht? Präsident Lukaschenko rechnet fest mit einem vierten Wahlsieg.

W.: Der Wahlkampf wird international sehr genau beobachtet, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat Wahlbeobachter entsandt. Wir messen Präsident Lukaschenko nicht an seinen Worten, die er im Staatsfernsehen verbreitet, sondern an seinen Taten.

S.: Wenn er glaubt, er kann in freien Wahlen gewinnen, dann soll Lukaschenko das mal unter Beweis stellen. Noch haben wir begründete Zweifel an einem freien Urnengang und am freien Zugang der Opposition zu den Medien. Erst wenn Präsident Lukaschenko die ausräumt, kann Weißrussland sich auf eine engere Zusammenarbeit mit Europa einstellen.

Frage: Planen sie weitere Reisen, etwa in die Ukraine, nach Georgien oder Moldawien?

W.: Europa endet nicht an der Ostgrenze Polens. Wir wollen unsere Prinzipien der Freiheit, der Rechtsstaatlichkeit und der wirtschaftlichen Prosperität auch den Nachbarn der Europäischen Union im Osten näher bringen. Dazu haben wir zwar derzeit keine weiteren Reisen geplant, weil wir ein solches starkes Signal nicht inflationieren wollen. Ich bin mir aber sicher, dass wir dort, wo es notwendig ist, eine solche Gemeinsamkeit wieder zeigen werden.

Frage: Noch sind Staaten wie Weißrussland oder Aserbaidschan sehr weit von Rechtsstaatlichkeit entfernt.

W.: Deshalb ist die gemeinsame Koordinierung so wichtig. Wir arbeiten eng bei der regionalen Konfliktlösung zusammen, etwa auch in Moldawien. Ich wundere mich gelegentlich darüber, wie strategische Fragen wie die Zukunft Weißrusslands, Moldawiens oder des westlichen Balkans bei uns zu Hause diskutiert werden – als handelte es sich um weit entfernte Länder. Manch einer kennt sich in der fernen Welt offenbar besser aus als auf dem eigenen Kontinent. Das ist direkt vor unserer Haustür, der Nachbar unseres Nachbarn! Da müssen wir uns kümmern.

Frage: Sprechen Sie auch mit einer gemeinsamer Stimme, was Russland betrifft? Polen hat Deutschland in der Vergangenheit oft einen Kuschelkurs vorgeworfen.

S.: Die wirtschaftliche Integration und Modernisierung Russlands ist im europäischen Interesse. Was wir aber wünschen, ist eine ganzheitliche Modernisierung im Land. Russland muss verstehen, dass eine Gesellschaft Freiräume braucht und dass es auch um demokratische Normen geht.

W.: Russland ist unser strategischer Partner. Wir wollen eine Modernisierungspartnerschaft, die nicht auf die Wirtschaft reduziert bleibt, sondern auch Rechtssystem und innere Reformen einschließt.

Frage: Außenpolitisch macht Russland einen kleinen Schritt in Richtung Nato.

W.: Hier haben wir schon sehr viel erreicht. Ich begrüße, dass Präsident Dmitri Medwedew zum Nato-Gipfel in Lissabon persönlich anreist. Dass Russland erwägt, sich an der Raketenabwehr zu beteiligen, ist ein sehr positives Signal. Gut auch, dass die Lösung etwa des Transnistrien-Konfliktes von Russland als ein Testfall für die eigene Entschlossenheit verstanden wird. All das zeigt, dass Moskau bereit ist, international eine verantwortungsvolle Rolle zu übernehmen.

Frage: Die Ostseepipeline steht vor der Vollendung. Als sie zwischen Russland und Deutschland vereinbart wurde, klagte Polens damaliger Präsident Aleksander Kwasniewski: Die Deutschen nehmen uns nicht für voll. Gilt das immer noch?

S.: Nein. Damals hat es keine Konsultation mit uns über das Projekt gegeben, das haben wir kritisiert. Auch die Art und Weise erschien uns seltsam: Zuerst hat der deutsche Kanzler es beschlossen, kurz darauf ging er in den Aufsichtsrat des Konsortiums. Aber nun wenden wir uns lieber Zukunftsfragen zu.

W.: Dazu gibt es eine ganz klare Antwort: Alleingänge darf es nicht geben – ganz unabhängig davon, dass dieses Projekt für die Energiesicherheit sinnvoll ist.

Frage: Sie wollen das „Weimarer Dreieck“ wieder beleben. Wird der europäische Motor künftig ein Dreizylinder?

W.: Frankreich und Deutschland haben eine Schlüsselposition für die Beförderung europäischer Projekte. Das gilt aber genauso für Polen. Das Weimarer Dreieck bildet eine symbolische Brücke zu den neuen Mitgliedern. Schließlich heißt es „Europäische Union“, nicht „Westeuropäische Union“!

Frage: Deutschland hat es immer schwerer, seine Ideen etwa im Bereich des Stabilitätspaktes europaweit auch durchzusetzen. Fehlt es an Kraft, Ideengeber zu sein?

W.: Nein. Deutschland ist ein zutiefst europäisches Land. Unsere Europapolitik sucht eine Partnerschaft nicht nur zu den großen, wirtschaftlich starken Staaten, sondern ausdrücklich auch mit den kleineren und mittelgroßen Ländern auf gleicher Augenhöhe. Dabei hat es immer Partner. Bei der Frage der Stabilitätskultur ist einer der wichtigsten übrigens Polen.

Frage: Polen ist nicht Mitglied der Eurozone.

S.: Das ist nicht ganz fair. Wir plädieren für ein Stimmrecht über Währungsfragen auch für Staaten wie etwa Polen, die bald dem Euro-Raum beitreten. Wir wünschen keine Währungszone der 16, sondern eine gemeinsame der 27. Und was die Stabilitätskultur betrifft: Da stehen wir voll und ganz auf Seiten Deutschlands. Solidarität kann nicht heißen, dass einige auf Kosten der anderen leben.

Frage: Ab Mitte des kommenden Jahres gilt die Arbeitnehmerfreizügkeit für polnische Arbeitnehmer auch in Deutschland. Gut oder schlecht für den deutschen Arbeitsmarkt?

W.: Das ist eine enorme Chance. Selbst viele mittelständische Unternehmer, die vor ein paar Jahren skeptisch waren, sehen das heute anders.

S.: Wir hatten unsererseits von sieben Jahren Angst, dass die Deutschen uns beim Erwerb von Grund und Boden geradezu überfallen und ebenfalls Übergangsfristen geschaffen. Auch diese Angst war unbegründet. Gleichzeitig gibt es bei uns jetzt Angst, dass nach der Öffnung des deutschen Marktes zu viele Fachkräfte nach Deutschland abwandern. Dabei hatte Polen früher immer kritisiert, dass Deutschland seinen Arbeitsmarkt so lange für uns sperrt. Sie sehen: Das ist ein Politikfeld voller Paradoxien...

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