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Interview: Bundesminister Westerwelle in der Welt am Sonntag zu europäischen Themen

01.11.2010 - Interview

Herr Außenminister, in Deutschland macht sich Europa-Frust breit. Die Bundesbürger sind es zunehmend leid, den Zahlmeister zu spielen. Steckt die EU in einer Identitätskrise?

Europa ist derzeit in schwerem Fahrwasser. Ich mache mir Sorgen, weil ich in vielen Staaten eine Tendenz zur Renationalisierung erkenne. Wir sollten aber nie vergessen: Die Europäische Union ist eine Wohlstandsversicherung in Zeiten der Globalisierung und sie ist eine Friedensunion.

Was verbinden Sie eigentlich ganz persönlich mit Europa? Reisen? Urlaub? Freundschaft?

Ich bin mit Europa groß geworden. Ich zähle zur ersten Generation, die frei reisen durfte. Und die Freundschaften mit jungen Menschen in Ländern schließen durfte, die im Krieg von uns Deutschen noch überfallen worden waren. Für mich ist Europa zuallererst ein Glücksfall der Geschichte. Europa ist meine Leidenschaft.

Die Europa-Euphorie, die es in den 50er-Jahren nach dem Krieg und in den 90er-Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab, ist dennoch einer gewissen Müdigkeit gewichen.

Wer Europa schützen will, muss die Regeln ändern. Dafür haben wir in diesen Wochen und Monaten auch in Europa verhandelt. Es kann keine Transfer- oder Haftungsunion geben, in der die deutschen Steuerzahler für die Schulden anderer geradestehen müssen.

Die Stimmung gegenüber den Deutschen war auf dem EU-Gipfel nicht gut. Gerade die kleineren Länder fühlen sich übergangen.

Ich habe in dem ersten Jahr meiner Amtszeit besonderen Wert darauf gelegt, nicht nur die Beziehungen zu den großen Staaten zu pflegen, sondern auch den kleinen und mittleren Staaten mit großem Respekt und fairer Partnerschaft zu begegnen.

Auch wenn es gelegentlich belächelt wurde: Es war eine gute Investition, im ersten Jahr der Amtszeit alle EU-Staaten zu besuchen.

Auf dem EU-Gipfel konnten Sie sich mit Ihren Forderungen nach einer strengeren Politik gegenüber Defizitsündern nur teilweise durchsetzen. Sie wollten einen Stimmrechtsentzug durchsetzen - das wurde auf die lange Bank geschoben.

Wir haben auf dem EU-Gipfel ein gutes Zwischenergebnis auf dem Weg zu wirksameren Sanktionen und der Einbeziehung privater Gläubiger erzielt. Ich freue mich sehr, dass die Kanzlerin die Linie, die wir nach Deauville im Kabinett zu möglichst automatisch wirkenden Sanktionen vereinbart haben, so erfolgreich in Brüssel vertreten konnte.

Bislang ist nie ein Defizitsünder mit Strafen belegt worden.

Sie bringen es auf den Punkt: 22-mal wurde ein Defizitverfahren eingeleitet. Noch nicht ein einziges Mal gab es Sanktionen. Obwohl spätestens im Frühjahr jeder gesehen hat, dass es Anlass genug dafür gegeben hätte.

Dementsprechend ist es nötig, ein Frühwarnsystem zu installieren und ein strengeres Defizitverfahren zu haben. Wir müssen aber auch Sanktionen beschließen, die weitestgehend der politischen Einflussnahme entzogen sind.

Glauben Sie, dass die Europäische Union reif dafür ist?

Ein reales Sanktionsverfahren gegen ein betroffenes Land kann nicht ohne Probleme vonstattengehen. Aber die Risiken, deswegen die Verschärfung der Sanktionsverfahren zu unterlassen, sind erheblich größer. Europa und der Euro standen im Frühjahr ziemlich nah am Abgrund. Und es zeigt sich, dass die Bundesregierung seinerzeit richtig entschieden hat. Sie hat sich nicht beirren lassen, als die Opposition rief, man müsse Griechenland mit Blankoschecks sofort helfen. Denn ohne die Auflagen würde es weder in Griechenland noch in vielen anderen europäischen Mitgliedstaaten heute diese entschiedenen Konsolidierungs- und Reformprogramme geben. Andererseits haben wir uns aber auch nicht beirren lassen von der Kritik, wir dürften gar nicht helfen. Denn eine der wichtigsten Hoheitsaufgaben einer Regierung ist es natürlich, die eigene Währung zu schützen.

Die Griechenland-Krise hat den ganzen Kontinent in Atem gehalten. Sind wir darüber hinweg?

Ich mag mir nicht ausmalen, wo wir heute wären, wenn wir im Frühjahr nicht den Euro vor dem Absturz geschützt hätten. Dann gäbe es heute nicht dieses herausragende Wirtschaftswachstum und die sinkende Arbeitslosigkeit. Wir wären erneut in tiefer Rezession. Das allein zeigt schon, wie unverantwortlich sich die Opposition verhalten hat, als sie im Frühjahr bei der Rettung Europas und des Euro nicht mitwirken wollte. Es ist ja das Recht der Opposition, die Regierung zu kritisieren. Aber gelegentlich ist es auch mein Recht, die Opposition zu kritisieren. In Sachen Europa hat diese Opposition zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre kläglich versagt. Denn die Aufweichung des Stabilitätspaktes, die von Rot-Grün 2004/2005 betrieben wurde, war ein historischer Fehler mit gravierenden Folgen.

Glauben Sie, dass die Europäer im Augenblick an politischem Einfluss in der Welt gewinnen oder verlieren?

Die politische Architektur der Welt wird gerade neu ausbalanciert. Das haben wir gerade beim IWF gesehen. Wir sehen es aber auch in Kopenhagen oder jetzt bei der Vorbereitung von Cancún in Sachen Klimaschutz. Auch bei der Diskussion um die Reform in den Vereinten Nationen spielt das eine Rolle. Kontinente wie Lateinamerika sind im Aufbruch, viele Staaten auf dem Sprung. Dort werden beeindruckende Erfolgsgeschichten geschrieben. Auch die Entwicklungen auf dem afrikanischen Kontinent zeigen eben nicht nur Krise und Not, sondern auch Aufbruch und Chance. Und die Entwicklung in Asien wird zu Unrecht auf die Entwicklung in China oder Indien reduziert. Zur neuen globalen Balance gehört für mich auch, dass wir ein so erfolgreiches Land wie die Türkei fair behandeln und nicht vor den Kopf stoßen.

Unternimmt man in Europa genug, um die eigene Modernitäts- und Innovationsfähigkeit zu stärken?

Gegen jede Regierung, die unbequeme, aber notwendige Entscheidungen trifft, wird protestiert. Gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Paris, gegen die Haushaltskürzungen in London. Und natürlich auch gegen das notwendige Sparpaket in Berlin. Dennoch ist es unsere Aufgabe, dass wir diesen Weg der inneren Reformfähigkeit Europas nicht verlassen. Denn wir dürfen nicht ein ältlicher Kontinent werden, der das Neue und den Aufbruch anderen Regionen der Welt überlässt. Es wäre für den Wohlstand auch in Deutschland sehr gefährlich, wenn sich unser Land zu einer Dagegen-Republik entwickeln würde. Wo nichts mehr geht, keine Straßen, keine Kraftwerke, keine Stromleitungen, keine Startbahnen und demnächst auch keine Bahnhöfe mehr geplant und gebaut werden können.

[...]

Fragen: Claus Christian Malzahn und Ulf Poschardt.

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