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Rede von Außenminister Guido Westerwelle vor dem Europarat

04.10.2010 - Rede

-- Es gilt das gesprochene Wort --

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Abgeordnete,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

vielen Dank für die Einladung nach Straßburg.

Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und ein Jahr nach Gründung des Europarats wurde die Bundesrepublik Deutschland vor 60 Jahren assoziiertes Mitglied im Europarat. Das erforderte den Mut zur Versöhnung und war ein Vertrauensvorschuss für den Neuanfang.

Im Grundgesetz gaben die Deutschen sich das Versprechen, dass die Bundesrepublik dem Frieden in der Welt verpflichtet ist und die Menschenwürde und die Grundrechte achtet. Als die Bundesrepublik vor 60 Jahren zu den Erstunterzeichnern der Europäischen Menschenrechtskonvention gehörte, gaben wir dieses Versprechen auch unseren europäischen Nachbarn.

Die Konvention ist das gegenseitige Versprechen der Völker Europas, für Freiheit und Menschenrechte einzutreten. Diesem Versprechen müssen wir uns alle auch in Zukunft immer wieder würdig erweisen.

Gestern feierten wir den 20sten Jahrestag der Deutschen Einheit. 1989 haben mutige Bürger der DDR ihre Sehnsucht nach Freiheit in Leipzig und anderswo auf die Straße getragen. Die friedliche Revolution gegen die Obrigkeit der DDR hat unser gesamtes Vaterland mit der Einheit verändert.

Aber die Wiedervereinigung verdanken wir vielen.

Der Mut der nach Freiheit drängenden Menschen im Osten Deutschlands, in Polen, in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in den baltischen Staaten steht am Anfang eines wirklich geeinten Europas.

Ich will Ihren Bürgerinnen und Bürgern, Ihren Regierungen und Ihren Abgeordneten danken für die Unterstützung, die Sie uns geschenkt haben.

Oft hört man vom „Fall der Mauer“. In Wahrheit wurde die Mauer von Ost nach West eingedrückt.

Freiheit wird selten geschenkt. Freiheit musste auch im Osten Deutschlands hart errungen werden.

In Europa hat ein Modell der Kooperation die jahrhundertelange Konfrontation ersetzt, die unseren Kontinent zerrissen hat.

Ich warne vor jedem Versuch der Renationalisierung von Politik. Das gilt für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und für die Mitglieder des Europarats. Der Versuch, sich der Kooperation zu entziehen, mag zuhause manchmal Beifall bringen, aber so werden wir unserer historischen Verantwortung für unsere Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht.

Menschenrechte sind unveräußerlich und gelten weltweit. Aber das reicht nicht. Wir müssen die Einhaltung der Menschenrechte jeden Tag aufs Neue einfordern.

Technischer Fortschritt und Innovation stellen uns immer wieder neue Aufgaben. Auch deswegen kann man den Einsatz für Menschenrechte niemals als abgeschlossen betrachten. Er bleibt zwangsläufig unfertig.

Die Veränderungen in der Kommunikation sind ein gutes Beispiel. Das deutsche Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention wurden in den Jahren 1949 und 1950 geschrieben.

Das Post- und Fernmeldegeheimnis schützte die damals üblichen Formen der Kommunikation. Dreißig Jahre später ging es nicht mehr nur um das Abhören von Telefonen, sondern um Rasterfahndung. Heute geht es um die Privatsphäre in Zeiten des Internets.

Heute muss der Bürger nicht mehr allein die Allmacht des Staates fürchten, sondern auch die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure, angefangen vom Kreditkartenbetrüger bis hin zu Terrorgruppen, die über das Internet über Kontinente hinweg ihre Anschläge planen.

Der Staat muss uns wirksam vor diesen Bedrohungen schützen, darf aber nicht über das Ziel hinausschießen und unsere Privatsphäre über Gebühr beeinträchtigen.

Das Menschenrechtssystem des Europarates hat auf unserem Kontinent ein Schutzniveau erreicht, das seinesgleichen sucht. Der Übergang von der staatlichen Gängelung zum freiheitlichen Rechtsstaat wurde vielfach möglich durch die Standards der Straßburger Institutionen. Entschlossene Menschenrechtspolitik ist Kern der werteorientierten und interessengeleiteten deutschen Außenpolitik weltweit. Zu den Mitgliedern des Europarates gehören Herkunftsländer, Durchgangsländer und Zielländer des Menschenhandels. Die Zahl der Opfer wächst weltweit. Der Europarat wird stärker, wenn er Ballast über Bord wirft und sich auf seine Stärken besinnt.

Das ist aber kein Grund zu Selbstzufriedenheit und keine Entschuldigung, es mit dem Menschenrechtsschutz nicht so genau zu nehmen.

Aus vielen Ländern Europas wenden sich Bürgerinnen und Bürger an den Straßburger Gerichtshof, weil sie sich in ihren Rechten verletzt fühlen.

Auch die Bundesregierung obsiegt nicht in jedem Verfahren in Straßburg.

Dennoch wäre es falsch zu sagen, Urteile würden gegen Deutschland gefällt oder Deutschland unterläge in Straßburg.

In Wahrheit gewinnen die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, wenn der Straßburger Gerichtshof den Menschenrechtsschutz weiter auslegt, als das Gerichte in Deutschland getan haben.

In vielen Ländern, die eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung durchlebten, musste die Justiz ihre neue Rolle als unabhängige Gewalt erst lernen.

Für uns gibt es zum Rechtsstaat und zum effektiven Rechtsschutz für den Einzelnen keine Alternative. Deswegen unterstützt Deutschland unsere Partner auf dem Weg zu mehr Rechtsstaatlickeit.

Unser Einsatz für Menschenrechte liegt in unserem ureigenen Interesse.

Mit Staaten, die die Menschenrechte achten, die Rechtsstaatlichkeit entwickeln, können wir politisch wie wirtschaftlich verlässlich zusammenarbeiten.

Interessen und Werte sind kein Gegensatz, sondern verantwortungsvolle Außenpolitik.

Der Gedanke des Unfertigen der Menschenrechte nimmt Europa nicht aus. Auch wenn wir weit gekommen sind, gilt auch für Europa der Gedanke des Unfertigen.

Nehmen wir als Beispiel die Todesstrafe.

Mit Ausnahme Weißrusslands ist die Todesstrafe in Europa weitestgehend geächtet. Die Todesstrafe hat in einer modernen europäischen Rechtskultur keinen Platz. Jede Unterschrift oder Ratifikation des 13. Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention stärkt unsere gemeinsame Haltung gegen die Todesstrafe.

Nehmen wir als Beispiel den Menschenhandel.

Deutschland und die Philippinen werben im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gemeinsam für die Stärkung des Opferschutzes und für die Ächtung von Menschenhandel.

Kinderrechte, besonders die Rechte von Kindern in bewaffneten Konflikten, Religionsfreiheit und das Recht auf sexuelle Identität und Orientierung sind weitere Schwerpunkte unserer Menschenrechtspolitik.

Ich begrüße sehr, dass Sie sich hier in der Parlamentarischen Versammlung diese Woche mit der Gruppe der Roma befassen. Diese Debatte mag dem einen oder anderen lästig erscheinen, sie ist dennoch notwendig.

Auch die Europäische Kommission hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts zu überwachen.

Bei dieser Frage geht es nicht darum, irgendjemanden an den Pranger zu stellen.

Die Rückschau mit einer rein formaljuristischen Prüfung des bereits Geschehenen mag wichtig sein. Viel wichtiger ist aber, was vor uns liegt. Wir müssen den Roma eine Zukunft geben.

Viel zu lange standen die Kinder außerhalb des Schulsystems. Auch für Roma ist Bildung der Schlüssel zur Integration und zu einem selbstbestimmten Leben. Nur wenn auch diese Kinder in die Schule gehen können, werden sie in der Gesellschaft ankommen. Hier sind alle in der Pflicht.

Hier ist der Staat gefragt, Angebote zur Integration zu machen. Hier sind aber auch die Eltern gefragt, diese Angebote zum Wohle ihrer Kinder anzunehmen.

Die internationale Menschenrechtsdebatte hat sich seit Gründung des Europarates weiter entwickelt.

In den Vereinten Nationen stehen weniger die klassischen bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte und mehr diewirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Vordergrund.

Auch Europa kann zu der Debatte viel beitragen und muss sich diesen neuen Herausforderungen stellen. Unsere Entwicklungspolitik und unsere Außenpolitik stehen gemeinsam in der Pflicht.

Für uns sind bürgerliche und politische Rechte kein Gegensatz zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Deutschland hat sich gemeinsam mit Spanien für die Anerkennung des Rechts auf Wasser eingesetzt. Ich freue mich sehr, dass wir im Juli dieses Jahres in der Generalversammlung und letzte Woche im Menschenrechtsrat erfolgreich waren.

Es ist aber wichtig, soziale und wirtschaftliche Grundrechte auf Güter zu beschränken, die für den Menschen unverzichtbar sind.

Wer jede vielleicht wünschenswerte soziale Leistung zu einem Menschenrecht erklärt, läuft Gefahr, den Begriff des Menschenrechts zu entwerten.

Der Europarat ist umso stärker, je mehr starke Partner sich dem Menschenrechtssystem anschließen.

Der Vertrag von Lissabon sieht den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention vor.

Das ist kein Misstrauen gegen die Kommission, den Rat oder den Europäischen Gerichtshof, sondern das Vertrauen darin, dass von einem einheitlichen Menschenrechtsstandard alle Bürgerinnen und Bürger in Europa profitieren.

Wenn bislang ein Bürger eines Europarats-Mitglieds sich gegen einen staatlichen Rechtsakt wehren wollte, endete sein Weg im Zweifelsfall beim Menschenrechtsgerichtshof hier in Straßburg.

Das galt aber nicht, wenn der Rechtsakt aus Brüssel stammte.

Die Europäische Union war gegenüber den Mitgliedern des Europarats insofern privilegiert, obwohl alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auch Mitglieder des Europarats sind. Das ist aus der geschichtlichen Entwicklung erklärbar, aber es ist auch überholt.

Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention stärkt die Legitimität der Europäischen Union und zugleich den Menschenrechtsgerichtshof hier in Straßburg.

Mehr Partner bedeutet aber oft auch mehr Beschwerden vor dem Menschenrechts-Gerichtshof.

Lange drohte der Gerichtshof, an seinem großen Erfolg zu scheitern und in der Flut von Klagen zu versinken. Ich bin zuversichtlich, dass nach der Verfahrensänderung im Juni dieses Jahres die Verfahrensflut kanalisiert und die große Zahl von Anträgen handhabbarer wird.

Wir wollen doch nicht eines Tages unseren Bürgerinnen und Bürgern erklären müssen, dass ein Staat verurteilt wurde, weil ein innerstaatliches Gerichtsverfahren zu lange dauerte, das der Gerichtshof in Straßburg für dieses Urteil aber ebenso lang brauchte wie das Gericht selbst.

Ich stimme mit Generalsekretär Thorbjørn Jagland überein, dass der Europarat seine Aufgaben überdenken muss.

Der Schutz vor Menschenrechtsverletzungen ist Erkennungsmerkmal und Markenzeichen des Europarats, und vor allem dort liegt seine Zukunft.

Die Versuchung ist groß, als Organisation zu wachsen und immer neue Themen zu besetzen. Aber wir müssen dieser Versuchung widerstehen.

Auch im zwischenstaatlichen Verkehr müssen wir das Geld, das die Bürgerinnen und Bürger erwirtschaftet haben, verantwortungsbewusst einsetzen.

Immer größer zu werden und immer mehr zu tun, macht eine internationale Organisation nicht immer stärker. Wenn Organisationen ihr Profil verwischen, schwächen sich sich meistens selbst.

Wir brauchen aber einen starken Europarat, damit wir starke Menschenrechte in Europa behalten.

Deutschland wird bei dem Einsatz für die Menschenrechte ein starker und verlässlicher Partner sein. Für die Bundesregierung sind Menschenrechte ein klarer Kompass unserer Politik.

In der Menschenrechtspolitik erzielt man manchmal die besten Ergebnisse, wenn man außerhalb des Scheinwerferlichts Überzeugungsarbeit leistet.

Stille Diplomatie kann hier viel bewirken.

Manchmal hilft aber der Gang in die Öffentlichkeit, um den Verletzten Mut zu geben und zu zeigen, dass sie nicht allein sind und wir sie nicht vergessen werden.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir über Menschenrechte immer wieder öffentlich sprechen und sie so im Bewusstsein halten.

Deswegen war es mir ein Bedürfnis, heute zu Ihnen nach Straßburg zu kommen und aus Anlass des deutschen Beitritts zum Europarat zu Ihnen zu sprechen.

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