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Das Himmelschreiende herausschreiben - Rede des Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Günter Nooke
Liebe Freya Klier,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
„Russland und das freie Wort“ - ich glaube, ich kann niemanden hier mit der Erkenntnis überraschen, dass das freie Wort im heutigen Russland in Gefahr ist:
Die russischen Medien unterliegen starker staatlicher Kontrolle und Einschüchterung. In der neusten Rangliste der Pressefreiheit der NGO Reporter ohne Grenzen belegt Russland Rang 153 unter 175 Ländern.
Es kommt verbreitet zu repressiven Maßnahmen gegen und Einschüchterungen von Journalisten. Und leider nimmt auch die physische Gewalt gegen Journalisten zu. Allein im letzten halben Jahr waren zwei Todesfälle zu beklagen: Am 11. August wurde der dagestanische Journalist Malik Achmedilow erschossen, am 29. Juni starb der zuvor bei einem Überfall schwer verletzte Journalist Jaroslaw Jaroschenko aus Rostow-am-Don.
Präsident Medwedew hat mehrfach betont, dass die Pressefreiheit in Russland vor der Willkür des administrativen Apparats geschützt werden müsse. In seiner Rede vom Donnerstag dieser Woche hat er deutlicher als je zuvor auf die Missstände hingewiesen.
Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die Bedrohung des freien Wortes gegenüber der russischen Regierung immer wieder als das anzusprechen, was sie ist: eine Bedrohung unserer bilateralen Beziehungen. Sie ist – wir sind in der Pflicht, Präsident Medwedjew an seinen eigenen, freilich sehr mutigen Worten zu messen. Worten müssen Taten folgen!
Winston Churchill hat einmal gesagt: „Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.“ Und so möchte ich heute – am Tag des inhaftierten Schriftstellers – einen Blick zurück wagen, um das tun zu können, was gute Politik leisten muss: nach vorne blicken.
Russland hat eine große Tradition darin, mit Literatur nicht nur Gesellschaft zu beschreiben, sondern auch zu formen, jedenfalls die Missstände so deutlich aufzuzeigen, dass man Himmelschreiendes gewissermaßen herausschreibt. Was heute vielfach Journalisten tun, ihr Leben zu gefährden, um der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, das haben in Russland über lange Zeit Schriftsteller übernommen.
Als deutlichstes Beispiel sticht aus der jüngeren Vergangenheit wohl Alexander Solschenizyn hervor, der mit seiner Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ auch einen bedeutenden Beitrag zur zaghaften Aufarbeitung der Stalinjahre unter Chruschtschow geleistet hat. „Archipel Gulag“ hat gerade auch im Ausland dazu beigetragen, ein klareres Bild der Sowjetunion unter Stalin zu zeichnen: als Terrorregime, das dem Einzelnen die menschenwürdige Existenz beinahe alltäglich unmöglich machte.
Wenn wir weiter in der Geschichte zurückblicken, fallen einem Fjodor Dostojewski, aber sicher auch Nikolaj Gogol und viele andere ein, die sich immer wieder mit den gesellschaftlichen Zuständen im Russland ihrer jeweiligen Zeit beschäftigt haben. Und – man kann angesichts der russischen Geschichte wohl in vielen dieser Fälle sagen – die Himmelschreiendes herausgeschrieben haben.
Sie alle eint daneben, dass der Konflikt mit den jeweils Herrschenden und die Bekanntschaft mit Gefängnissen, Lagern und Verbannung nicht nur Folge, sondern oft eben auch eine Inspiration für ihre Arbeit gewesen ist, auf die sie alle sicher gerne verzichtet hätten.
Das freie Wort wurde in Russland auch von anderen Intellektuellen, Denkern und Forschern, vertreten. Ich denke dabei auch und vor allem an Andrej Sacharow, der als Physiker die Grenzen seines Fachbereiches überschritten hat und im Kampf für Menschen- und Bürgerrechte Maßstäbe gesetzt hat.
Ich habe in den 1980er Jahren in der physikalischen Abteilung der Uni-Bibliothek in Leipzig eine Aussage von Sacharow gefunden, die mich damals und bis heute tief beeindruckt: Darin warf er Solschenizyn vor, die Zustände ein der Sowjetunion zu beschönigen.
Und es ist von daher eine wichtige Geste gerade auch in Richtung aller politisch engagierten Menschen in Russland gewesen, dass der Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments in diesem Jahr an Memorial, an Oleg Orlow, Sergej Kowaljow und Ljudmilla Alexejewa gegangen ist – eine Geste für Russlands Zukunft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich auf Churchill zurückkommend den Blick nach vorne werfen:
bei aller Verpflichtung für uns, Russland an seine Versprechen zu erinnern, Menschenrechte einzufordern und auf Missstände aufmerksam zu machen. Das Schicksal Russlands liegt zuerst in den Händen seiner Menschen. Nach meiner Überzeugung können und müssen die Intellektuellen, die Schriftsteller und Forscher dabei eine wichtige Funktion einnehmen. Das sollte nicht aus Gründen der Tradition geschehen, aber: die Tradition wirkt fort.
Der Blick zurück macht eben auch das Vorausschauen möglich, die Gestaltung der Zukunft. Tradition ist eben nie nur rückwärtsgewandt, sondern kann auch einen Handlungsrahmen bieten. Im Falle Russlands ist sie nach meiner festen Überzeugung auch eine gute Grundlage für Hoffnung. Hoffnung darauf, dass Russlands Intellektuelle ihre Entmündigung nicht hinnehmen werden. Dass sie sich politisch wirksam in die Geschicke ihres Landes einmischen.
Das kann und darf eben nicht nur den Journalisten überlassen werden. Eine Gesellschaft braucht mehr Reflexion, als dies in den tagesaktuellen Medien möglich ist. Dabei und dafür braucht Russland, brauchen wir seine Schriftsteller. Sie müssen Visionen entwickeln und jenen mutigen Journalisten beistehen, wenn es wieder und wieder darum geht, das Himmelschreiende herauszuschreiben. Und wir müssen sie dazu bei jeder möglichen Gelegenheit ermutigen.
Ich bin dankbar dafür, dass ich die Gelegenheit habe, heute Abend mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen und dabei auch deutlich zu machen, dass es der Bundesregierung ein wichtiges Anliegen ist, zu ermutigen und Ansprechpartner zu sein. Auch wenn wir natürlich auf der anderen Seite mit den „Mächtigen“ an einem Tisch sitzen.