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„Eine neue Entspannungspolitik“ - Rede des Bundesaußenministers anlässlich der Buchvorstellung „Sozialdemokratische Außenpolitik“
(Willy-Brandt-Haus in Berlin)
-Es gilt das gesprochene Wort-
Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Frieden unter veränderten Bedingungen immer wieder zu erkämpfen, das ist nicht nur das politische Vermächtnis Willy Brandts, das ist seit 140 Jahren historische Aufgabe und Selbstverpflichtung sozialdemokratischer Außenpolitik. Mehr denn je wird uns in diesen Tagen bewusst, dass alte Antworten auf neue Fragen nicht genügen, dass das Ende des Kalten Krieges und das Ende der Blockbildung nicht von selbst ein neues Zeitalter weltweiten Friedens einleiten. Im Gegenteil: Die ersehnte Auflösung alter, starrer Frontbildungen hat ungeahnte neue Risiken in vielen Regionen der Welt geboren, oder besser: dominant werden lassen. Das gilt mit Blick auf den Balkan ebenso wie auf den Nahen und Mittleren Osten, wo die Auseinandersetzung zwischen der islamischen Welt und dem Westen zu einer jederzeit und von allen Seiten instrumentalisierbaren Grundkonstante zu werden scheint, ohne dass die klassischen internationalen Koalitionen (UNO-Sicherheitsrat, USA und Russland) mit der Autorität des Konfliktschlichters oder –regulierers gehört und akzeptiert werden. Wo die langen Schatten des Eisernen Vorhangs mehr und mehr von neuen Konflikten überlagert werden, versagen immer mehr gewohnte Erklärungsmuster und Rezepte für Streitbeilegung und Schaffung friedlicher Formen des Zusammenlebens.
Ich finde nur: Das ist kein Anlass für Rückzug und Verzagtheit. Im Gegenteil: Jetzt gilt es, die positiven Erfahrungen friedenssichernder Außenpolitik der 70er und 80er Jahre zusammen zu denken mit den neuen Ursachen für Krisen und Instabilität in unseren Tagen und in denen unserer Kinder. Ich komme darauf zurück!
Die Debatte, die wir heute führen, findet nicht im luftleeren Raum statt. Die Bundesregierung hat im Jahr 2007 die Präsidentschaft der G8 und der EU inne. Keine Angst: Ich will hier keine weitere Bilanz ziehen!
Aber vielleicht hat gerade die Agenda beider Präsidentschaften den Menschen in Deutschland so deutlich wie selten ins Bewusstsein gerückt, dass wir in einer neuen Zeit leben. Der G8-Gipfel in Heiligendamm, aber auch viele EU-Gipfel mit anderen Ländern und Regionalorganisationen waren für Menschen in den vergangenen Wochen sozusagen „Globalisierung zum Anfassen“.
Selten war es so dicht erlebbar, dass die zentralen Wesenszüge der Globalisierung weltweite Vernetzung und wachsende Abhängigkeit sind. Und diese Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit betrifft nicht nur die Wirtschafts- und Kapitalmärkte. In unserer Zeit gibt es keine entlegenen Weltregionen und Konflikte mehr.
Die Menschen spüren, wie die klassischen Trennlinien von Außen- und Innenpolitik verschwimmen. Das ist nicht nur schlecht. Denn das zeigt, dass die Politik auf dem Weg zur Weltinnenpolitik vorankommen muss. Die Einsicht wächst, dass die Menschheit im 21. Jahrhundert tatsächlich zum ersten Mal in einem Boot sitzt, und dass wir unsere zentralen Probleme nur noch gemeinsam lösen können.
Jeder weiß: Die Globalisierung ist zwiegesichtig. Sie birgt nie gekannte Chancen, aber auch nie gekannte Risiken. Entgegen unserer Selbstwahrnehmung werden wir vermutlich nicht zu den Verlierern gehören.
Zwei seriöse Zahlen belegen die Perspektiven, die vor uns liegen. Die erste: Zur Zeit leben rund 1,5 Milliarden Menschen auf der Welt in industrialisierten Gesellschaften. Im Jahr 2030 werden es aber voraussichtlich vier Milliarden Menschen sein. Und weil dies so sein wird, wird sich zweitens der Umfang des Welthandels in der kommenden Generation gegenüber dem Stand von heute noch einmal verdoppeln.
In den Alltag der Menschen übersetzt bedeuten diese Zahlen: Deutschland hat mit seiner exportorientieren Wirtschaft sehr gute Aussichten, seinen Wohlstand zu erhalten und dauerhaftes Wirtschaftswachstum zu schaffen. Das gilt ebenso für die Europäische Union. Mit Blick auf Deutschland sage ich: Wir haben sogar gute Chancen, in absehbarer Zeit wieder Vollbeschäftigung zu erreichen, wenn es uns gelingt, innovative Produkte zu fördern und unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut zu qualifizieren.
Entscheidender ist: Die Globalisierung sorgt auch für einen Wachstumsschub in Regionen, in denen es für die Menschen bislang kaum einen Weg gab, dem Teufelskreis aus Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen. Die weltweite Arbeitsteilung versetzt Millionen Menschen zum ersten Mal in die Lage, für sich und ihre Familien einen Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten. Darum erleben wir in so vielen Ländern der Welt, und ich meine beileibe nicht nur China und Indien, eine Aufbruchstimmung, die uns Europäern oft den Atem verschlägt. Ich erlebe bei meinen Reisen solche Boom-Regionen auch dort, wo wir sie ohne näheres Hinsehen nicht vermuten: Kasachstan und Vietnam, Mexiko und Brasilien, Argentinien und Chile, aber auch Nordafrika – Marokko, Algerien und – weil ich zur Zeit viel mit dem Land zu tun habe - Libyen. Vielen von uns fällt beim libyschen Staatschef Gaddafi noch immer vor allem dessen Verantwortung für den Terroranschlag in Lockerbie ein. Aber nicht nur ist Gaddafi inzwischen wieder in die Gemeinschaft der Völker zurückgekehrt – er stattet gerade jedes Schulkind in Libyen mit einem Laptop aus, die dritte und letzte Lieferung kommt nächstes Jahr.
Die Globalisierung erfasst die Welt in einer Geschwindigkeit, bei der wir genau hinschauen müssen, um die Chancen, die daraus erwachsen, nicht zu verpassen.
Leider sind die beschriebenen Chancen der Globalisierung nicht annähernd die ganze Wahrheit. Im selben Maße, wie die Welt zusammenwächst, - und damit komme ich zu den Risiken - wird sie auch verwundbarer. Eine Wirtschaftskrise in den USA oder in Asien kann die günstige Entwicklung nicht nur stoppen, sondern ins Gegenteil verkehren und die Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. Eine Finanzkrise, ausgelöst durch leichtsinnige Hedge-Fonds, kann zu globalen wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen führen.
Und Sie alle wissen es: Noch gefährlicher sind die ökologischen Folgen der globalen Industriegesellschaft, die gerade entsteht. Wenn vier Milliarden Menschen so leben wollen wie wir in den westlichen Industrieländern, dann überfordert das die ökologischen Möglichkeiten der Erde. Und das bedeutet nicht nur wärmere Winter und Sommersonne bei uns – das ließe sich ja manchmal noch aushalten -, sondern Wüstenbildung, Wasserknappheit und Naturkatastrophen, oder noch konkreter: Hungersnöte, Überschwemmungen und Vertreibung.
Auf die Propheten, die der Welt angesichts der ökologischen Folgen des Konsums Verzicht predigen, können wir dabei nur in Grenzen bauen. Diesen Ansatz halte ich, mit Verlaub, für wenig realistisch. Wir Europäer können den Menschen in China und Indien nicht das Recht auf einen Kühlschrank verweigern, wenn wir für uns das Recht auf beheizte Hallenbäder für selbstverständlich halten. Wir brauchen also – in einem Wettlauf mit der Zeit – Produkte, die den Ausstoß von klimaschädlichen Gasen drastisch verringern. Neue Energien und neue Formen der Energieerzeugung! Und vor allem brauchen wir die Einsicht der Regierungen und Menschen, dass alle ihren Beitrag leisten müssen, wenn wir die Armut überwinden wollen, ohne die ökologischen Grenzen unserer Erde dabei zu überschreiten.
Wir brauchen ein globales Verantwortungsbewusstsein für unsere gemeinsame Zukunft! Ein Bewusstsein, das auf der Einsicht gründet, dass erfolgreiche Politik nicht immer darin besteht, den maximalen nationalen Vorteil herauszuschlagen, sondern darin, die gemeinsamen Menschheitsfragen strategisch im Blick behalten.
Der Weg dahin ist mühsam, aber alternativlos. Und vor allem nicht ohne Aussicht auf Erfolg! Die Bereitschaft der Staaten, sich in regionalen und multilateralen Organisationen zusammen zu schließen, wächst. Auch die Zahl internationaler Abkommen steigt und steigt – zwar zu gering bei der Abrüstung, aber um so mehr beim Gesundheitsschutz, in der Forschung und in vielen anderen Bereichen. Selbst globale Finanzinvestoren, denen wir beim Geldvermehren für gewöhnlich wenig Skrupel unterstellen, beginnen zaghaft darüber nachzudenken, dass Globalisierung verlässliche Rahmenbedingungen braucht, weil Reichtum sonst binnen Wochen wie ein Kartenhaus zusammenfallen kann.
Der Rückgriff auf Vorbilder steht kaum zur Verfügung, aber: Auf der politischen Ebene ist die EU für viele Regionen ein durchaus wirkungsmächtiges Modell. Ich erlebe immer wieder, wie genau und mit viel Respekt und Bewunderung die Menschen und Regierungen in Lateinamerika, Asien und Afrika auf das schauen, was uns in den vergangenen 50 Jahren mit der europäischen Einigung gelungen ist. Dabei zählt nicht unser Gezänk in langen EU-Gipfelnächten, sondern das erfolgreiche Prinzip: Dass wir es geschafft haben, mit den Prinzipien von Dialog, Zusammenarbeit und mit der Definition gemeinsamer Interessen Stück für Stück tiefe Gegensätze oder sogar Feindschaft in Partnerschaft und Freundschaft zu verwandeln.
Und damit komme ich zu der entscheidenden Frage, die die Richtung für unsere Außenpolitik der Zukunft angibt. Reagieren wir auf die unbestreitbaren Konflikte und Gefahren, die wir alle erkennen, mit Abschottung und Abgrenzung? Wollen wir die Welt einteilen in Gut und Böse? Oder suchen wir die Verständigung auf dem Weg von Gespräch und Zusammenarbeit?
Ich glaube, für uns Sozialdemokraten ergibt sich die Antwort von selbst. Wir sind stolz auf die Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr, die entscheidend dazu beigetragen hat, die Einigung Europas voranzubringen und die Freiheit für die Menschen in Osteuropa zu erringen. Auch Walter Scheel und sein Nachfolger im Amt des Außenministers stehen in gleicher Weise für diese Politik. Ich freue mich, heute hier Hans-Dietrich Genscher begrüßen zu können. Sie haben mit Ihrem unermüdlichen Einsatz in der KSZE und mit Ihrem beständigen vertrauensvollen Dialog mit Washington und Moskau ein historisches Verdienst, das wir gerade zu Ihrem 80. Geburtstag noch einmal gemessen würdigen durften. An all das gilt es zu erinnern. Im Jahr 2009 begehen wir den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Und wir müssen dafür sorgen, dass die erfolgreiche Politik der Entspannung, die dazu ganz wesentlich geführt hat, nicht nur nicht in Vergessenheit gerät, sondern aktiv gewürdigt wird.
Wenn die SPD jetzt in ihrem Leitantrag für den Parteitag im Oktober die Grundzüge einer „neuen Entspannungspolitik“ skizziert, dann gründet sie auf die Erfahrungen und Prinzipien dieser Zeit. Aber zugleich schafft sie etwas Neues, weil sie die Probleme der Zukunft in den Blick nimmt. Die neue Entspannungspolitik, die wir betreiben, will die Denkmuster des Kalten Krieges, die unsere Politik bis heute erschweren, überwinden. Wir wollen Entspannungspolitik für das Zeitalter der Globalisierung definieren. Und das ist ein hoher Anspruch, der uns Arbeit abverlangen wird – und mehr noch die Bereitschaft, Gewohntes ohne alte Reflexe noch einmal zu überdenken.
Mit Blick auf die USA bedeutet das: Wir müssen die transatlantische Partnerschaft auf eine neue Grundlage stellen. Die transatlantischen Beziehungen bestehen aus mehr als dem kollektiven Verteidungsbündnis, der NATO. Wir wissen, dass sich die meisten Konflikte nicht militärisch lösen lassen, sondern in erster Linie durch politische Verständigung, Zusammenarbeit und konkreten Lebensperspektiven für die Menschen. Darum wollen wir eine gemeinsame transatlantische Führungsrolle beim Klimaschutz, bei innovativen Technologien und bei Regeln für eine faire Weltordnung. Und wir wollen einen intensiveren kulturellen Austausch und eine Wertedebatte mit den USA auch über Fragen, in denen wir unterschiedlicher Meinung sind wie bei der Todesstrafe oder der Behandlung von Gefangenen in Guantanamo.
Die neue Entspannungspolitik verlangt auch einen neuen Blick auf Russland, gerade auch dann, wenn gute deutsch-russische Beziehungen kein Selbstläufer sind. Russland ist für uns strategischer Partner für eine gesamteuropäische Friedensordnung, auch für eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Das schließt gelegentlich das offenen Wort oder Streit nicht aus! Davon profitieren die Menschen in Deutschland, Europa und Russland gleichermaßen. Ohne eine enge Zusammenarbeit zwischen den USA, Europa und Russland sind die wichtigen Zukunftsprobleme – vom Klimaschutz bis zur Energiesicherheit – nicht zu lösen. Auch bei einer Friedenslösung für den Nahen und Mittleren Osten und bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus brauchen wir Russland als Partner.
Und wir wollen Abrüstung und Rüstungskontrolle auf der internationalen Tagesordnung wieder nach oben holen. Immer mehr Staaten sind technisch in der Lage, sich Massenvernichtungswaffen zu beschaffen. Das birgt die Gefahr neuer Rüstungswettläufe, die wir mit aller Kraft verhindern wollen, auch deshalb mein offenes Wort zur „missile defense“! Darüber hinaus haben wir aber auch konkrete Initiativen und Vorschläge zur Weiterentwicklung des atomaren Nichtverbreitungsvertrags und zum Verbot von Kleinwaffen vorgelegt.
Bei alledem sollten wir aber auch unsere Kräfte richtig einschätzen. Weder an der Weltmacht SPD noch am deutschen Außenminister noch an einer deutschen Kanzlerin wird das Wesen der Welt genesen. Und selbst im Rahmen der Europäischen Union ist unsere Stimme im globalen Konzert nur eine unter vielen. Europa stellt heute nur noch rund zehn Prozent der Erdbevölkerung. Neue Mächte, und damit meine ich nicht nur China und Indien, sondern viele rohstoffreiche Länder, drängen selbstbewusst auf die Weltbühne und verlangen eine wichtigere Rolle. Europäische Werte und Vorstellungen sind nicht mehr ganz von selbst – und das gilt es zu begreifen – in anderen Teilen der Welt so durchzusetzen, wie dies in manchen Phasen der Vergangenheit möglich war.
Europa wird intensiv werben müssen für seine Werte und Vorstellungen –selbstbewusster, aber widerspruchsfreier als wir es tun. Wir müssen stärker hinaus in die Welt, unsere Sichtweisen und unsere Kultur vermitteln und präsentieren, dabei weniger vertrauen auf die Überzeugungskraft unseres wirtschaftlichen Erfolgs. Den werden in Zukunft viele haben! Aber schon darauf, dass wirtschaftlicher Erfolg kein Selbstzweck ist, sondern Chancen für gesellschaftliche Gestaltung mehrt. Und darum kämpfe ich so entschieden dafür, dass wir die auswärtige Kulturpolitik als dritte Säule unserer Außenpolitik wieder nicht nur ernst nehmen, sondern auch mit den notwendigen finanziellen Mitteln ausstatten.
Es könnte sein, dass das gelingt. Aber auch das ist erst ein weiterer Schritt auf einem arbeitsreichen Weg, der vor uns liegt. Dieses Buch ist ein Angebot und eine Bitte um eine breitere außenpolitische Debatte. Eine Debatte auch über den Standort unseres Landes fast 20 Jahre nach der Einheit!
Herzlichen Dank!