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Rede von Bundesaußenminister Steinmeier anlässlich des 49. Jahrestreffens des Tönissteiner Kreises
-- Es gilt das gesprochene Wort! --
Exzellenz,
sehr geehrte Damen und Herren des Tönissteiner Kreises,
wer einmal den Blick über die Skyline eines der asiatischen Zentren hat schweifen lassen, der kehrt verändert nach Deutschland zurück. Und damit meine ich nicht so sehr die beeindruckende Modernität vieler ostasiatischer Länder oder die nicht minder beeindruckende Übergangssituation am westlichen asiatischen Ende der Seidenstrasse. Sondern damit meine ich vielmehr den großen Blick, das „bigger picture“, zu dem uns Asien anleiten kann.
Asien ist der Teil der Welt, von dem aktuell die dramatischsten und auf der Zeitachse nachhaltigsten Veränderungen unserer Lebenswirklichkeit ausgehen - und die sogar unser Bild von uns in Frage stellen können. Mit Staunen verfolgt die Welt das nachhaltig hohe Wachstum der asiatischen Volkswirtschaften. Hält dieser Trend an, so werden noch in dieser Generation drei der fünf größten Wirtschaftsnationen in Asien beheimatet sein: Japan, China und Indien. Auch kleinere Staaten Asiens entwickeln hohe wirtschaftliche Dynamik. Handel und Investitionen zwischen asiatischen Partnern haben die frühere einseitige Orientierung auf westliche Märkte bereits abgelöst.
Geradezu als logische Folge verlagert sich das Gravitationszentrum der weltwirtschaftlichen Entwicklung mehr und mehr auf die Länder des asiatisch-pazifischen Raums.
Asien hat aber auch politisch deutlich an Einfluss gewonnen. Es bestimmt Themen und Entwicklungen auf der internationalen Bühne selbstbewusst mit. Es engagiert sich in Regionen, in denen es früher nicht oder nur sehr schwach präsent war. Und, das haben wir erst unlängst beim ASEAN-Gipfel gesehen: Asien wächst politisch langsam, aber doch spürbar näher zusammen.
Zugleich wirken Entwicklungen in Asien im Kontext der Globalisierung unmittelbar auf uns. Wirtschaftlich und politisch. Damit meine ich nicht die von manchen in Deutschland vertretene Anti-Globalisierungshysterie eines norddeutschen Nachrichtenmagazins. Im Gegenteil: damit meine ich den geschärften Blick auf die Zusammenhänge von wirtschaftlichem Wachstum, von fairem Wettbewerb und von arbeitsmarkt-, standort- und sozialpolitischen Implikationen. Ich selbst bin überzeugt: Europa und Asien können aus einer tieferen wirtschaftlichen Vernetzung auch politisch gemeinsame Vorteile ziehen. Entscheidend ist, wie wir diese mit dem Schlagwort der Globalisierung nur unzureichend beschriebene Vernetzung gestalten.
Erlauben sie mir, die wichtigsten politischen Aufgaben, die sich in diesem Zusammenhang stellen, im Folgenden in fünf Thesen zu beschreiben.
Erstens: Wir müssen die europäische Politik in Asien stärken. Asien wartet nicht auf Deutschland und Europa. Wenn es unser Interesse ist, Entwicklungen in dieser Region zu beeinflussen - und ich habe daran keinen Zweifel - dann müssen wir auf Asien zugehen.
Mit seiner bilateralen Politik ist Deutschland in Asien recht gut aufgestellt. Aber: nur in einer sinnvollen Verbindung zwischen bilateralen Beziehungen und gemeinsamem europäischen Handeln schöpfen wir das ganze Potential für eine engagiertere und sichtbarere europäische Politik in Asien aus.
Europa war lange, vielleicht sogar zu lange kein exponierter politischer Partner Asiens. Dies galt und gilt besonders für Fragen der Sicherheit und Stabilität. Sehen wir von den kolonialen Verbindungen ab, so war die Zahl der politischen Schnittmengen zwischen Europa und Asien bis zum Ende des letzten Jahrhunderts eher klein. Noch heute wird die politische Bedeutung und Handlungsfähigkeit Europas in Asien eher unterschätzt.
Wir haben begonnen, an den erkannten Defiziten zu arbeiten und sie zu beseitigen. Ich will an dieser Stelle nur die jüngst erfolgte Aufnahme von Verhandlungen zu Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit einer Reihe von asiatischen Staaten nennen, die Überlegungen für neue Handelsabkommen, die Aufnahme strategischer und energiepolitischer Dialoge und die Mitarbeit in asiatischen Organisationen, beziehungsweise die Vertiefung vertraglicher Bindungen wie mit der ASEAN-Gemeinschaft. Handelsabkommen haben dabei eine bedeutende politisch symbolische Dimension. In ihnen manifestiert sich neben den Handelsaspekten auch das politische Interesse.
Europa war bislang der einzige wichtige Akteur mit Interessen in Asien, der diesen Weg nicht gegangen ist. Mit guten Gründen, denn eine WTO-Einigung war und ist unsere oberste Priorität. Wir hoffen weiter auf diese Einigung, wir gehen aber zugleich pragmatischer mit der Frage bilateraler Abkommen um, wo sie sinnvoll sind. Und das ist - weiß Gott - nicht überall so. Dies gibt uns in Asien neue Möglichkeiten. Schon heute ist zu spüren, mit welch hohem Interesse unsere asiatischen Partner auf das Angebot der EU eingehen. Wir etablieren uns auf diese Weise als natürlicher Partner Asiens in der Bandbreite aller relevanten politischen und wirtschaftlichen Themen.
Meine erste These ist also, dass wir durch eine europäische Dimension unserer Beziehungen zu Asien politisch und wirtschaftlich handlungsfähiger werden müssen.
Zweitens, und damit komme ich auf meinen Eingangssatz zurück „size matters“. Vielleicht hat der eine oder andere unter Ihnen ja in seiner Jugend auch mit Autoquartettkarten gespielt. Damals ging es immer um die Frage, wer hat mehr Hubraum, wer hat mehr PS? Kinder, die heute mit Länderquartettkarten spielen würden, würden wahrscheinlich die europäischen Karten gleich wegwerfen oder eintauschen gegen asiatische Karten. Ganz besonders die chinesische: die größten Währungsreserven der Welt, die höchste Steinkohleförderung der Welt, die größte Rohstahlproduktion der Welt. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie gilt aber auch für die Schattenseiten des Wachstums. Für die Umweltbilanz und den Energiehunger. Schon heute liegt der Energieverbrauch Chinas zweimal so hoch wie der der zweitgrößten Industrienation der Erde - Japan.
Die Hälfte der Energienachfrage in Asien wird dabei durch Verkehrsentwicklung erzeugt. Die gesundheitlichen und Infrastrukturfolgen für die Megastädte Asiens sind leicht auszurechnen. Bedenken wir, dass der Pro-Kopf-Verbrauch bei fast allen wachstumsrelevanten Eckwerten in Asien nur ein Siebtel oder Zehntel der westlichen beträgt, dann wissen wir, womit in der Zukunft zu rechnen sein wird. Die Annäherung an westliche Verbrauchsstandards wird kritische Entwicklungen weiter zuspitzen. Die politischen Implikationen dieser „Größen“-Entwicklung gehören zu den zentralen Aufgaben unserer Zukunft.
Ein Wort zur Klarstellung: So wie ich nichts von Anti-Globalisierungshysterie halte, so halte ich nichts von resignativer Wachstumsapokalyptik. Dies sind keine Entwicklungen, denen wir hilflos ausgeliefert sind. Wir wissen aber auch, dass die nächsten 20 bis 30 Jahre entscheidende Jahre für die Zukunft unseres Wirtschaftens auf diesem Planeten sein werden. Es würde den heutigen Rahmen sprengen, auch nur einigermaßen vollständig die damit verbundenen Herausforderungen zu nennen. Ich will mich daher auf einige kursorische Bemerkungen beschränken:
Das Streben der Menschen nach einem Aufschließen zum Standard der westlichen Gesellschaften können und sollten wir nicht kritisieren. Dies festzuhalten ist wichtig, da die asiatische Herausforderung vielfach als bewusster Angriff und gezielte Bedrohung dargestellt wird. Die Politik eines Nationalstaats von der Größe Indiens oder Chinas hat ohne Zweifel globale Dimensionen. Dort getroffene Entscheidungen wirken sich - size matters - unmittelbar in anderen Teilen der Welt aus. Dies gilt für die Klimapolitik ebenso wie den Ressourcenverbrauch.
Im Verhältnis mit diesen Staaten gestalten wir nicht wie in der Vergangenheit nur bilaterale Beziehungen. Wir gestalten unser aller Zukunft. Diese Gemeinsamkeit ist ausdrücklich keine Einbahnstraße. Deswegen möchten wir einen Dialog und gemeinsames Handeln auf allen wichtigen Politikfeldern. Uns liegt an nachhaltiger innerstaatlicher, regionaler und globaler Entwicklung. Wenn wir gemeinsame Lösungen realisieren wollen, dann müssen wir sie auch gemeinsam entwickeln.
Wenn wir uns von den Staaten Asiens wünschen, dass sie zu verantwortlichen Teilhabern auf der internationalen Bühne werden, dann müssen auch wir zu verantwortlichen Teilhabern der asiatischen Entwicklung werden.
Auch in dieser Hinsicht müssen wir uns stärker auf Asien zubewegen.
Drittens und als Konsequenz: wir müssen den Ausbau Strategischer Partnerschaften fördern und vor allem klarer bestimmen.
Drei Aufgaben stehen dabei im Vordergrund. Erstens die Sicherung stabiler innerstaatlicher Entwicklung und die spannungsfreie Integration Indiens und Chinas in den regionalen und internationalen politischen Kontext, flankiert und unterstützt durch durch eine fortentwickelte Partnerschaft mit Japan. Zweitens die Gestaltung wirtschaftlicher Entwicklung in Europa und Asien zum beiderseitigen Vorteil. Dazu zählt vor allem die Sicherung der Rahmenbedingungen für fairen Wettbewerb und nachhaltiges Wirtschaften. Drittens die Gestaltung regionaler und internationaler Ordnungs- und Querschnittaufgaben. Hierbei steht die Stärkung der Vereinten Nationen und die Umsetzung multilateraler Lösungsansätze im Vordergrund.
Lassen Sie mich eine vierte These benennen, die mit den drei erstgenannten zusammenhängt, aber zugleich darüber hinaus weist: Wenn wir den europäischen Ansatz stärken müssen, wenn „size matters“ und wenn strategische Partnerschaften unsere Zukunft bestimmen sollen, dann müssen wir Europäer zugleich die Zusammenarbeit mit asiatischen Regionalorganisationen vertiefen.
So komisch das klingt: Gerade weil Europa ein Erfolgsmodell ist. Dafür ist die asiatische Entwicklung ein Beleg. Asien ist heute ebenso wie Europa und durch das Vorbild der europäischen Union geprägt weit mehr ein dynamisch vernetzter Raum als ein Ensemble von bilateralen Beziehungen. Daher müssen wir Partnerschaften mit Regionalorganisationen stärken, Mitgliedschaften oder Beobachterstatus in den neu entstehenden Strukturen Asiens erreichen und asiatische Fragen aus dieser Position heraus mitbeeinflussen.
In Südasien erwirbt die EU bereits Beobachterstatus bei der Südasiengemeinschaft SAARC (South Asian Association for Regional Cooperation). Im sicherheitspolitisch wichtigen Asian Regional Forum hat die EU ihre Mitarbeit verstärkt. Mit ASEAN werden wir in diesem Jahr anlässlich der 30-jährigen EU-ASEAN-Partnerschaft die politischen und sicherheitspolitischen Bindungen maßgeblich auf- und ausbauen. Dies ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, da sich die ASEAN-Gemeinschaft bei ihrem letzten Gipfel auf ein anspruchsvolles Charter-Programm zur vertieften Integration verständigt hat. Ein Projekt, das Stabilität und Sicherheit nach Südostasien trägt.
Wir müssen offene Regionalorganisationen in Asien fördern und demokratische Staaten stützen. Japan, Indien, Südkorea, Australien, Neuseeland bleiben unsere Ankerpunkte. Entscheidend wird sein, dass die EU und wir unsere bisherige Außensicht des Kontinents in eine mitgestaltende Innenperspektive verwandeln. Nur so können wir heute in Asien erfolgreich „am Tisch Platz nehmen“.
Zu dieser Mitgestaltung zählt an erster Stelle ein aktiver Beitrag zur Sicherheit in diesem Teil der Welt. Zwei wesentliche Gefahrenpunkte will ich erwähnen. Erstens die Energiesicherheit und allgemeiner die Frage des Zuganges zu lebenswichtigen Rohstoffen. Sie alle hier kennen meine Haltung dazu: Wir müssen verhindern, dass aus natürlichen Ressourcen die Machtwährung des 21. Jahrhunderts wird. Zweitens, und darauf möchte ich ein wenig intensiver eingehen, Gefahren, die von aggressivem Nationalismus, Fundamentalismus und Xenophobie in vielen Regionen Asiens ausgehen. Und das in einem Raum mit mindestens drei Nuklearmächten.
Europa wird auf Dauer nicht Partner Asiens sein können, ohne zur Sicherheit dieser Region beizutragen. Durch umfangreiche Entwicklungshilfe, Beratungsprojekte, Förderung multilateraler Regeln und zivile Konfliktbeilegung. Hier sollten wir offensiver sein. Machen wir uns - gerade mit Blick auf Asien - als Europäer nicht kleiner, als wir sind: Europa definiert weltweit die Masse der Standards im Bereich der „Soft Power“: „benchmarks“ für gute Regierungsführung, sozialen Ausgleich, Umweltschutz, Energieeffizienz und Nachhaltigkeit. Es gilt unser europäisches Modell nicht nur in Europa, sondern auch in Asien selbstbewusst vorzutragen und dafür zu werben. Wir können und sollten auch unsere sicherheitspolitische Identität unterhalb traditionell harter Fähigkeiten, wie sie in erster Linie die USA besitzen, in Asien weiter ausbauen. Im Aceh-Konflikt in Indonesien haben wir das im vergangenen Jahr bereits erfolgreich getan. Da wo dies sinnvoll ist, sollten wir auch in Zukunft Verantwortung übernehmen.
Abschließend möchte ich eine fünfte These aufstellen: wir müssen die Regeln des Dialoges gestalten. Das bedeutet, dass wir China und andere Staaten Asiens einbinden und für international verantwortliches Handeln und den Respekt internationaler Normen gewinnen müssen. Das gilt für die Achtung der Menschenrechte ebenso wie für eine verantwortliche Politik in Afrika. Ich bin nicht zu pessimistisch, dass das gelingen wird. Gerade China hat in letzter Zeit Fortschritte gemacht und sich um die Einbindung in multilaterale Strukturen bemüht. Gleichwohl bleiben Defizite - innerstaatlich bei zum Beispiel Menschenrechten und international bei der Strukturierung von Hilfsprogrammen.
Auch wir - das will ich klar sagen - sind nicht ohne Angriffsflächen. Wir sollten den vereinbarten Austausch nutzen, um uns über die Ziele und Prinzipien unserer Politik zu verständigen. Was wollen wir in Afrika? Welche Standards sollen für internationale Finanzhilfen gelten? Schließlich: in Asien treten uns Staaten entgegen, die wirtschaftlich erfolgreich sind, ohne demokratisch verfasst zu sein. Dies ist so neu nicht in der Geschichte, das Deutschland des 19. Jahrhunderts ist dafür selbst ein Beispiel. Um so mehr sollten wir den Begriff des Rechtsstaates, die politischen Wertefragen von Demokratie und Menschenrechten allgemein besonders im Blick halten. Wir dürfen uns hier nicht wegducken. Sondern auch in dieser Frage noch stärker den selbstbewußten und durchaus kritischen Dialog mit unseren asiatischen Partnern suchen.
Die Voraussetzungen für unser außenpolitisches Handeln haben sich vor dem Hintergrund der asiatischen Entwicklung verändert. Und wir tun gut daran, uns im Angesicht einer ungemütlich gewordenen Welt nicht die deutsche Decke über den Kopf zu ziehen.
Denn: Unsere Zukunft liegt draußen in der Welt. Außenpolitik ist längst viel mehr als klassische Diplomatie und verschränkt sich mit vielen anderen innenpolitischen Themen von der Umwelt- bis zur Wirtschaftspolitik. Chinas und Indiens Umweltpolitik in den kommenden Jahren entscheidet ganz wesentlich darüber, ob unsere Enkel noch eine schneebedeckte Zugspitze kennen lernen oder ob der Gletscher bis dahin geschmolzen sein wird. Mit einem Satz: Außenpolitik wandelt sich zunehmend zur Weltinnenpolitik. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir alle in Deutschland müssen noch internationaler denken, uns mit Problemen und anderen Kulturen auseinandersetzen, die uns bislang kaum berührt haben. Das geht nicht nur Politiker an, sondern auch Unternehmer und Manager, Gewerkschafter, Bildungsminister, Lehrer und Schüler, Initiativen und Vereinigungen wie die Ihre.
Ich danke Ihnen!
Der Tönissteiner Kreis wurde 1958 von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft sowie der Bundesregierung gegründet. Der Tönissteiner Kreis e.V. versteht sich als „ein überparteiliches, auf politischen Dialog und Förderung des Nachwuchses für internationale Aufgaben ausgerichtetes Netzwerk von Entscheidungsträgern, die aus der Wissenschaft, der öffentlichen Verwaltung, der Wirtschaft, den Verbänden und der Politik kommen“. Trägerorganisationen sind der Bundesverband der Deutschen Industrie e.V., die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V., Deutscher Akademischer Austauschdienst, Deutscher Industrie- und Handelskammertag und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e.V..