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Rede von Bundesaußenminister Steinmeier anlässlich der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, 03.10.2006
Es gilt das gesprochene Wort
Lieber Kollege Arjun Singh,
sehr geehrte Frau Botschafterin Shankar,
sehr geehrter Herr Staatsminister,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin,
lieber Herr Dr. Gottfried Honnefelder,
sehr geehrter Herr Jürgen Boos,
meine Damen und Herren!
„Unter den verschiedensten Werkzeugen des Menschen ist das erstaunlichste zweifellos das Buch“, sagt Jorge Luis Borges, „es ist eine Erweiterung der Phantasie und des Gedächtnisses“.
Erweiterung unseres kulturellen Vermögens in vielfältiger Hinsicht und in mindestens zwei Richtungen, möchte ich hinzufügen:
Sozusagen „nach rückwärts“, indem es Erinnerung erhält, Geschichte schreibt und Gelebtes mit Begründung versieht. Und es erschließt sozusagen „nach vorwärts“ die Zukunft, zeigt mögliche Konsequenzen auf, weitet den Horizont und öffnet fremde Welten.
Damit weist uns das Buch den Weg zu einer Einsicht, die wir vielleicht in anderen Lebensbereichen als der Kultur noch nicht genug beherzigen:
Die Binnenperspektive und die Außensicht, Innen und Außen sind in einer globalisierten Welt nicht zu trennen. Das Eigene ist ohne das Fremde nicht zu begreifen. In dieser Diskussion zwischen Eigenem und Fremdem entwickeln wir uns selbst, unsere Kultur und unsere Gesellschaft weiter.
Rajvinder Singh, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und auf Deutsch Gedichte verfasst, von denen Ilija Trojanow sagt, jedes sei ein kleines memento vitae, hat das einmal so ausgedrückt: „Die individuelle, sprachliche oder auch glaubensbetonte Fremdheit zu überwinden, ist der wichtigste Schritt, um vom Einzelwesen zu einem Mensch zu werden“.
Auch aus diesem Grund freue ich mich ganz besonders, dass die diesjährige Frankfurter Buchmesse dem Gastland Indien gewidmet ist und damit die große Reihe von Veranstaltungen im Indien-Jahr 2006 mit einem kulturellen Höhepunkt versieht.
Indien ist in diesen Monaten – erst recht heute – so präsent in Deutschland wie nie zuvor. Indien weckt Neugier und findet Interesse bei den Deutschen – und das inzwischen nicht nur als eine der dynamischsten Wirtschaftsregionen der Welt. Auch wegen unserer gefestigten und von Jahr zu Jahr enger werdenden politischen Zusammenarbeit.
Gerade an diesem heutigen Tag, dem 3. Oktober, darf ich daran erinnern, dass Indien eines der Länder war, die den Prozess der Wiedervereinigung von Anfang an aktiv unterstützt haben. Hierfür sind wir Indien dankbar.
Unsere enge Partnerschaft gründet sich auf einer gemeinsamen Vorstellung von der Politik der internationalen Beziehungen. Beide treten wir für Multilateralismus und die Autorität von Völkerrecht und Vereinten Nationen ein. Beide treiben wir die Reform der Vereinten Nationen mit gemeinsamen Initiativen voran. Und beide setzen wir uns – wie im Kongo oder in Afghanistan - in vielen Regionen gemeinsam für Stabilität und Frieden ein.
Wir haben im April diesen Jahres beschlossen, diese Partnerschaft auf wichtige Zukunftsfelder wie den Energiebereich und die engere Zusammenarbeit in Forschung und Technologie auszudehnen. Auch das ist wichtig! Erschöpft aber das ungeheure Potential unseres Austausches bei weitem noch nicht. Noch weitgehend ungehobene Schätze liegen im Bereich der wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte. Hier wird der genauere Blick auf Indien für die Deutschen besonders lohnenswert sein. Er wird Verständnis wecken für eine ältere Kultur als unsere eigene, für eine Kultur und ein Land, das zugleich in vielen Bereichen weit moderner ist, als wir das oft wahrnehmen.
Und nicht zuletzt: dieser Blick kann uns helfen, die Herausforderungen, vor denen wir hier in Europa stehen, besser zu begreifen. Lassen Sie mich hierfür ein überraschendes, aber aktuelles politisches Beispiel geben: Deutschland will im nächsten Jahr als Präsidentschaft der Europäischen Union für ein Fortschreiten des Europäischen Projektes sorgen. Wir stehen vor der Aufgabe, für 450 Millionen Menschen in 27 Staaten mit 22 verschiedenen Amtsprachen und zahlreichen unterschiedlichen Glaubensrichtungen eine neue gemeinsame Orientierung zu finden. Das ist eine Orientierung, die ihre Kraft nicht mehr allein oder vorwiegend aus der Vergangenheit schöpfen kann. Sondern aus dem Willen, für das Europa des 21. Jahrhunderts eine gemeinsame Antwort zu finden, warum wir zusammen lernen und arbeiten wollen und warum wir in einer gemeinsamen politischen Ordnung zusammen leben wollen.
Dabei kann, so glaube ich, der Kontakt mit dem „fremden“ Indien helfen, das eigene Europa besser zu begreifen. Denn es ist der Kontakt zur weltgrößten Demokratie, die über eine Milliarde Menschen in 28 Bundesstaaten und sieben Unionsterritorien vereint in einem Land, in dem über 400 Sprachen und Idiome gesprochen werden und über 20 Sprachen als Nationalsprachen anerkannt sind; in dem der Premierminister der Gemeinschaft der Sikh angehört, der Präsident islamischen Glaubens ist und dessen größter Partei eine Frau mit christlichem Hintergrund vorsitzt.
Dieses Indien scheint uns manchmal paradox, wenn wir sehen, wie viele verschiedene Lebensgewohnheiten und Kulturen, Sprachen, Religionen und Glaubensrichtungen zusammen leben – und bei allen scheinbaren oder tatsächlichen inneren Widersprüchen von einer Verfassung und einem Staat zusammen gehalten werden.
Vielleicht sollten wir uns diese Dimensionen öfter in Erinnerung rufen, wenn wir an unseren nationalen oder europäischen Aufgaben zu verzagen drohen. Und aus der Einsicht in die Schwierigkeiten, die Indien auf diesem Weg zu bewältigen hat, Kraft und Mut schöpfen für den Aufbau des vereinten Europas.
Die Frankfurter Buchmesse bietet hierfür eine hervorragende und wichtige Gelegenheit. In Zeiten, in denen manche von Kultur als von einem fest gefügten Block an traditionellen oder tradierten Überzeugungen, Werten oder Glaubenseinstellungen sprechen, beweist sie, dass das Gegenteil richtig ist: Kultur ist die immer neue Auseinandersetzung über die großen Fragen des Lebens und der Menschheit.
Deswegen sind im Zeitalter mit immer dichteren interkulturellen Kontakten die kulturelle Zusammenarbeit, der kulturelle Austausch und die gemeinsame kulturelle Diskussion so besonders wichtig. Günter Grass steht mit seinen Indienaufenthalten, der literarischen und zeichnerischen Auseinandersetzung mit dem dort Gesehenen und Erlebten beispielhaft für den künstlerischen Kontakt zwischen den Kontinenten.
Und eine für mich besonders eindrückliche Parabel über das Zusammenleben der Religionen habe ich gerade am Wochenende in dem jetzt bei uns erschienen Buch von Kiran Nagarkar gelesen: In „Gottes kleiner Krieger“ wächst Zia im kulturell wie religiös verwirrend vielfältigen Bombay auf. Zia kann Existenzen wechseln wie Masken. Aber immer bleibt er der gleiche selbstgerechte Fanatiker: als Islamist in Cambridge, als Terrorist in Kaschmir, als Trappist in Kalifornien. Und weil sein Idealismus keine Schattierungen und Grauzonen kennt, sondern nur Schwarz und Weiß, ist Zia letztendlich auch nicht der gläubige Mensch, für den er sich in all seinen Rollen hält. Vielmehr begeht er die größte aller Blasphemien: Im Namen Gottes alles besser wissen zu wollen und letztlich zynische Selbstgerechtigkeit zum Maßstab eigenenen Handelns zu machen.
„Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“.
Diese Einsicht verdanken wir Kant (und ich hoffe inständig, dass er recht behält). Und im Buch von Kiran Nagarkar sind wir ergriffen von derselben Einsicht.
Kultur lebt mehr als jede andere gesellschaftliche Sphäre vom freien Austausch und von der Diskussion. Dies sollten wir nicht vergessen. Gerade auch nicht in Deutschland, wo Kultur oft als Mittel der Ausgrenzung hat herhalten müssen. Die europäischen Nationen und auch die deutsche waren und sind immer auch Nationen, die in Wirklichkeit durch Migration kulturell dazu gewonnen haben.
In vielen Ländern Europas leben Menschen indischer, afrikanischer, karibischer oder asiatischer Herkunft. Sie bereichern die europäischen Kulturen und die Kultur Europas auf vielfältige Weise. Ich habe bereits Rajvinder Singh als ein Beispiel für diese Bereicherung und Fortentwicklung der deutschen Kultur genannt.
Ein anderes, europäisch-indisches Beispiel ist der Blick, den Vikram Seth auf die „Zwei Leben“ seiner deutschen Tante jüdischen Glaubens und seines indischen Onkels wirft. Ein Blick, in dem wir unsere eigene deutsche Geschichte, die Geschichte Europas und die Weltgeschichte von Verfolgung, Exil und Diaspora ganz neu und aus einer ungewohnten Perspektive erfahren. Und der genau deswegen, weil er unser kulturelles Gedächtnis um neue Einsichten erweitert, ein wichtiger Beitrag ist zu der Diskussion um die deutsche und um die europäische Identität.
Identität - ausdrücklich die kulturelle Identität - ist kein unumstößliches Schicksal, das sich an einigen wenigen Merkmalen festmachen ließe. Im Gegenteil: Die Verkürzung der kulturellen Identität auf eines oder wenige Merkmale verhindert Wahl- und Identifikationsmöglichkeiten. Mit allen schrecklichen Folgen, die wir aus unserer eigenen Geschichte kennen. Amartya Sen, der indische Sozialphilosoph und Ökonom, hat diese Verkürzung von Identität als „Miniaturisierung“ von Menschen bezeichnet.
Wer Identität statisch begreift, der verkürzt das kulturelle Gedächtnis, der blendet die Neugier der Menschen, ihre Phantasie und ihren Veränderungswillen aus. Genau das Gegenteil, und das können wir von Amartya Sen lernen, sollte der europäische Weg sein: Nicht die Miniaturisierung von Menschen, nicht ihr Zurückstutzen auf ein kulturelles Identifikationsmerkmal. Sondern die Erweiterung ihrer kulturellen Möglichkeiten, die zugleich das Identifikationspotential einer Gesellschaft stärkt.
Diese Vielfalt in der Einheit ist möglich.
Weil wir in unseren Gesellschaften nicht zulassen, dass Menschen auf ihre kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit verkürzt werden;
weil in unseren Gesellschaften Menschen verschiedenster Kulturen und Religionen zusammen leben können, wenn sie sich an die klaren und einfachen Regeln der Gesellschaft halten;
weil wir als Europäer klare und erfüllbare Bedingungen aufstellen, unter denen europäische Perspektiven zu Mitgliedschaften in der Europäischen Union werden können,
önnen wir das europäische Projekt für das 21. Jahrhundert neu begründen und wollen wir für und mit den Menschen in Europa den europäischen Beitrag zu einer gerechteren und friedlicheren Welt auch in Zukunft leisten.
Wenn Kultur die Ausgangsbasis und der Rahmen von persönlichen und gemeinsamen Orientierungen ist, dann ist das Buch das vielleicht wichtigste kulturelle Medium. Nicht nur, weil das Buch das früheste und das weltweit am meisten verbreitete Medium einer Kultur des Dialoges ist. Bücher waren und sind die geborenen Grenzgänger zwischen Kulturen und Künsten. Die Zusammenarbeit der Buchmesse mit der Berlinale und dem indischen Kino beweist das eindrucksvoll, und die weltweiten Aktivitäten der Buchmesse verbinden Kulturen mit einander und schaffen Plattformen für den Dialog.
Ich selbst habe mir hiervon zuletzt ein Bild machen können bei meinem Besuch der Buchmesse in Kairo. Mehr als viele theoretische Diskussionen ermöglichen solche praktischen Kooperationen, dass möglichst viele Menschen einen unmittelbaren Zugang zu fremden Kulturen erhalten und entdecken, wie viel sich diese im wörtlichen Sinne „zu sagen haben“.
Kulturgüter, und in einem ganz besonderen Maße Bücher überwinden Grenzen. Sprachliche durch Übersetzung, geographische durch den Handel.
Bücher können uns anleiten, durch den Wechsel der Perspektive und das Zusammendenken von Innen und Außen, von Eigenem und Fremdem neue gemeinsame Wege zu finden. Bücher sind damit so etwas wie die Außenpolitiker unter den Künsten.
Und weil die deutsche Außenpolitik um die wichtige Rolle der Kultur weiß, weil sie weiß, dass die klassischen Wege des wirtschaftlichen und politischen Kontakts eines kulturellen Fundamentes bedürfen, setzen wir uns dafür ein, dass möglichst viele Menschen an Kultur teilhaben können und dass auch umgekehrt die Rechte der Urheber von Kulturgütern geachtet und geschützt werden - auch im eigenen Land.
Und nicht zuletzt: wir setzen uns ganz aktuell auch dafür ein, mehr Mittel in die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik investieren zu können. Investitionen in die Kultur sind Investitionen in die Zukunft.
Das gilt für den Staat, für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen.
Als Außenminister des Landes, das den Buchdruck zumindest mit erfunden hat, freue ich mich ganz besonders, am Tag der Deutschen Einheit die weltgrößte Buchmesse zu eröffnen.
Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass diese Messe in beiderlei Wortsinn, als wirtschaftliches Ereignis und als kulturelles Fest - für Verleger, Händler, Schriftsteller und das breite Publikum ein voller Erfolg wird.
Vielen Dank!