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Rede von Staatsminister Gloser im Deutschen Bundestag, 22.09.2006
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ungeachtet aller Erfolge in der Vergangenheit befindet sich die Europäische Union – einige Redner haben das bereits ausgeführt – in einer schwierigen Lage. An dieser Stelle wird immer an den Verfassungsprozess und an die in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Referenden erinnert. Niemand weiß genau, wie wir den ins Stocken gekommenen Prozess wieder in Gang setzen können. Wir wissen aber, dass wir ihn wieder in Gang setzen müssen. Die Akzeptanz der Europäischen Union in der Bevölkerung hat gelitten. Wenn man diesen Zustand mit „Europaskepsis“ umschreibt, ist das vielleicht nicht ganz treffend; es gibt verschiedene Facetten.
Wenige Monate vor dem 50. Jahrestag der Römischen Verträge möchte ich aber – auch wenn ich einige kritische Bemerkungen gemacht habe – betonen, dass die Europäische Union eine einmalige Erfolgsgeschichte ist und andere uns darum beneiden, dass wir es geschafft haben, eine solche Europäische Union auf friedlichem Wege zu gründen.
Ich möchte – in einigen Reden klang es so, als wäre heute ein revolutionärer Tag – auf die Dinge eingehen, die angesprochen worden sind. Die Menschen in Europa haben gerade in den letzten Monaten verstanden, dass die Europäische Union und die von ihr erlassenen Regelungen sie unmittelbar betreffen. Das belegen die intensiven Diskussionen über die bereits genannte Dienstleistungsrichtlinie, die Gleichstellungsrichtlinie, die Hafenrichtlinie oder über ein so großes Projekt wie die Erweiterung der Europäischen Union. Auch wenn die Debatten kontrovers geführt wurden und an der EU Kritik geübt wurde – wer ist die EU? –, ist erfreulich, festzustellen, dass die Menschen Europa wahrnehmen und über Europa diskutieren. Wir müssen uns aber fragen – mit „wir“ meine ich die Bundesregierung und uns Parlamentarier –, ob wir nicht manchmal die falschen Botschaften gesetzt haben, ob wir nicht manche Gesetzgebungsinitiative durch eine oft sehr eingeschränkte Wahrnehmung diskreditiert haben. Ich glaube, hier müssen wir behutsam vorgehen, wenn wir einen offenen Diskurs mit der Bevölkerung wollen.
Dieses neue, wenn auch häufig kritische Interesse der Bürger ist gut für die Europäische Union; denn es erzeugt einen Rechtfertigungsdruck, dem sich die Organe der Europäischen Union, aber auch wir, die Regierung und das Parlament, stellen müssen. Wir müssen rechtfertigen, warum wir einen Rechtsakt auf europäischer Ebene für notwendig halten. Wir müssen erklären, was das dem Bürger bringt. Wir müssen auch manchmal vermitteln, warum etwas im Interesse der Europäischen Union wichtig ist und warum man nicht nur an die Interessen des eigenen Landes denken sollte.
Das kritische Interesse der Bürger verschafft uns auch die Chance, die konkreten Vorteile der Europäischen Union und der von ihr geschaffenen Rechtsakte zu vermitteln. Die Gesetzgebung von Bund und Ländern – wir haben das vorhin gehört – wird in wachsendem Maße von Entscheidungen geprägt, die auf der Ebene der Europäischen Union getroffen werden. Gemeinsam mit dem Dreieck der europäischen Institutionen – Europäisches Parlament, Kommission und Rat in seiner gesetzgebenden Funktion – bilden die nationalen Parlamente – davon bin ich felsenfest überzeugt – das demokratische Fundament der europäischen Bürger- und Staatenunion.
Nationale Parlamentarier müssen als Mitgestalter eines Gesetzgebungsprozesses begriffen werden, der immer häufiger von Brüssel aus angestoßen wird. Es ist vorhin selbstkritisch bespiegelt worden, warum es so lange gedauert hat. Man muss an diesem Tag objektiv sagen: Der Deutsche Bundestag verfügte bereits in der Vergangenheit über einige Rechte, die aber nicht entsprechend ausgestaltet waren. Aufgrund der Defizite gab es Nachholbedarf. Deshalb gab es die breite Diskussion über Möglichkeiten zu mehr Beteiligung. Diese nun erzielte Vereinbarung wird die Europapolitik des Bundes auf eine breitere Grundlage stellen und zur besseren Gesetzgebung der Europäischen Union beitragen.
Die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages sollen durch diese neue Vereinbarung ausgeweitet werden. Alle von Ihnen angemahnten Dokumente und Berichte zu europäischen Aktivitäten, sowohl die der Gemeinschaftsorgane Kommission und Rat als auch die der Bundesregierung, insbesondere die der Ständigen Vertretung bei der Europäischen Union, werden dem Bundestag umfassend vermittelt. Daneben wird eine Reihe von Unterrichtungsformen, die bereits Praxis sind, verbessert. Ich denke, diese Vereinbarung ist ein zentraler Baustein für die verbesserte Europatauglichkeit des Bundestages. Aber gleichzeitig – das hat in den Verhandlungen eine wesentliche Rolle gespielt – lässt diese Vereinbarung der Bundesregierung den nötigen Spielraum, den sie in den Verhandlungen in Brüssel braucht. Wenn man die Situation in der Anfangszeit mit der heutigen vergleicht, sieht man, dass sich vieles verändert hat.
Ich bin der Überzeugung, dass diese Vereinbarung uns eine Chance bietet, die Legitimität europäischer Rechtssetzung in Deutschland zu erhöhen. Ich möchte an dieser Stelle meinen ausdrücklichen Dank sagen an diejenigen, die für die Fraktionen verhandelt haben, aber auch an diejenigen, die ihnen zugearbeitet haben, die auch uns in den Ressorts zugearbeitet haben. Das waren wichtige Beiträge. Ich danke auch dem Kollegen Peter Hintze, der mit mir für die Bundesregierung diese Verhandlungen geführt hat, und den anderen Kollegen in der Regierung, die uns im Hintergrund dabei unterstützt haben. Ich kann Ihnen versichern: Es bleibt bei dem einen Herz. Aber ich glaube, man braucht Kopf und Herz, um die Europapolitik voranzubringen. Ich finde es angesichts der Positionen, mit denen die Fraktionen in diese Debatte gegangen sind – Rainder Steenblock hat darauf hingewiesen –, bemerkenswert, dass wir einen, so denke ich, guten Kompromiss gefunden haben.
Wir sollten aber nicht vergessen, dass der Verfassungsvertrag, den ich eingangs erwähnt habe, für die weitere Einbindung der nationalen Parlamente wichtig ist. Denn er ist ein wichtiger Schritt, um mehr und früher beteiligt zu werden. Die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips war eine Intention der Bundesregierung. Sie war im Konvent wie auch auf der Regierungskonferenz ein besonderes deutsches Anliegen. Nicht zuletzt wegen der mit dem Vertrag in dieser Hinsicht erzielten Fortschritte setzt sich die Bundesregierung dafür ein, die im europäischen Verfassungsvertrag gefundenen Lösungen zu erhalten.
Die Elemente des Verfassungsvertrages machen die Europäische Union – das ist immer kritisiert worden – gerade demokratischer. Sie machen sie handlungsfähiger, effizienter und transparenter. Genau damit erreichen wir das Ziel, Europa den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen. Ich gehe gern darauf ein – das wird auch ein Thema der Präsidentschaft Deutschlands im nächsten Jahr sein –, dass wir nicht nur fragen müssen: Welche Folgen haben bestimmte Gesetzesinitiativen für den Bereich Wirtschaft, für kleine und mittlere Unternehmen? Genauso wichtig ist natürlich die Frage: Welche sozialen Folgen hat eine Initiative? Ich denke, das hat die Vergangenheit gezeigt.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ohne dass man jetzt das Primärrecht ändern müsste, ist die Kommission ohnehin bereits vom Europäischen Rat aufgefordert worden, die nationalen Parlamente frühzeitig einzubeziehen. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa gewinnen möchten, sollte unser Ziel sein, dass sich jeder Europäer ganz selbstverständlich sowohl als Bürger seiner Stadt und seines Mitgliedstaats als auch als Bürger der Europäischen Union versteht. Ich bin – weil ich ja auch Parlamentarier bin – davon überzeugt, dass die nationalen Parlamente, vor allem der Bundestag, dazu einen wesentlichen Beitrag leisten können. Ich denke, dass diese Vereinbarung die entsprechenden Werkzeuge liefert. Ich finde es gut, dass wir die Vereinbarung wenige Wochen vor Beginn der deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union geschaffen haben; denn ich glaube, dass diese Präsidentschaft durch ein aktives Parlament begleitet werden muss.
Vielen Dank.