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„Krise, Ordnung, Gestaltung“ - Eröffnungsrede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur Botschafterkonferenz 2015
Exzellenzen,
verehrte Gäste,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen zur diesjährigen Konferenz der Leiterinnen und Leiter. In Berlin, das wissen die Beschäftigten der Zentrale, sind noch Sommerferien. Aber die Welt hält sich nicht daran. Und wir als Auswärtiges Amt können uns auch nicht danach richten.
Vor einem Jahr haben wir hier über die Verantwortung und die Ziele der deutschen Außenpolitik in einer Welt im Umbruch diskutiert. Wir haben im Rahmen der „Review2014“ intensiv debattiert, ob wir das Richtige tun – und ob wir es auf die richtige Art und Weise tun. Wir haben uns angesichts der Krisen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, angesichts der gestiegenen Erwartungen unserer Partner und Verbündeten selbst auf den Prüfstand gestellt. Sie alle und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben die Agenda mitgestaltet, die ich in diesem Saal vor sechs Monaten vorgestellt habe: „Eine Agenda für einen schlagkräftigeren Auswärtigen Dienst in Zeiten des Umbruchs“.
Jetzt stecken wir mitten in der Umsetzung der Review-Schlussfolgerungen. Wir haben den wohl umfassendsten Umbau des Auswärtigen Amtes seit Jahrzehnten auf den Weg gebracht. Aber wir wollen mehr als das. Wir wollen eine neue Arbeitskultur in diesem Dienst verankern: abteilungsübergreifender, projektbezogener, flexibler, gestaltender als bisher. Nicht als Selbstzweck. Auch nicht, weil es modern klingt. Sondern weil die Natur der Herausforderungen es erfordert, wenn wir erfolgreich sein wollen. Auch die neue Struktur der Botschafterkonferenz spiegelt das wider.
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Deutschland steht außenpolitisch in der Verantwortung. Das ist heute aus meiner Sicht keine Frage der Wahl oder des Wollens, sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit. Diese Feststellung ist alles andere als graue Theorie. Und: Wir sind unserer außenpolitischen Verantwortung nicht ausgewichen über das vergangene Jahr. Eine Erfolgsgarantie gibt es dabei nicht. Aber wir haben die Herausforderung angenommen. Ich danke Ihnen allen für Ihren bemerkenswerten Einsatz dabei.
So ist auch ein Gutteil meiner eigenen Zeit und Energie im zurückliegenden Jahr in die Krisendiplomatie geflossen.
Im Konflikt mit Russland und in der Ostukraine hat die deutsche Diplomatie vieles angestoßen und manchmal auch angetrieben. Wir haben mit der Vereinbarung von Minsk vom Februar unter schwierigen Bedingungen einen diplomatisch-politischen Rahmen gezimmert, an dessen Ausfüllung und Umsetzung wir gemeinsam mit Frankreich und in engster Abstimmung mit Brüssel beharrlich weiter arbeiten. Von einer echten Lösung sind wir, fürchte ich, noch weit entfernt. Gerade in diesen Tagen erfüllt uns die Eskalation der Sicherheitslage mit größter Sorge. Heute ist Präsident Poroschenko in Berlin. Und wir werden zu überlegen haben, wann wir die nächsten gemeinsamen Anstrengungen im Normandie-Format unternehmen. Aber gerade weil so viel auf dem Spiel steht – die Frage von Krieg und Frieden und einer funktionierenden Sicherheitsordnung in Europa – ist es unseren vollen Einsatz wert.
In dieser Lage hatten wir vor längerer Zeit die Frage zu entscheiden, ob wir der Schweiz und Serbien im Vorsitz der OSZE folgen werden. Nicht viel sprach dafür. Lorbeeren sind nicht zu ernten. Die OSZE ist eine komplexe und schwierige Organisation, und die Konfliktparteien machen uns die Arbeit nicht gerade leicht. Gleichwohl haben wir uns dafür entschieden – aus Verantwortung für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in schwieriger Zeit.
Manchmal muss man das tun: entgegen aller verbreiteten Skepsis gegenüber internationalen Verhandlungsprozessen und dem Instrument der Diplomatie. Selten genug gelingt es aber eben doch, den Gegenbeweis anzutreten. Dass Beharrlichkeit in der Diplomatie nicht nur ein Feigenblatt für Folgenlosigkeit ist, haben die Verhandlungen über ein tragfähiges Übereinkommen über das iranische Nuklearprogramm gezeigt. Aber: Mit Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit haben wir eine Einigung erreicht, die man ohne allzu großes Pathos historisch nennen darf. Es ist gelungen, eine politische Lösung für einen Konflikt zu finden, der die Welt mehrfach hart an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung gebracht hat. Ich weiß, dass es in einigen Ländern weitere Fragen über diese Vereinbarung gibt.
Aber entgegen der Skepsis glaube ich, die Vereinbarung bringt vor allem eins: ein Mehr an Sicherheit für die Region. Sie schließt einen Griff Teherans nach der Atombombe langfristig und nachprüfbar aus. Und nicht nur das. Die Einigung hat auch bewiesen, dass selbst in tief sitzenden, komplexen Konflikten, die von Misstrauen und Feindschaft überlagert werden, eine Lösung möglich ist. Damit kann das Wiener Abkommen diplomatische Handlungsspielräume in dieser konfliktreichen Region öffnen.
Zwei Elemente sind dabei für mich entscheidend: Zum einen hat das Iran-Abkommen neue Gesprächskanäle geöffnet. Ganz offensichtlich den zwischen Iran und den USA. Aber auch in der Region: Sie haben gesehen, dass es Besuche aus Syrien in Saudi Arabien gab. Es gibt das Angebot des iranischen Außenministers, Riad zu besuchen. Und: Die Blockade zwischen den Großmächten USA und Russland in Fragen der Region des Mittleren Ostens mag nicht überwunden sein, aber die scheinbar unüberbrückbaren Positionen sind doch ein wenig näher gerückt. Und wenn ich sehe, dass sich der VN-Sicherheitsrat zuletzt zu einer gemeinsamen Auffassung zur Syrien-Frage durchringen konnte, dann ist das etwas, das jedenfalls neu ist und das jetzt möglich war - nach dem Iran-Abkommen.
Zum anderen eröffnet das Wiener Abkommen dem Iran selbst die Chance, jetzt, nach jahrzehntelanger Isolation, auf die Staatengemeinschaft zuzugehen, sich wirtschaftlich, aber auch innenpolitisch weiter zu entwickeln. Was zeigten denn die Fernsehbilder, am Tag nach dem Übereinkommen? Wer waren die Menschen, die in den Straßen Teherans feierten? Es waren die jungen Menschen! Einige sogar mit Obama-Shirts – wo immer die auch herkamen. Das zeigt: Ein Teil der jungen Generation schaut mit großen Erwartungen auf die Konsequenzen der Vereinbarung. Ich werde im Oktober im Iran sein und mir ein persönliches Bild machen.
Wir machen uns keine Illusionen über den Iran, seine Rolle in Syrien, bei der Unterstützung der Hisbollah im Libanon oder konfessioneller Milizen im Irak – und wir nehmen die Sorgen Israels und die Sorgen der Golfstaaten sehr ernst.
Diese Probleme sind durch ein Atom-Abkommen nicht über Nacht zu lösen. Aber es kann vielleicht der Diplomatie Wege öffnen, die über Jahre nicht gangbar waren.
Vielleicht können wir jetzt das Momentum von Wien nutzen, um anderswo in der Region bisher unlösbar scheinende Konflikte zu entschärfen. Ich denke dabei vor allem an Syrien, nach mehr als 4 Jahren Bürgerkrieg, mehr als 200.000 Toten, mehr als 10 Millionen Vertriebenen. Wo wir immer noch vor der Verpflichtung stehen, diesen Konflikt wenigstens zu entschärfen und die humanitäre Lage erträglicher zu machen.
Wir müssen das auch deshalb tun, weil zu sehen ist, dass die militärische Lage für das Assad-Regime enger wird. Das ist die Folge von zwei Entwicklungen: Dem Stärkerwerden einiger radikaler Gruppen. Aber zumindest was den Süden des Landes angeht, auch dem Zusammenrücken der Opposition, den sogenannten Moderaten. Entscheidend ist, dass wir mit Vorschlägen in die Öffentlichkeit kommen, so lange das gesamte Institutionen-System in Syrien noch nicht komplett kollabiert ist. Wir sehen in Libyen, dass es extrem schwierig ein kollabierendes Institutionensystem wieder in einen Staat zu verwandeln. Deswegen kommt es so sehr darauf an, dass wir jetzt nach dem Iran-Abkommen die Chance ergreifen, dass wir den UN-Sonderbeauftragten de Mistura nach Kräften unterstützen, um hoffentlich auch mit dem Support von Russland und den USA und den wichtigen Golfstaaten Vorschläge auf den Tisch zu bringen, die langsam den Weg ebnen zu einer Entschärfung des Konflikts.
Der mittlere Osten erlebt dramatische Veränderungen, menschenverachtende Barbarei, opferreiche Kriege, die zynische Zerstörung der Weltkultur, die Erosion von Staatlichkeit. All das wird nicht morgen überwunden sein. Aber dennoch muss in der Region etwas wachsen, was einem Mindestmaß an gemeinsamen Interessen entspricht, vielleicht nicht gleich echte Partnerschaft, aber zumindest Koexistenz, die in dieser Nachbarschaft überleben hilft.
Im Oktober werden wir in Amman in einer OSZE-Outreach-Konferenz über regionale Sicherheit sprechen. Wir werden über die Lektionen berichten, die wir in Europa lernen mussten – wo mitten in der kältesten Zeit des kalten Krieges verantwortliche Politiker begannen, an den Grundbedingungen für eine europäische Sicherheitsarchitektur zu arbeiten. Eine Sicherheitsarchitektur für den Nahen und Mittleren Osten, das muss jetzt auf die Tagesordnung.
Ich erinnere mich an eine Konferenz in Dschidda im letzten Jahr, als zum Ende der Debatte ein saudischer Intellektueller auf dem Podium das Wort ergriff und sagte: „Herr Steinmeier, was uns fehlt, ist euer 1648.“
Das hat mich erstaunt. Zum einen, weil europäische Geschichte wohl doch interessiert in der Region. Und: weil die Anerkennung von Verschiedenheit etwas ist, was begriffen worden ist als eine Voraussetzung für eine friedlichere Entwicklung in der Region. Ich glaube in der Tat, ohne Akzeptanz kultureller und religiöser Unterschiede wird es keine Hoffnung auf eine wirklich friedlichere Entwicklung geben in der Region. Und deswegen sind Sicherheitsfragen und kulturelle Fragen kaum irgendwo so eng mit einander verknüpft, wie in dieser Region. Das müssen wir bei der Konferenz in Amman zu erfassen versuchen.
Um Ordnung ringen wir auch in anderen Teilen der Welt; und auch dort mag eine solche Ordnung in weiter Ferne liegen. Ich erwähne sie heute trotzdem, weil sich deutsche Außenpolitik bei allem eigenen Anspruch, sich früher, entschiedener und substanzieller einzubringen, nicht im Krisenmanagement erschöpfen darf. Im Interesse unseres Landes, das mit der Welt nach allen denkbaren Maßstäben so eng verwoben ist wie nur wenige andere, müssen wir die internationale Ordnung von morgen mitgestalten:
- Auf der Klimakonferenz in Paris im Dezember, zu deren Erfolg wir gemeinsam mit den französischen Gastgebern beitragen wollen.
- Bei der „2030-Agenda“, die auf dem Gipfel der Vereinten Nationen nächsten Monat einen weltweiten Konsens für nachhaltige Entwicklungsziele festschreiben soll.
- Bei der Formulierung einer gemeinsamen europäischen Politik für den Umgang mit dem Aufstieg Chinas und seine Konsequenzen für die internationale Ordnung.
Um nur den Blick auf die nächsten Stationen der Debatte zu werfen!
Ich freue mich sehr, dass wir mit Parag Khanna einen der profiliertesten Analytiker und Interpreten dieser entstehenden internationalen Ordnung heute als Ehrengast bei uns begrüßen dürfen. Ich freue mich darüber auch deshalb ganz besonders, weil er in seinen Büchern nicht nur die Verwerfungen, sondern immer wieder auch die sich eröffnenden neuen Möglichkeiten des Wandels in den Blick nimmt.
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Um diese Möglichkeiten zu nutzen, braucht man starke Partner. Mit Frankreich haben wir in diesen letzten zwölf Monaten auf fast allen großen diplomatischen Baustellen gemeinsam angepackt. Morgen ist Emmanuel Macron unser Ehrengast bei der Eröffnung des Wirtschaftstages. Auch mit den anderen europäischen Partnern haben wir eine Vielzahl von Initiativen vorangetrieben, in enger Abstimmung mit Brüssel und einer neuen Hohen Repräsentantin, Frau Mogherini, mit der wir hervorragend zusammenarbeiten.
Keine Frage: Bei vielen internationalen Konflikten sind und bleiben die USA unser wichtigster Partner. Und es gehört zu den nicht leicht erklärbaren Widersprüchen, dass wir ausgerechnet in Zeiten lautstarker Kritik an Washington – und die hat ja mit Blick auf die Aktivitäten der NSA in Deutschland ihre Berechtigung – in der Außenpolitik so enge und gute Beziehungen zur US-Administration haben wie schon lange nicht mehr. Das hat aus meiner Sicht mindestens drei Gründe:
Erstens hat es – wie gelegentlich in der Diplomatie – mit den handelnden Personen zu tun: Und in diesem Fall mit John Kerry. Die Zusammenarbeit mit ihm hätte im vergangenen Jahr nicht enger und vertrauensvoller sein können, gerade im Iran-Dossier, aber nicht nur. Deshalb werden wir tun, was in unserer Macht steht, um auch die Skeptiker in Washington vom Wert des Abkommens zu überzeugen.
Zweitens haben die Handelnden diesseits und jenseits des Atlantik begriffen: Wir brauchen einander, wenn wir überzeugende Antworten auf die Herausforderungen unserer Tage finden wollen. Das gilt in der Ukrainekrise, in der wir bis heute trotz manchmal unterschiedlicher Wahrnehmungen im Ergebnis gemeinsame Ziele verfolgen. Das gilt auch für Syrien und den Kampf gegen den Islamischen Staat, aber auch für Klima und Freihandel.
Und drittens bleibt das Bündnis mit den USA der Garant unserer Sicherheit. In der unübersichtlichen Welt von heute haben wir keinerlei Anlass, diese Garantie für unwesentlich oder gar entbehrlich zu halten.
Ein letzter Punkt ist mir besonders wichtig. Die diplomatische Öffnung der USA Richtung Kuba eröffnet nicht nur neue Perspektiven auf dem gesamten amerikanischen Kontinent - davon konnte ich mich letzte Woche in Brasilien überzeugen. Vor allem aber reflektiert sie eine Haltung, der ich mich auch persönlich verpflichtet fühle: Dass man bereit sein muss, eigene Positionen zu überprüfen, wenn sie erkennbar nicht zum gewünschten Ziel führen. Dass man eingefahrene Wege korrigieren kann und manchmal muss – wenn der Mut und der politische Wille dazu bestehen. Und dass darin nicht Verzicht, sondern ein Mehr an Möglichkeiten liegen kann. Das zeigt die Bereitschaft der USA zu einer neuen Politik.
Meine Damen und Herren,
deshalb bleiben die USA für Deutschland und Europa der wichtigste Partner – sowohl in Fragen der Krisenbewältigung als auch in der Gestaltung einer gerechten internationalen Ordnung.
Doch ich glaube, gleichwohl muss uns klar sein, dass wir diese großen Herausforderungen nur dann effektiv werden angehen können, wenn wir einen weiteren entscheidenden Faktor im Blick haben: die zukünftige Rolle Russlands.
„Die Beziehungen zu unseren amerikanischen Verbündeten sind unverzichtbar; Russland auf dem europäischen Kontinent ist unverrückbar.“
Das sind die Worte von Egon Bahr, der letzte Woche verstorben ist. Ich glaube, der Satz bleibt über seinen Tod hinaus richtig!
Das bedeutet das für uns: Ja, wir dürfen und werden nicht nachlassen in unseren Anstrengungen, die Ukraine-Krise zu entschärfen. Aber: Wir müssen auch über das akute Krisenmanagement hinausschauen und fragen, wie Russland langfristig in die internationale Ordnung eingebunden sein wird. Ich weiß nicht, wie die internationale Sicherheitsarchitektur in 15 Jahren aussehen wird. Aber eines weiß ich: Es kann eine europäische Friedensordnung nur mit einer Einbindung Russlands geben. Die Welt kämpft derzeit mit vielen Konflikten. Und sowohl wir als auch unsere amerikanischen Partner haben verstanden: In vielen dieser Krisen – allen voran in Syrien – werden wir ohne Russland keine Lösung finden.
Auch deshalb dürfen wir uns von Rückschlägen im Ukraine-Prozess nicht entmutigen lassen.
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Das führt mich zu meinem letzten Punkt: Deutschlands Verantwortung in und für Europa. Die europäische Einigung bleibt die einzig überzeugende Antwort auf die „deutsche Frage“ nach der Einbindung der Macht in der Mitte Europas. Sie ist der einzig realistische außenpolitische Rahmen, in dem wir die künftige internationale Ordnung mitgestalten können. Für mich ist klar: Weder in Minsk noch in Wien hätte deutsche Diplomatie ohne ihre europäische Einbettung die gleiche Wirkung entfaltet.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns mit unserer Rolle in und für Europa auseinandersetzen – gerade in diesen Tagen, in denen die Debatte um Griechenland ihre Spuren hinterlassen hat. Es geht um Entscheidungen, aber auch um unsere Haltung, um unseren „europäischen Reflex“.
Deutsche Stärke in Europa darf sich niemals nur daran bemessen, wie wirkungsvoll wir eng definierte nationale Interessen durchsetzen. Gerade als Land in der Mitte Europas müssen wir unsere Stärke daran messen, wie wir klugen europäischen Kompromissen auf den Weg helfen - mit Frankreich, mit Polen und den anderen europäischen Partnern – auch mit den schwierigen!
Verantwortung, wie ich sie verstehe, bedeutet Verantwortung nicht nur für das eigene Land, sondern zugleich für das gemeinsame europäische Projekt. Sie bedeutet beharrliche Arbeit am fairen Ausgleich von Interessen unter gleichwertigen Partnern - an der schrittweisen Herstellung eines gemeinsamen europäischen Horizonts. All dies nicht nur wegen der Geschichte, sondern aus der nüchternen Einsicht heraus, dass wir Deutsche ein übergeordnetes – politisches - Interesse an einem starken und geeinten Europa haben.
Dieser Verantwortung werden wir nur gerecht werden können, wenn wir genau hinhören und hinschauen, wie unsere Nachbarn auf das gemeinsame Europa blicken. Wenn wir anerkennen, was in Frankreich und in Italien, in Spanien und Portugal an Reformen auf den Weg gebracht worden ist. Wenn wir wahrnehmen, welche Dimensionen die Reformen haben, die von Griechenland verlangt werden mussten.
Ich erinnere mich gut daran, welche Widerstände und politischen Zerwürfnisse die Agenda 2010 in unserem Land ausgelöst hat. Und die Veränderungen hatten nicht die Dimensionen, die wir von unseren Nachbarn, auch von Griechenland, verlangen. Eine Senkung der Löhne um 12 Prozent - das hätte wahrscheinlich auch bei uns Revolutionen ausgelöst. Und insofern sage ich: Nicht nur wir, aber auch wir, werden uns in den nächsten Jahren um Griechenland auf seinem Weg in eine hoffentlich neue und bessere Zukunft mit besonderer Intensität kümmern müssen.
Sensibilität und Verantwortungsbereitschaft werden auch bei der zweiten Generationenaufgabe gebraucht, mit der Europa heute konfrontiert ist: Fast 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Mehr als je zuvor. Nur mit einem Bruchteil davon sind wir Europäer konfrontiert. Aber die Frage nach dem richtigen Umgang mit den vielen nach Europa drängenden Menschen rührt an den Kern dessen, was unsere Gesellschaften und was das geeinte Europa ausmacht und was uns im Innersten zusammenhält.
Deshalb müssen wir jetzt eine Europäische Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik gestalten, die auf Solidarität und Menschlichkeit gründet. Wir brauchen eine neue, viel ehrgeizigere Integration der europäischen Asylpolitik. Dazu haben der Vizekanzler und ich gerade einen Zehn Punkte-Plan vorgeschlagen.
Im Zentrum steht der Grundgedanke: Schutzbedürftigen Flüchtlingen muss Europa auf menschenwürdige Weise Schutz gewähren – und zwar ganz gleich in welchem EU-Land sie ankommen. Kein Flüchtlingsstrom rechtfertigt katastrophale humanitäre Zustände, wie wir sie in diesen Wochen erlebt haben. Deshalb brauchen wir in Europa einheitliche Verfahren, Institutionen und gemeinsame Standards. Dazu gehört auch die Einführung eines verbindlichen Quotensystems, das für eine faire Verteilung von Flüchtlingen in Europa sorgt. Dass die Kommission von Jean-Claude Juncker ein solches System gegen alle Widerstände vorgeschlagen hat, war mutig und richtig. Wir werden es weiter unterstützen.
Hiermit ist ein zweiter Gedanke untrennbar verbunden: Menschenwürdigen Schutz für Schutzbedürftige wird Europa auf Dauer nur dann gewähren können, wenn wir diejenigen rasch zurückführen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Wir brauchen deshalb schnellere Verfahren, raschere Entscheidungen und eine europäische Verständigung darüber, welche Herkunftsstaaten sicher sind. Ich meine, wir sollten uns in Brüssel einigen: Wer die Kriterien eines EU-Beitrittskandidaten erfüllt, der kann kein Verfolgerstaat sein, der muss ein sicherer Herkunftsstaat sein.
Für Deutschland kommt hinzu: Die Zeit ist reif für ein Einwanderungsgesetz, das den demografischen Realitäten in diesem Land Rechnung trägt, in dem mittlerweile jeder fünfte Wurzeln im Ausland hat. Und ich glaube, dass wir den Druck auf die Asyltür ein wenig mildern können, wenn wir gleichzeitig eine zweite Tür über die qualifizierte, gesteuerte Zuwanderung öffnen.
Gerade wir, die wir Außenpolitik machen, müssen schließlich die Probleme von Flucht und Migration viel entschiedener als bisher bei den Wurzeln angehen. Wir müssen neue politische Initiativen zur Bekämpfung von Fluchtursachen in den Ländern des Nahen Ostens und Afrikas entwickeln und sie in die EU und die VN tragen. Die Stabilisierung zerfallender Staaten, die Eindämmung von Gewalt und Bürgerkrieg werden dabei eine Schlüsselrolle spielen.
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Da liegt viel vor uns. Ohne Sie an den Auslandsvertretungen kämen wir da nicht weit. Wir brauchen ihre Ideen – und glauben Sie: ich lese mehr von Ihnen als Sie ahnen. Vor allem brauchen wir Ihre Stimme, Ihre Tatkraft und Ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Nehmen Sie auch die Debatte über Deutschlands Rolle an und beteiligen Sie sich an ihr. Deutschland ist heute – und das sage ich auch nach den Ereignissen in Sachsen, ich bleibe dabei: Deutschland ist ein weltoffenes, tolerantes, kulturell vielfältiges Land. Jetzt muss es den Umgang mit seiner neuen Rolle, seiner Exponiertheit lernen. Wir sind so wenig fehlerfrei wie andere auch. Aber wir haben Anlass genug, unsere Sicht der Dinge und unsere Ideen und Initiativen mit Gelassenheit, hoffentlich ohne Überheblichkeit, aber selbstbewusst vorzutragen.
Vielen Dank.