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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Verleihung des „Preises für Verständigung und Toleranz“ im Jüdischen Museum in Berlin

17.11.2019 - Rede

Als Mitglied der Bundesregierung, zumal als Bundesminister des Auswärtigen erhält man zeitweise Auszeichnungen und Orden. Das Verhältnis zu derartigen Ehrungen relativiert sich mit der Zeit. Ich habe bisher einen Preis erhalten, der mir wirklich viel bedeutet. Die „Gabe der Erinnerung“, verliehen vom Internationalen Auschwitz Komitee.

Einen Preis von Auschwitz-Überlebenden zu bekommen, fühlt sich für mich noch immer wie ein unverdientes Geschenk an.

Heute kommt der zweite Preis dazu, der mir etwas Besonderes ist – der des Jüdischen Museums in Berlin: diesem atemberaubenden Ort, dieser besonderen Institution. Ich möchte mich dafür bedanken.

Es ist mir eine Ehre!

Liebe Frau Emcke,

im Vorfeld dieses Abends haben Sie zu mir gesagt, dass Sie eigentlich so etwas wie eine Laudatio nicht auf jemanden halten können, der noch lebt.

Nun haben Sie heute aber doch eine Ausnahme gemacht. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken!

Ich bin froh, dass ich diese Rede noch miterleben durfte. Ich hätte sonst etwas verpasst.

DIE ZEIT bezeichnete Sie gerade als moralische Instanz.

Ich glaube, es ist vor allem Ihre Sprache, die Menschen berührt, weil sie so radikal humanistisch ist.

In der digitalen Welt haben wir immer mehr Möglichkeiten „Worte“ in die Welt zu schleudern.

Und trotzdem – vielleicht auch deshalb – sind wir immer mehr dabei unsere Sprache zu verlieren.

Ihr Buch „Gegen den Hass“ wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Überraschend finde ich das nicht.

Aber es macht mich nachdenklich. Das Buch ist über drei Jahre alt und erscheint noch immer in einigen Ländern, wie zuletzt Brasilien, als Neuauflage.

Es hat an Aktualität nichts verloren, im Gegenteil. Die Verrohung von Sprache, alltägliche Formen von Hass und Ausgrenzung, sie vergiften unsere Gesellschaften weltweit.

Und seit einigen Jahren erleben wir, wie sich auch unsere Gesellschaft immer weiter polarisiert. Die Ränder werden radikaler, Meinungen prallen unversöhnlich aufeinander.

An den Polen entstehen absolutistische Wagenburgen, die andere Meinungen grundsätzlich ablehnen und jeglichen Diskursversuch mit Prinzipienlosigkeit gleichsetzen. Kompromiss ist ein Schimpfwort geworden. Welch eine fatale Entwicklung!

Die Demokratie braucht Kompromisse – und ohne Kompromisse gibt es keinen Fortschritt.

Dabei besteht Meinungsfreiheit ja doch aus zwei Elementen: Meinung und Freiheit. Und diese Freiheit beginnt erst dort, wo eine oder viele anderslautende Meinungen der eigenen entgegentreten können. Ohne Vielfalt wird Meinungsfreiheit zum Meinungsdiktat.

Meine Damen und Herren,

die Gründe für diese Polarisierung finden wir nicht nur an den Rändern - den politischen oder gesellschaftlichen.

Erst das dröhnende Schweigen der Mehrheit lässt es zu, dass die radikale Minderheit so laut erscheint. Das schafft den Missklang in unserer Gesellschaft. Die schrillen Töne sind viel zu oft die Lautesten. Obwohl sie von einer Minderheit stammen, machen sie den Sound.

Dabei sind eigentlich nicht die hohen und tiefen Frequenzen das Problem, sondern die fehlenden Mitten. Wenn die Zwischentöne fehlen, verzerrt das die gesamte Komposition.

Die Vielstimmigkeit steht auf dem Spiel in unserem Land. Die Mehrheit verstummt viel zu oft angesichts des kompromisslosen Sounds der wenigen. Ein Like in der eigenen Echokammer ist kein Ersatz dafür, Haltung zu zeigen.

Jede und jeder von uns muss sich fragen: bin ich laut genug?

Denn: Auch Schweigen ist politisch.

Und dort wo noch gestritten wird, wird nicht mehr zugehört. Es geht nur darum, die eigene Meinung möglichst widerspruchsfrei vorzutragen.

Deshalb wird das Gegenüber diskreditiert, verächtlich gemacht als „Gutmensch“ oder als „Mitte-Extremist“.

Debatte wird so zur reinen Simulation. Es entsteht kein Austausch, weil es gar nicht um die Suche nach der besten Lösung geht.

Wir dürfen aber das Ringen zwischen unterschiedlichen Meinungen nicht dämonisieren. Dieses Ringen ist oft anstrengend, manchmal schmerzhaft und zeitweise ergebnislos. Sich dem aber nicht zu stellen führt uns ins diskursive Wachkoma. Soweit darf es nicht kommen!

Dafür braucht es das, was der Historiker Timothy Garton Ash „robuste Zivilität“ genannt hat.

Streit, der nicht in erster Linie auf Verletzung des Gegenübers abzielt.

Zu streiten - das ist und bleibt die Lebensader der Demokratie.

Und gleichzeitig die beste Schulung für Toleranz.

Tolerant gegenüber jenen zu sein, die der eigenen Meinung entsprechen, ist keine Leistung. Toleranz heißt, die eigene Komfortzone zu verlassen. Erst dann ist sie etwas wert.

Wenn man einen Preis wie diesen erhält, einen Preis für Verständigung und Toleranz, dann ist es nur zu einem Teil eine Auszeichnung für etwas, das man bereits getan hat. Vielmehr handelt es sich um eine Aufgabe, die man gleich mitbekommt. Dieser Preis sagt: Tun Sie was! Nutzen Sie Ihre Möglichkeiten!

Und dafür danke ich dem Jüdischen Museum, Herr Blumenthal, Herr Michaelis.

Und ich nehme nicht nur den Preis, ich nehme vor allem die Aufgabe gern mit!

Ich muss allerdings einräumen: ich bin nicht tolerant gegenüber allem und jedem: Auch Toleranz hat Grenzen. Und diese werden bestimmt von etwas, das jeder anders nennen mag: Menschenwürde, Anstand, Respekt. Es meint aber eigentlich immer das Gleiche: den anderen als Menschen zu achten.

Rechte Parolen, Verbalattacken auf Minderheiten, das Verdrehen von Fakten, schreckliche Beschimpfungen – all das mag von der Meinungsfreiheit gedeckt sein.

Ich muss und will es aber nicht tolerieren.

Im Gegenteil: Je weiter wir die Meinungsfreiheit fassen, umso wichtiger ist es gerade dann Haltung zu zeigen und laut und vielstimmig zu sagen: Es reicht!

Das Problem ist doch nicht, dass unerträgliche Äußerungen noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Ein Problem entsteht doch erst dann, wenn dem Unsäglichen nicht mehr widersprochen wird – und zwar am schlimmsten, wenn es aus als Toleranz verkleideter Gleichgültigkeit geschieht.

Wohin es führt, wenn menschenverachtende Positionen sich in die Gesellschaft fressen, das haben wir vor einigen Wochen schmerzhaft erfahren. In Halle.

An Yom Kippur.

Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, den ich dort vor einigen Tagen getroffen habe, hat nach dem Anschlag gesagt:

„Wenn wir jetzt keine Maßnahmen ergreifen gegen Antisemitismus, weiß ich nicht, ob die jüdische Gemeinde noch eine Zukunft hat in Deutschland.“

Dieser Satz tut weh.

Mich beschämt es, wenn Jüdinnen und Juden das Gefühl haben, dass Deutschland kein sicheres Zuhause für sie ist.

Und so richtig alle Maßnahmen sind, die gegen Rechtsextremismus in den letzten Wochen auf den Weg gebracht worden sind. Am Ende bleibt die Tatsache, dass wir jüdische Einrichtungen mit Polizisten vor Angriffen schützen müssen, in Deutschland 2019, vor allem eines: ein Armutszeugnis für unser Land.

Um die Wurzeln zu kappen von Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus müssen wir die Gesellschaft immunisieren gegen den Hass.

Dabei spielt der Kampf gegen das Vergessen eine zentrale Rolle. Deshalb bin ich froh, dass grade in dieser Woche ein Baustein für die Zukunft der Erinnerungsarbeit gesichert worden ist.

Bund und Länder haben sich darauf verständigt, gemeinsam bis zu 60 Millionen Euro für den dauerhaften Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau aufzubringen.

75 Jahre nach der Befreiung ist es angebracht, ein Zeichen zu setzen, dass Deutschland auch in Zukunft zu seiner historischen Verantwortung steht.

Gerade weil die Überlebenden nicht mehr lange persönlich ihre Geschichte erzählen können, wird die Auseinandersetzung an den Orten des millionenfachen Völkermords immer wichtiger.

Die Auseinandersetzung damit, wozu Menschen fähig sind und wohin Menschenverachtung führen kann darf nie enden.

Meine Damen und Herren,

wenn uns die hohen und tiefen Frequenzen in dem Stück namens Gesellschaft nicht gefallen, dann kann die Lösung nicht sein, dass sich alle die Ohren zuhalten.

Oder noch schlimmer, dass wir uns mit Hass und Hetze als lästigem Grundrauschen abfinden.

Nein! Toleranz bedeutet, Menschenverachtung nicht hinzunehmen.

Auch wenn die Hetzer die Frequenz erhöhen – wir sind mehr! Das ist unser Land.

Und das muss hörbar werden.

Seien wir vielstimmig!

Dann ändern wir den Sound.

Vielen Dank!


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