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Reden trotz Krise - Die OSZE (Folge #80) - Transkript
Susanne Schütz: Die OSZE ist zunächst eine Dialogplattform.
Susanne Schütz: Auch die Wirtschafts- und Umweltdimension der OSZE ist in der Tat sehr wichtig, gerade auch unter dem Sicherheitsaspekt. Da spielen Themen eine Rolle wie Kampf gegen die organisierte Kriminalität oder Korruption.
Susanne Schütz: Es wird eine Herausforderung sein, auch wieder mit Russland ins Gespräch zu kommen. Allerdings ist die Voraussetzung, dass zunächst einmal ein Waffenstillstand vereinbart wird.
Susanne Schütz: Wir wissen gerade auch von den kleineren Staaten, dass ihnen die OSZE sehr wichtig ist.
Julia Lehrter: OSZE. Das klingt ähnlich wie OECD, ist aber etwas völlig anderes. Während die OECD über Wirtschaft spricht, redet die OSZE, kurz für „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“, eben über Sicherheit. Seit einem halben Jahrhundert ist sie das zentrale, sicherheitspolitische Forum Europas. Mit dabei: 57 Staaten aus Nordamerika, Europa und Zentralasien. Gegründet im Kalten Krieg, geblieben in der Krise. Doch was kann eine Organisation leisten, in der Russland und die Ukraine gleichzeitig am Tisch sitzen? Heute sprechen wir mit einer Frau, die das weiß: Susanne Schütz, Deutschlands Botschafterin bei der OSZE in Wien. Hallo Frau Schütz, schön, dass Sie da sind.
Susanne Schütz: Hallo.
Julia Lehrter: Frau Schütz, Sie sind seit über drei Jahrzehnten im Auswärtigen Amt unterwegs. Was hat Sie damals zur Diplomatie geführt?
Susanne Schütz: Ich gehe mal zurück. Ich bin selber ja im Kalten Krieg aufgewachsen und hatte mich schon im Gymnasium bewusst entschieden, Russisch zu lernen. Das wurde damals in Düsseldorf, wo ich aufgewachsen bin, angeboten und habe dann auch später das im Studium fortgesetzt und bin während meines Studiums dann auch mal einige Monate im damaligen Leningrad gewesen. Das war noch zu Sowjetzeiten. Und tatsächlich ganz wichtig war für mich, dass ich damals in Leningrad auch Kontakt hatte zum Generalkonsulat und zum dortigen Generalkonsul, der mich dann bei meiner Frage, ja, wie ist denn das eigentlich, kann man sich für das Auswärtige Amt bewerben, auch als Frau und als Nicht-Juristin?, der damals ganz klar gesagt hat, auf jeden Fall, es werden Frauen gesucht, und es werden auch Nicht-Juristen gesucht und hat mich bestärkt, mich zu bewerben, und das habe ich gemacht und war dann auch erfolgreich. Es war immer auch von Anfang an mein Wunsch - gerade auch mit Sprachkenntnissen, Landeskenntnissen - zu Dialog und Verständigung beitragen zu können.
Julia Lehrter: Wir haben gerade gehört, Sie waren im Studium schon viel unterwegs, aber auch im Amt hatten Sie dann einige beeindruckende Stationen: Kiew, Moskau, Tel Aviv, Rom, Tirana. Gab es davon eine Station, die Sie besonders geprägt hat?
Susanne Schütz: Grundsätzlich kann ich sagen, dass ich alle Posten, die ich gemacht habe, immer sehr spannend fand. Und Sie sagten Israel, das war vor 30 Jahren, zu Zeiten des Osloer Friedensprozesses, und da natürlich auch gerade die Begegnung mit den Israelis, die in den 30er Jahren aus Deutschland geflohen waren und Gott sei Dank den Holocaust überlebt hatten. Moskau, Anfang der 2000er Jahre, das waren gerade die ersten Schritte Putins, die damals schon erkennen ließen, dass er vor allen Dingen auf Kontrolle und Gewalt gesetzt hat. Und dann ein wunderbarer Posten: Rom, vier Jahre. Und, Italien glauben wir zu kennen, aber dennoch habe ich auch in den vier Jahren so viel Neues erlebt. Und dann Albanien, wo ich das erste Mal Botschafterin war, das war auch ganz toll, mit einem ganz tollen Team an der Botschaft. Aber ganz klar am meisten geprägt hat mich Kiew. Kiew war mein erster Posten. Kurz nach der Unabhängigkeit der Ukraine bin ich im September 1991 noch an das damalige Generalkonsulat gegangen. Dieses Generalkonsulat wurde dann Anfang 1992 in eine Botschaft umgewandelt. Und ich habe es noch vor Augen, wie wir damals das Schild ausgetauscht haben, das war ein wirklich bewegender Moment. Und es war wirklich spannend gerade in diesen ersten Jahren dabei zu sein, als die Ukraine selbst noch Ihre ersten Schritte in die Unabhängigkeit gegangen ist, die Diskussionen, welche Flagge nehmen wir, welche Hymne, welches Geld und all das. Also das war wirklich spannend, und ich bin dann später 2007 bis 2010 noch mal an die Botschaft Kiew gegangen, war damals ständige Vertreterin, und das war natürlich dann schon eine ganz andere Zeit, aber eben auch eine Zeit, wo doch sehr klar war, dass die Ukraine ihre Unabhängigkeit gegen viele Widerstände, auch im Inneren, auf jeden Fall verteidigt hat.
Julia Lehrter: Sie waren also vorher schon einmal Botschafterin, und Ihre Rolle bei der OSZE ist ja jetzt ganz anders als die Rolle, die Sie vorher hatten als Botschafterin, weil Sie jetzt Deutschland nicht gegenüber einem anderen Staat, sondern eben gegenüber einer Organisation vertreten. Wie verändert sich die Rolle einer Botschafterin, wenn man jetzt nicht ein Gegenüber hat, sondern eben 56 andere Delegationen?
Susanne Schütz: Also tatsächlich ist die multilaterale Arbeit fundamental anders, als die Arbeit, die man als bilaterale Botschaft hat. Zum Beispiel habe ich hier in Wien mit Österreich gar nichts zu tun, abgesehen vom Kontakt zu meinem sehr netten österreichischen Botschafterkollegen. Multilateral heißt hier bei der OSZE der Umgang mit 56 Teilnehmerstaaten, wobei ich gleich hinzufüge, dass wir seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mit Russland und Belarus nicht mehr sprechen und ich damit de facto hier nur mit 54 Kollegen den regelmäßigen Umgang habe. Aber auch das heißt eben, dass die Vielfalt der jeweiligen Interessen und Prioritäten zu berücksichtigen ist bei Gesprächen, die Vielfalt auch der Konflikte, die Staaten untereinander haben. Das macht es unglaublich spannend, aber gleichzeitig natürlich auch sehr herausfordernd. Verhandlungen dauern länger, können sich ja über einige Zeit hinziehen. Und idealerweise ist natürlich das Ziel immer, dann auch einen Kompromiss zu finden und zu Entscheidungen zu kommen, die von allen mitgetragen werden.
Julia Lehrter: Vielleicht können wir geschichtlich nochmal ein bisschen zurückgehen. Die OSZE hat ihre Wurzeln ja im Kalten Krieg mit der KSZE und der Schlussakte von Helsinki. Was war damals die Idee dahinter?
Susanne Schütz: Ja, die Idee reicht eigentlich zurück in die Entspannung im Ost-West-Verhältnis eben eigentlich schon Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre. Die Verhandlungen zur KSZE-Schlussakte, die dann 1975 in Helsinki letztlich von damals 35 Teilnehmerstaaten unterzeichnet wurde, die haben ungefähr sechs Jahre gedauert. Da ging es eben darum, dass man der Aufrüstung ein Ende setzte durch Vertrauen, gleichzeitig aber auch durch Kontrolle. Und wichtig war auch, dass man Erleichterung schaffte für menschliche Kontakte und mit der KSZE-Schlussakte auch eine Berufungsgrundlage geschaffen hat für die Achtung der Menschenrechte, auch jenseits des Eisernen Vorhangs. Die UdSSR war damals insbesondere daran interessiert, die Nachkriegsgrenzen festzuschreiben und auch den Status Quo zu erhalten.
Julia Lehrter: Helsinki-Schlussakte habe ich gerade gesagt. Und: Finnland hat dieses Jahr den Vorsitz. Ist das was Besonderes?
Susanne Schütz: Ja, also Finnland hat sich schon 2021 entschieden, zum 50. Jahrestag der Schlussakte von Helsinki 2025 den Vorsitz der OSZE zu übernehmen. Dieser Vorsitz wechselt jährlich, und seit 1. Januar ist also Finnland hier im Vorsitz. Seit 2021 aber sind natürlich eine ganze Reihe von Ereignissen passiert. Wir hatten den Angriffskrieg 2022 im Februar. Finnland ist zwischenzeitlich auch Mitglied der NATO geworden und das sind alles Entscheidungen, die natürlich das Klima heute ganz wesentlich auch mitbestimmen, und es ist definitiv keine Jubelfeier, aber es ist eben schon ein Anlass, sich nochmal zu vergegenwärtigen, was die OSZE auch 50 Jahre nach der Schlussakte noch bedeutet in der heutigen Zeit.
Julia Lehrter: Es gibt zehn Prinzipien in der Helsinki-Schlussakte. Welche sind das?
Susanne Schütz: Ich zähle die jetzt einfach mal auf: Souveräne Gleichheit und Achtung der Rechte aller Staaten, Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt, Unverletzlichkeit der Grenzen, territoriale Integrität der Staaten, friedliche Beilegung von Streitigkeiten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich Gewissens- und Religionsfreiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker, Zusammenarbeit zwischen den Staaten, und Erfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen in gutem Glauben.
Julia Lehrter: Jetzt sagen viele, dass Russland alle Prinzipien im Angriffskrieg gegen die Ukraine gebrochen hat. Was heißt das denn für die gemeinsame Arbeit in der OSZE?
Susanne Schütz: Also in der Tat hat Russland gegen alle zehn Prinzipien der Helsinki-Schlussakte verstoßen. Souveräne Gleichheit und Achtung der Rechte aller Staaten, allein da beginnt es schon. Und wenn wir weitergehen: Androhung und Anwendungen von Gewalt – [dagegen] wird natürlich massiv seit dem 24. Februar 2022 verstoßen. Und territoriale Integrität… Das sind alles Prinzipien, gegen die Russland verstoßen hat. Und wir, wir heißt die EU und auch weitere Staaten, like-minded Staaten, erinnern Russland in jedem Ständigen Rat einmal in der Woche daran, dass es gegen diese Prinzipien verstoßen hat. Und dass wir erwarten, dass Russland als Teilnehmerstaat dieser Organisation sich sofort aus der Ukraine zurückzieht und die territoriale Integrität der Ukraine in ihren anerkannten internationalen Grenzen achtet. Das heißt eben Rückzug auf die Grenzen nicht nur vor 2022, sondern Rückzug auf die Grenzen auch vor der Besetzung und Annexion der Ostukraine und auch der Krim. Und für den Umgang heißt es, ich sagte eben schon, dass wir seit Februar 2022 keinen Kontakt haben zu Russland und Belarus, der über den Kontakt in den Ständigen Räten oder in den Gremien hinausgeht. Es heißt natürlich insbesondere auch, dass jegliches Vertrauen untereinander verspielt worden ist und wir uns natürlich schon die Frage stellen, wie man in diese Organisation überhaupt wieder zu Vertrauen, zu 57, wird zurückkehren können. Allen ist klar, dass es kein einfaches Zurück geben wird zu dem 23. Februar 2022, also zu der Situation, die vor dem Krieg bestand, weil eben einfach so massiv das Vertrauen verloren gegangen ist. Aber gleichzeitig, und das sagen immer wieder alle, die OSZE ist eine Organisation, die im Kalten Krieg ins Leben gerufen worden ist, um gerade mit Gegnern auch im Gespräch zu bleiben und nach Möglichkeiten zu suchen, Konflikte friedlich beizulegen. Und es wird eine Herausforderung sein auch wieder mit Russland ins Gespräch zu kommen. Allerdings ist die Voraussetzung, dass zunächst einmal ein Waffenstillstand vereinbart wird zwischen Russland und der Ukraine und tatsächlich zumindest ein Ende der Gewalt beschlossen wird.
Julia Lehrter: Es gibt kein formales Ausschlussverfahren keine Sanktionen innerhalb der OSZE. Welche Möglichkeiten hat die Organisation denn?
Susanne Schütz: Ja, es ist richtig, dass es keine Sanktionen gibt, aber die OSZE ist zunächst eine Dialogplattform und im Konflikt oder im Krieg gegen die Ukraine bedeutet das, dass der Ständige Rat, das heißt der Rat der ständigen Vertreter der OSZE, der sich einmal in der Woche zu Sitzungen trifft, dass dieser Ständige Rat seit Februar 2022 als ersten Tagesordnungspunkt immer den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auf der Agenda hat und die Ukraine als erstes allen Teilnehmerstaaten vor Augen führt, welche Gewalt in der abgelaufenen Woche wieder in der Ukraine verübt worden ist. Luftangriffe oder auch andere Art von Angriffe[n] auf die zivile Infrastruktur, auf Zivilisten, all das sehen wir seit drei Jahren ganz unmittelbar. Die OSZE hat darüber hinaus aber auch Konfliktbeilegungsmechanismen. Da gibt es den Wiener Mechanismus und auch den Moskauer Mechanismus. Der Moskauer Mechanismus, das muss man vielleicht ergänzen, wurde 1991, zu Zeiten guter Kooperation mit Russland, in der OSZE in Moskau vereinbart, heißt deshalb eben Moskauer Mechanismus, und heißt, dass man bei eklatanten Menschenrechtsverstößen, dass da Experten eine Dokumentation erstellen über Menschenrechtsverstöße, idealerweise gemeinsam mit den Staaten und dann auch Empfehlungen gibt, wie diese Menschenrechtsverstöße behoben werden können. Seit Beginn des Krieges sind bereits mehrfach Moskauer Mechanismus-Berichte angefordert und erstellt worden und, wie Sie sich vorstellen können, natürlich nicht in Abstimmung mit Russland, aber trotzdem in enger Abstimmung mit Ukraine und unter Verwendung von Zeitzeugenberichten aus der Ukraine. Und diese Dokumentationen sind sehr wichtig und werden auch in der Ukraine von Menschenrechtsverteidigern als sehr wichtig betrachtet, nicht zuletzt um Russland auch zur Verantwortung ziehen zu können, wenn es darum geht, auch strafrechtliche Folgen dieses Krieges zu bewerten.
Julia Lehrter: Ich glaube, da kann man sagen, dass die OSZE als politisches Instrument eben nicht unterschätzt werden darf.
Susanne Schütz: Auf keinen Fall. Also, die OSZE ist eben doch bis heute eine Organisation, in der Teilnehmerstaaten, Sie sagten es zu Anfang, aus Nordamerika, Europa und Zentralasien zusammensitzen, und die auch eben gerade über Bündnisse hinweg Staatenvertreter an einen Tisch bringt, eben auch Zentralasien, zusammen mit Nordamerika, über EU und NATO hinweg, und wir wissen gerade auch von den kleineren Staaten, dass ihnen die OSZE sehr wichtig ist, für Andorra oder San Marino ganz wichtig, weil sie sich überhaupt nur wenige Auslandsvertretungen leisten können und sie dann auch hier in Wien mit sehr vielen anderen Staaten Austausch pflegen. Aber zum Beispiel auch für andere, für Zentralasien zum Beispiel oder auch die Staaten des südlichen Kaukasus, die eben nicht Mitglied sind der EU und hier im Dialog sein können mit anderen Teilnehmerstaaten, mit denen sie sonst nicht in anderen Bündnissen sind, außer den Vereinten Nationen. Aber das ist natürlich wieder ein ganz anderer Kreis mit über 190 Staaten.
Julia Lehrter: Die Schlussakte von Helsinki hat die OSZE auf drei Grundpfeiler gestellt, die sogenannten Körbe. Heute wird von Dimensionen gesprochen. Was verbirgt sich hinter diesen drei Dimensionen?
Susanne Schütz: In der ersten Dimension geht es um klassische Sicherheitsfragen, also zum Beispiel Rüstungskontrollmechanismen oder auch andere militärisch-politische Fragen. In der zweiten Dimension, da geht es um Wirtschafts- und Umweltthemen und die dritte Dimension widmet sich dem humanitären Bereich, also kurz gefasst: Menschenrechtsthemen.
Julia Lehrter: Genau, lassen Sie uns da vielleicht nochmal ein bisschen genauer reingehen. In der ersten Dimension der OSZE geht es um klassische Sicherheitsfragen, wie Sie gerade gesagt haben. Also sowas wie vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung. Rüstungskontrolle ist auch ein wichtiges Thema. Welche Rolle spielen diese Mechanismen aktuell noch?
Susanne Schütz: Die Rüstungskontrollmechanismen in der OSZE sind nicht erst mit dem Krieg gegen die Ukraine erodiert. Schon seit 1999 gab es leider vergebliche Versuche, die Mechanismen zu modernisieren. Und mit dem Rücktritt Russlands aus dem KSE-Vertrag 2023 und der anschließenden Suspendierung des Vertrags durch fast alle anderen Vertragsstaaten ist die Implementierung dieses KSE-Vertrags weitgehend ausgesetzt. Aber es gibt noch das Wiener Dokument aus dem Jahr 2011, das bis heute ein grundlegendes, politisch verbindliches Abkommen zur militärischen Vertrauensbildung zwischen den Teilnehmerstaaten der OSZE, und auch den sogenannten Vertrag über den offenen Himmel, der weiter existiert und auch weiterhin implementiert wird, gleichwohl vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine mit Einschränkungen. Es gibt darüber hinaus aber auch Sicherheitsaspekte im weiteren Sinne zum Beispiel grenzüberschreitende Bedrohungen wie Menschenhandel oder auch Cyberthemen, Kampf gegen den Terrorismus, die auch in der OSZE in der Zusammenarbeit eine Rolle spielen.
Julia Lehrter: Die zweite Dimension wirkt auf den ersten Blick weniger politisch. Es geht um wirtschaftliche Zusammenarbeit und Umweltthemen. Welchen Stellenwert hat dieser Bereich?
Susanne Schütz: Auch die Wirtschafts- und Umweltdimension der OSZE ist in der Tat sehr wichtig, gerade auch unter dem Sicherheitsaspekt. Da spielen Themen eine Rolle wie Kampf gegen die organisierte Kriminalität, oder Korruption, oder auch Geldwäsche. Auch das sind sicherheitsrelevante Vergehen. Es geht aber auch darum, wie die Staaten sich besser ausrüsten können, oder wie die Staaten Klimawandel und Extremwetterereignisse besser abmildern können, und das spielt zum Beispiel in Regionen wie Südosteuropa, Zentralasien oder Kaukasus eine große Rolle, und da ist die OSZE auch in der Beratung dabei, in der Zusammenarbeit, zum Beispiel auch bei Fragen Gletscherschmelze und Überschwemmungen oder auch wie kann man gegen Wasserknappheit vorgehen, immer wieder auch Grund für Konflikte zwischen Staaten, sodass es hier eine ganz unmittelbare Sicherheitsrelevanz gibt.
Julia Lehrter: Und die dritte Dimension umfasst Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten. Das ist aber aus OSZE-Sicht keine moralische Nebensache, sondern eben ein Sicherheitsfaktor, richtig?
Susanne Schütz: Genau, auch die Freiheit des Einzelnen und die Einhaltung von Respekt von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten spielt eine unmittelbare Rolle für die Sicherheit einer Gesellschaft. Und da geht es eben auch darum, zum Beispiel transparente Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, Toleranz und Nichtdiskriminierung zu verankern. Und zentrale Institution zur Überwachung dieser Verpflichtungen ist das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte in Warschau, das wir kennen als ODIHR –[das] ist die Abkürzung – und das sich eben gerade auch im Bereich Wahlbeobachtung engagiert.
Julia Lehrter: Wie reagiert die OSZE denn, wenn Staaten zum Beispiel Wahlbeobachtung blockieren oder Grundfreiheiten einschränken?
Susanne Schütz: Also zunächst hat sich jeder Teilnehmerstaat der OSZE dazu verpflichtet, zu nationalen Wahlen Beobachtungsmissionen einzuladen. Und tatsächlich ist es für die meisten Teilnehmerstaaten auch eine Verpflichtung, der sie nachkommen. Ausnahmen sind in den letzten Jahren Russland und auch Belarus gewesen. Belarus hat zwar auch bei den letzten Wahlen eingeladen, aber mit so kurzer Vorlaufzeit, dass die Aufstellung einer seriösen Wahlbeobachtungsmission gar nicht mehr möglich war. Diese Wahlbeobachtungsmissionen müssen gut vorbereitet werden. Es werden Langzeitwahlbeobachter schon einige Monate vor Wahlen hingeschickt und dann ein größerer Teil von Kurzzeitwahlbeobachtern wenige Tage vor der Wahl selbst, und die tragen eine Fülle von Daten zusammen, Beobachtungen des politischen Umfelds, des Medienumfelds und auch der Freiheit von Wahl-Kampagnen, und diese Daten werden hinterher aggregiert zu einem Bericht, der viele sagen, der Goldstandard ist von Wahlbeobachtungen und tatsächlich ein ganz wichtiges Element ist, dass sehr viel aussagt über die Freiheit der Wahlen. Das Wichtige bei ODIHR und OSZE ist immer auch, dass dann auch Empfehlungen gegeben werden, wie die Länder bis zu den nächsten Wahlen ihre Gesetzgebung in Einklang mit den internationalen Standards bringen. Oder auch eben Wählerregister und viele Einzelheiten.
Julia Lehrter: Ich glaube, damit haben wir einen sehr, sehr guten Überblick über die Dimensionen, die drei Dimensionen der OSZE bekommen. Es gibt da noch eine Agenda: Women, Peace and Security, und die ist Ihnen ein besonderes Anliegen. Oft wird sie in die dritte, die Menschenrechtsdimension, geschoben. Dabei betrifft sie auch militärische Sicherheitsfragen. Können Sie das erklären?
Susanne Schütz: Ja, die WPS-, oder die Women, Peace and Security-Agenda ist ganz klar dimensionenübergreifend. Die vereint politische, wirtschaftliche, sicherheitsrelevante und menschenrechtliche Aspekte, um eine umfassende Friedens- und Sicherheitsarchitektur zu schaffen. Besonders wichtig ist dabei der Sicherheitsaspekt, da Frauen wichtige Akteurinnen sind, die gleichberechtigt in Konfliktverhinderung und auch Konfliktmanagement einbezogen werden müssen, um Stabilität und langfristigen Frieden zu stärken. In der Tat haben Expertisen festgestellt, dass dort, wo auch Frauen beteiligt sind an Konfliktlösungen und Friedensverhandlungen, die Chance, dass solche Konfliktlösungen dann nachhaltig sind, um ein Vielfaches größer sind als dort, wo eben Frauen nicht beteiligt sind, und gerade im Sicherheitsbereich sind Frauen in vielen Ländern noch deutlich unterrepräsentiert. Das gilt für Deutschland, aber es gilt in noch viel größerem Maße für andere Regionen zum Beispiel westlicher Balkan oder auch Zentralasien. Daneben gibt es aber auch eine ganze Reihe von Projekten, wo eben die Sicherheit VON Frauen eine Rolle spielt. Und da gibt es zum Beispiel Projekte auf dem westlichen Balkan. Da geht es um die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt, bei der die OSZE mit Polizisten zusammenarbeitet, um sie überhaupt für häusliche Gewalt zu sensibilisieren und damit auch Frauen die Scheu zu nehmen, sich in Fällen von häuslicher Gewalt an die Polizei zu wenden und dort auch Hilfe zu bekommen. Oder ein weiteres Projekt, wo wir als Deutschland auch unterstützen, sind Frauenhäuser, Frauenzentren in Tadschikistan, wo wir auch außerhalb der Hauptstadt Zentren unterstützen, die Frauen beraten, ihnen Rechtsberatung geben und ihnen aber auch Schutz gewähren, wenn sie zu Hause unter Druck stehen.
Julia Lehrter: Ein Thema bei der OSZE, mit dem wird sich, glaube ich, mehr beschäftigt, als man sich das so eigentlich wünschen würde, und das ist nämlich das Thema Haushalt. Seit 2022 gibt es keinen beschlossenen Haushalt für die OSZE mehr. Warum ist das so und was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Susanne Schütz: Ich schicke voraus, dass alle Entscheidungen in der OSZE im Konsens zu beschließen sind, und das sind immer die 57 Teilnehmerstaaten und da hat jeder Teilnehmerstaat die Möglichkeit, ein Veto auszuüben. Beim Haushalt haben wir seit 2021 leider keinen Konsens mehr gefunden. In den ersten Jahren, gleich nach Beginn des Krieges war es Russland, das den Haushalt blockiert hat. Letztes Jahr, und auch noch in diesem Jahr, sind Armenien und Aserbaidschan die beiden, die eine Einigung bislang verhindert haben. Wir hoffen, dass es möglich sein wird, hier einen Kompromiss zu finden und damit auch der Haushalt für 2025 im Konsens verabschiedet werden kann. Schon seit 2022 lebt die OSZE mit vorläufiger Haushaltsführung. Das ist natürlich sehr mühsam, weil es die Planbarkeit einschränkt, weil es auch sehr viel Unsicherheit bedeutet und leider auch mit der Inflation und Preissteigerungen überhaupt dazu geführt hat, dass de facto die 2021 noch beschlossenen 138 Millionen Euro heute nicht ausreichen, um Personal und Mandat so auszustatten, dass die OSZE die Arbeit erfüllen kann, für die wir sie auch mandatiert haben.
Julia Lehrter: Also, es wird der Haushalt manchmal blockiert, aber auch Personalentscheidungen oder Budgets, um eben eigene Interessen durchzusetzen. Wie gehen Sie als Delegation damit um?
Susanne Schütz: Da gibt es nur die Möglichkeit, mit den Staaten zu sprechen. Zunächst ist das natürlich die Aufgabe des Vorsitzes - gegenwärtig Finnland -, aber auch des Generalsekretärs, und die Teilnehmerstaaten, wir in diesem Fall, sprechen natürlich auch mit den Staaten, um sie davon zu überzeugen, ihre Partikularinteressen zurückzustellen, um das Wohl der Organisation und die Funktionalität auch der OSZE und ihren Fortbestand sichern zu können.
Julia Lehrter: Stellen wir uns noch einigen Zukunftsfragen. Wenn Sie an die Zeit nach dem Krieg gegen die Ukraine denken, welche Rolle stellen Sie sich für die OSZE vor?
Susanne Schütz: Also vorausgesetzt, dass es einen Waffenstillstand gibt, hat die OSZE die Instrumente, um einen solchen Waffenstillstand zu beobachten. Die OSZE drängt sich nicht auf. Dadurch, dass sowohl Russland als auch die Ukraine Teilnehmerstaaten der OSZE sind und sie über Instrumente verfügt, kann sie eine Rolle spielen, vorausgesetzt eben, dass sich auch Russland und Ukraine auf ein Mandat einigen. Und dabei wäre es wichtig, wenn man die OSZE einbeziehen will, dass man sie frühzeitig einbezieht, damit sie auch deutlich machen kann, was sie kann und was sie gegebenenfalls auch nicht kann.
Julia Lehrter: Und nochmal größer gefasst, wenn Sie auf die nächsten Jahre blicken: Was wünschen Sie sich für die OSZE und was für die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt?
Susanne Schütz: Also da wünsche ich mir, dass die OSZE weiterhin eine Rolle spielen kann als Dialogplattform zur Beilegung von Konflikten und Vertrauensbildung, dass wir mit allen Teilnehmerstaaten auch wieder zu einer Situation des Vertrauens zurückkehren können und dass ihre Instrumente auch genutzt werden. Ich glaube, das wird lange dauern. Und dass wir auch nach einem Waffenstillstand in der Ukraine zunächst einmal damit umgehen müssen, das Misstrauen zu managen, aber auch dafür kann die OSZE hilfreich sein.
Julia Lehrter: Vielen, vielen Dank für die Erläuterung. Frau Schütz, schön, dass Sie heute dabei waren.
Susanne Schütz: Ja, es hat mich auch sehr gefreut
Julia Lehrter: Das war unsere Folge mit Susanne Schütz, Botschafterin bei der OSZE in Wien. Von der Komplexität diplomatischer Verhandlungen über Krisenbewältigung bis hin zu Menschenrechten und Genderfragen: Die OSZE bleibt ein Ort, an dem miteinander gesprochen wird. Auch dann, wenn sich andere Türen längst geschlossen haben. Danke fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal beim Podcast vom Posten