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Außenminister Johann Wadephul im Interview mit der Gazeta Wyborcza

29.09.2025 - Interview

Übersetzung des Interviews aus dem Polnischen

Frage:

Russland hat kürzlich erneut den Luftraum der NATO-Staaten Estland und Polen verletzt. Tun wir genug, um dies zu verhindern? Sind diplomatische Proteste gegen Russland wirksam? Oder sollten wir entschlossener reagieren und russische Flugzeuge abschießen, die in unseren Luftraum eindringen, wie es kürzlich Petr Pavel, der Präsident der Tschechischen Republik, vorgeschlagen hat?

Johann Wadephul:

Diese Vorfälle sind nicht nur Regelverstöße, sie sind brandgefährlich. Der Vorfall in Polen hat jedoch auch gezeigt: Unsere Zusammenarbeit funktioniert. Polnische, deutsche, niederländische und italienische Systeme haben gemeinsam dafür gesorgt, dass russische Drohnen abgeschossen werden konnten. Die Botschaft an Moskau ist daher klar: Die Alliierten stehen zusammen, als NATO werden wir unsere Grenzen entschlossen schützen. Auch dass Polen und Estland im Anschluss die Konsultationen nach Artikel 4 eingeleitet haben, war richtig und notwendig. Gleichzeitig lassen wir uns nicht in eine Eskalation treiben. Die Stärke der NATO liegt auch darin, kühlen Kopf zu bewahren.

Frage:

Ist es realistisch, russische Raketen und Drohnen über ukrainischem Gebiet abzuschießen, damit sie nicht in den Luftraum der NATO gelangen?

Johann Wadephul:

Das Recht zur Verteidigung des ukrainischen Luftraums liegt bei der Ukraine. Wir unterstützen sie dabei mit modernster Ausrüstung, damit Angriffe so früh wie möglich gestoppt werden. Denn, je früher russische Angriffe abgewehrt werden, desto sicherer sind auch wir. Für die NATO gilt: Wir schützen unser Gebiet konsequent. Russland muss Provokationen dringend unterlassen, um nicht leichtfertig eine gefährliche Eskalation zu riskieren, die niemand wollen kann.

Frage:

Ohne Vereinigte Staaten wird es schwierig sein, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Die bisherigen diplomatischen Bemühungen von Präsident Trump sind gescheitert. Die Amerikaner beschränken auch den Waffenexport an verbündete Länder. Sind die USA noch ein Partner, auf den wir uns verlassen können?

Johann Wadephul:

Ja, die USA bleiben ein verlässlicher Partner. Die transatlantische Zusammenarbeit ist ein zentraler Pfeiler unserer Sicherheit. Präsident Trump lässt daran keinen Zweifel. Genauso wenig übrigens wie mein Amtskollege Marco Rubio, mit dem ich in der vergangenen Woche in New York gesprochen habe. Es ist absolut klar: Wir verteidigen gemeinsam jeden Zentimeter des NATO-Gebiets – heute und morgen. Genauso geschlossen treten wir Putin entgegen - mit der Bereitschaft, ernsthafte Verhandlungen mit der Ukraine zu ermöglichen, und gleichzeitig mit der klaren Aussage, dass wir auf der Seite von Recht und Freiheit stehen. Dabei wächst allerdings Europas Verantwortung. Wir investieren mehr, wir koordinieren enger, wir stärken unsere eigene Handlungsfähigkeit. Für Deutschland ist dabei die Zusammenarbeit mit Polen und Frankreich besonders wichtig.

Frage:

Sie haben kürzlich gesagt, dass Deutschland eine wichtige Rolle bei der Sicherung des Friedens in der Ukraine spielen wird. Was bedeutet das, wenn man bedenkt, dass Sie gleichzeitig die Stationierung deutscher Soldaten auf ukrainischem Territorium ausgeschlossen haben?

Johann Wadephul:

Um das ganz klar zu sagen: Deutschland ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wie genau ein zukünftiges Engagement aussehen könnte, darüber sprechen wir derzeit noch mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern. Wir sind uns dabei über das Ziel völlig einig, nämlich, dass die Ukraine in der Lage sein muss, künftige russische Aggressionen wirksam und glaubwürdig abzuschrecken. Dafür braucht es belastbare Sicherheitsgarantien – aus unserer Sicht vor allem die Stärkung der ukrainischen Streitkräfte. Sonst stehen wir in einigen Monaten oder Jahren wieder am selben Punkt wie jetzt. Dazu haben wir in der vergangenen Woche einen sehr substantiellen Vorschlag gemacht, der darauf abzielt, langfristig und rechtssicher die Finanzierung der ukrainischen Verteidigung sicherzustellen. Parallel dazu verschärfen wir auch weiter die Sanktionen gegen Russland. Denn dieser Krieg endet erst, wenn Putin erkennt, dass er in einer Sackgasse steckt. Nur dann wird er ernsthaft verhandeln.

Frage:

Im Gegensatz zu Ihrer Vorgängerin haben Sie mehr Zusammenarbeit mit Polen angekündigt. Was bedeutet das konkret? Die polnische Seite würde eine Zusammenarbeit im militärischen Bereich begrüßen: die Lieferung eines weiteren Patriot-Systems und die Schaffung eines gemeinsamen Luftabwehrsystems. Ist das realistisch?

Johann Wadephul:

Die Zusammenarbeit mit Polen hat für die gesamte Bundesregierung höchste Priorität. Und sie ist längst sehr konkret. Nach dem Regierungswechsel in Polen 2024 haben wir die Regierungskonsultationen wieder aufgenommen und einen umfangreichen Aktionsplan für die bilaterale Zusammenarbeit beschlossen. Alle Ministerien auf beiden Seiten arbeiten daran mit. Auch Wirtschaft, unsere Regionen, die Städte und Gemeinden und die Zivilgesellschaft sind eng eingebunden – gerade im Grenzgebiet, aber nicht nur dort.

Und auch ganz persönlich ist mir die Zusammenarbeit mit Polen ein Herzensanliegen – auch gemeinsam mit Frankreich im Weimarer Dreieck. Denn ich bin zutiefst überzeugt: In diesem Format, das unsere Länder mit all ihrem Gewicht zusammenbindet, steckt noch viel mehr als es die turnusmäßigen Treffen heute vermuten lassen. Ich kann mich gut an meine Begeisterung erinnern, als dieses Format 1991 von den Außenministern Skubiszewski, Dumas und Genscher ins Leben gerufen wurde. Ich war damals Ende 20, hatte mein ganzes Leben in einem geteilten Deutschland und einem geteilten Kontinent gelebt und plötzlich gab es da eine Vision von einem wirklich geeinten Europa. Endlich ohne Blockgrenzen, ohne Unterscheidung in Westen und Osten, verbunden durch unsere Liebe zur Freiheit. Diese Vision hat mich als Außenpolitiker immer geleitet. Diese Aufbruchstimmung, diesen Enthusiasmus, diesen Gestaltungswillen kann unser Europa auch heute dringend gebrauchen –genau das will ich zusammen mit meinen Kollegen aus Polen und Frankreich in die heutige Zeit tragen.

Neben der Vertiefung der menschlichen Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern ist das Gebot der Stunde natürlich die enge Zusammenarbeit bei Sicherheit und Verteidigung. Die Zahl der deutschen Eurofighter, die den polnischen Luftraum überwachen, wurde verdoppelt. Unsere Patriot-Systeme schützen in Rzeszów nicht nur Polen, sondern ganz Europa. Seit letztem Monat sichern deutsche Jets zudem gemeinsam mit rumänischen Fliegern den Luftraum an der Schwarzmeerküste. Wir beteiligen uns also bereits jetzt in großem Maße an der neuen NATO-Mission „Eastern Sentry“. Ein gemeinsames europäisches Luftabwehrsystem wie die European Sky Shield Initiative, an dem auch Polen teilnimmt, wäre ein starkes Signal. Und auch in der Rüstungskooperation sehe ich großes Potenzial.

Frage:

Die Frage der Entschädigungen für die Besetzung Polens durch Deutschland während des Zweiten Weltkriegs belastet die gemeinsamen Beziehungen zu Polen. Deutschland bekräftigt immer wieder, dass es sich moralisch für die Verbrechen verantwortlich fühlt, aber rechtlich sei die Frage der Reparationen abgeschlossen. Beabsichtigt die derzeitige Regierung, diese Frage zu klären und den noch lebenden Opfern der Besatzung Entschädigungen zu zahlen?

Johann Wadephul:

Die Schuld Deutschlands an den Verbrechen und Gräueltaten in Polen ist unbestreitbar und wir werden sie nie vergessen. Daraus erwächst unsere Verantwortung, alles dafür zu tun, dass sich solche Verbrechen niemals wiederholen – und dass unsere Völker ihre Zukunft gemeinsam in Europa gestalten. Erinnern, informieren, aufklären: das ist zentral. Deshalb errichten wir in Berlin das Polen-Denkmal. Der Koalitionsvertrag sieht ausdrücklich die rasche Errichtung des Denkmals am Platz der Krolloper in Berlin vor. Ich bin persönlich dafür, dass wir uns als Bundesregierung ganz genau anschauen, was wir für die noch lebenden Opfer tun können.

Frage:

Die vorherige Vereinbarung über Entschädigungen mit der vorherigen Regierung kam nicht zustande. Ein wichtiger Bestandteil davon war die Bereitstellung umfangreicher militärischer Hilfe für Polen, von der sich das Kanzleramt von Olaf Scholz jedoch zurückgezogen hat. Sehen Sie eine ähnliche Komponente in der zukünftigen gemeinsamen polnisch-deutschen Vereinbarung?

Johann Wadephul:

Bei dieser Frage geht es nicht um Reparationen, sondern um Verantwortung für unsere gemeinsame europäische Zukunft in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand. Das heißt heute vor allem: unsere Sicherheit und Verteidigung gemeinsam zu organisieren – als NATO- und EU-Partner, aber auch als Nachbarn und Freunde, die denselben Bedrohungen gegenüberstehen. Polens Sicherheit ist Deutschlands Sicherheit, daran besteht für mich keinerlei Zweifel. Ohne Polen ist die Stärkung der Sicherheit in Europa nicht denkbar. Deshalb liegt der Schwerpunkt unserer Zusammenarbeit jetzt klar auf diesem Bereich.

Und: Niemand hat sich von militärischer Hilfe zurückgezogen. Wer wo welche Beiträge leistet, entscheidet die NATO. Deutschland engagiert sich besonders stark in Litauen – und auch das kommt auch Polen direkt zugute.

Frage:

Bedeutet dies, dass Deutschland letztendlich nicht beabsichtigt, den noch lebenden polnischen Opfern der deutschen Besatzung Entschädigungen zu zahlen?

Johann Wadephul:

Wie gesagt, die Bundesregierung, prüft derzeit, was wir für die noch lebenden Opfer der deutschen Besatzung in Polen tun können. Ich setze mich auch persönlich dafür ein, dass wir bei diesem Thema schnell vorankommen. Noch einmal zur Klarstellung: Dabei wird es nicht um Reparationszahlungen gehen, denn diese Frage ist abgeschlossen.

Frage:

Befürchten Sie nicht, dass sich unsere gemeinsamen Beziehungen mit den zunehmenden nationalistischen Tendenzen in Polen und Deutschland weiter verschlechtern werden? Wird Deutschland die eingeführten Grenzkontrollen auf der polnischen Seite der Grenze wieder aufheben?

Johann Wadephul:

Unsere Demokratien werden auch von innen bedroht – durch Populisten und Nationalisten, genauso wie durch Desinformation und Propaganda. Dieses Phänomen sehen wir in vielen Mitgliedstaaten, auch in Deutschland und Polen. Ich bleibe jedoch überzeugt: Nationalismus und Abgrenzung nutzen nur den Feinden der Freiheit. Und sie verursachen erheblichen wirtschaftlichen Schaden - der Brexit hat das deutlich gezeigt. Wir setzen uns daher für Offenheit, Mobilität und Austausch in Europa ein – nicht für Abschottung. Deshalb sind die Grenzkontrollen wirklich schmerzhaft. Sie sind ein tägliches Ärgernis für die Menschen, für den Austausch, für das Zusammenwachsen. Aber: Sie sind eine notwendige Reaktion auf die Migrationslage und Deutschland führt sie an allen Landgrenzen durch. Sie sind temporär und werden selbstverständlich aufgehoben, sobald es die Lage erlaubt.

Frage:

Bundeskanzler Friedrich Merz schlug kurz vor der Wahl einen neuen deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag vor. Letztendlich ist jedoch nichts dergleichen geschehen. Beabsichtigt Deutschland, die Beziehungen zu Polen auf andere Weise zu stärken?

Johann Wadephul:

Der Freundschaftsvertrag von 1991 hat die Grundlage für unsere guten, nachbarschaftlichen Beziehungen gelegt – und das tut er bis heute. Natürlich hat sich seitdem viel verändert: Polen ist NATO- und EU-Mitglied geworden, unsere Beziehungen sind viel enger als damals. Das ist eine Entwicklung, über die wir uns sehr freuen. Man könnte das mit einem neuen Vertrag abbilden, aber ich glaube, entscheidend sind nicht neue Texte, sondern gemeinsamer Wille und klare Prioritäten. Und die liegen jetzt eindeutig bei unserer gemeinsamen Sicherheit. Deshalb prüfen wir, welche starken Vereinbarungen wir auf diesem Feld zwischen Deutschland und Polen schaffen können.

Frage:

In Polen herrscht die Überzeugung, dass die Deutschen nur wenig über die von ihnen während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen wissen. Wissenschaftler aus Polen und Deutschland haben vor Jahren sogar ein gemeinsames Geschichtslehrbuch erarbeitet, das jedoch nicht in die Lehrpläne aufgenommen wurde. Wird sich dies ändern und werden die Deutschen etwas über das Ausmaß der Verbrechen lernen, die auf dem Gebiet des damaligen Polens begangen wurden?

Johann Wadephul:

Das ist ein Thema, das mich persönlich sehr bewegt – und eine große Aufgabe für die kommenden Jahre. Wir müssen junge Menschen für Geschichte interessieren, auch wenn uns die letzten Zeitzeugen verlassen. Das gemeinsame Geschichtslehrbuch war genau dafür gedacht. Es war nie als Pflichtlehrbuch konzipiert – das wäre im föderalen Bildungssystem Deutschlands nicht möglich, und auch in Polen wurde es nicht ins Curriculum aufgenommen. Aber es ist ein Angebot für Schulen und Lehrkräfte, zusätzliche Schwerpunkte zu setzen.

Dieses Ziel – erinnern, informieren, aufklären – verfolgt auch das Polen-Denkmal in Berlin. Unsere Verantwortung in Deutschland bleibt - jede Generation muss neu lernen, welche Schrecken gerade in Polen geschehen sind.

Frage:

Die polnische Seite ist der Ansicht, dass die bisherigen Bestimmungen des Vertrags ohnehin nicht erfüllt wurden – darunter auch die Verpflichtung, Polnischunterricht an deutschen Schulen anzubieten. In einigen Bundesländern (u. a. Bayern) ist dies bis heute nicht geregelt. Beabsichtigt die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass dieser Unterricht in allen Bundesländern stattfindet?

Johann Wadephul:

Seit 1991 sind wir in unseren bilateralen Beziehungen sehr weit vorangekommen – auch beim Thema Sprachunterricht. Seit 2023 fördert das Kompetenz- und Koordinationszentrum Polnisch zentral für ganz Deutschland den Polnisch-Muttersprachunterricht, finanziert aus Bundesmitteln. Und wir sehen auch wachsendes Interesse an Polnisch als Fremdsprache. Das sind gute Entwicklungen, die sich sicher auch die Kultusministerkonferenz ansehen wird. Bildung ist in Deutschland Sache der Länder - aber mit dem Kompetenz- und Koordinierungszentrum setzt der Bund wichtige Impulse.

Interview: Michał Kokot

www.wyborcza.pl

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