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Rede von Außenminister Sigmar Gabriel bei der Auftaktveranstaltung des DGAP Symposiums in Gedenken an Frau Dr. Sylke Tempel „Vordenken – Vermitteln“
Vielen Dank Frau Pohl,
sehr geehrter Herr Dr. Oetker,
sehr geehrter Herr Dr. von Heydebreck,
verehrte Damen und Herren,
mir ist es gar nicht so leicht gefallen, für heute zuzusagen. Denn, wie ist das bei uns Menschen, wenn wir etwas erleben, was wir im wahrsten Sinne des Wortes als furchtbar empfinden? Dann sind wir eigentlich froh, dass uns der Alltag wieder einholt und wir nicht jeden Tag daran denken müssen.
Die Einladung, hierher zu kommen und sich zu überlegen „was sagst du da?“ war in erster Linie die Erinnerung an eine wirklich furchterregende Situation. Man sitzt mit jemandem mehrere Stunden zusammen, verabschiedet sich dann von dieser Person, welche sich wiederum noch bedankt, dass sie die erste Stipendiatin im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles sein darf – und wenige Minuten später hört man, dass dieser Mensch ums Leben gekommen ist.
Ich kannte Frau Tempel vorher gar nicht so gut. Als Leser, als Zuschauer, ja, auch mal in der Begegnung. Aber eigentlich haben wir an diesem Tag das erste Mal richtig lange miteinander diskutiert. Es ging, wie sollte es anders sein, natürlich um die Vereinigten Staaten von Amerika.
Wir hatten verschiedene Expertinnen und Experten unterschiedlicher Bereiche eingeladen, uns mal klüger zu machen in der Politik, im Auswärtigen Amt.
Die Idee war, sich im Auswärtigen Amt nicht nur darauf zu verlassen, was man selbst weiß, sondern um Einschätzung zu bitten, zu fragen „wie beurteilt Ihr eigentlich die Lage in den USA, was macht das mit uns, was haben wir zu erwarten?“. Wir hatten eine lange Debatte. Und in der Tat, das waren Gespräche mit Frau Tempel, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig ließen.
Gerade in diesen Tagen, jetzt nach den erneuten Unruhen in Jerusalem, ist es in der Tat so, dass uns Sylke Tempel, ihre Klarheit und ihre Analyse sehr fehlen.
Im vorigen Jahr hat sie in einem Interview zu Syrienkrieg gesagt: „Eine Supermacht USA, die sich aus der Welt zurückzieht, hinterlässt ein Vakuum, das von anderen gefüllt wird, die keineswegs besser sind. Im Gegenteil.“
Das war im Februar 2016, zu einer Zeit also, als Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten noch eine bizarre Phantasie zu sein schien. Aber schon damals zeichnete sich ab, dass die USA eben nicht mehr in allen Regionen der Welt das Maß an Kontrolle ausüben würden, das wir gewöhnt waren. Gewöhnt waren wir es nicht deshalb, weil wir den Amerikanern immer zugestimmt haben, sondern weil eigentlich da jemand etwas tat, bei dem wir froh waren, dass wir es nicht selbst tun mussten. Und wenn es schief ging, hatten wir jedenfalls immer jemanden, auf den wir mit dem Finger zeigen konnten.
Jemand, der die Schutzmacht des Westens darstellte. Ein Westen, der sich - jedenfalls bis dahin - auf ein paar grundlegende Prinzipien verständigt hatte. Nicht nur auf Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, sondern darauf, dass die Welt im Interesse aller besser geordnet ist, wenn man sich in ihr auf Basis verbindlicher Verabredungen bewegt und nicht wie in einer Art Arena, in einer Kampfbahn „Jeder gegen Jeden“.
Damals haben vorausschauende Menschen schon geahnt, welche Konsequenzen es haben würde, wenn die USA Schritt für Schritt Abstand von der Idee der “liberal order” nehmen würden. Sylke Tempel war ein solch vorausschauender Mensch.
Deswegen, und nicht nur mit Blick auf die USA, war ihre Einschätzung schwieriger außenpolitischer Entwicklungen immer gefragt. Zuletzt war dies an jenem fatalen 5. Oktober der Fall, als wir gemeinsam mit anderen Think Tankern in der Villa Borsig über den richtigen Umgang mit den USA unter Präsident Trump beraten haben.
Sylke Tempels Tod ist Folge eines grausames Unglücks, mit dem wir alle nur schwer umgehen können. Dass wir jetzt auf Einladung der DGAP in einem Symposium über Schlüsselfragen der deutschen Außenpolitik reden, ist ein richtiger, vielleicht sogar der beste Weg zu zeigen, wie sehr wir uns dem Denken und dem Handeln von Sylke Tempel verbunden fühlen. Auch dann, wenn wir anderer Auffassung waren.
Deswegen gestatten Sie mir, dass ich einige Gedanken zu den Themen mit Ihnen teile, die Sylke Tempel besonders wichtig waren: das transatlantische Verhältnis, die Beziehung zu Israel und der Nahen Osten, aber auch die gesellschaftliche Debatte über die deutsche Außenpolitik selbst. Unsere Sicht auf die Welt und die Sicht der Welt auf uns.
„Trotz alledem: Amerika“ – so ist das Transatlantische Manifest betitelt, das Sylke Tempel gemeinsam mit Kollegen veröffentlicht hat, und das nun so etwas wie ihr transatlantisches Vermächtnis geworden ist. Ein Vermächtnis, das uns Warnung und Ansporn zugleich sein muss, diese für unsere Nachkriegsgeschichte so zentrale Beziehung trotz aller Irritation und Widersprüche weiter zu pflegen oder neu zu gründen. Denn ein Selbstläufer, das wird uns immer deutlicher, ist das bei weiten nicht.
Die Hoffnung vieler deutscher Transatlantiker, dass wir nach einer Ausnahmeperiode der Trump-Präsidentschaft wieder zu unserer alten Partnerschaft zurückkehren werden, die teile ich so nicht, und auch Sylke Tempel hat sie am 5. Oktober nicht geteilt.
Nach Trump wird vieles anders sein. Auch, weil der Rückzug der USA unter diesem Präsidenten aus der Rolle des verlässlichen Garanten des westlich geprägten Multilateralismus durchaus neue Fakten schafft, die wahrscheinlich nicht ungeschehen gemacht werden können. So wie auch die Besetzung von Richterstellen in den USA das innenpolitische Verhältnis über längere Zeit verändern wird.
Der Rückzug beschleunigt die Veränderung der globalen Ordnung und das hat unmittelbare Konsequenzen, auch für uns in Deutschland und in Europa.
Seit der berühmten Rede von George Marshall vor 70 Jahren war Europa immer auch ein amerikanisches Projekt im wohlverstandenen Eigeninteresse. Heute gibt es im Umfeld der heutigen US-Administration eine durchaus distanzierte Wahrnehmung Europas: man nimmt uns dort als Wettbewerber und manchmal sogar als Gegner wahr. Die Welt wird nicht mehr als „globale Gemeinschaft“ gesehen, sondern wie in dem inzwischen schon berühmten Artikel in der New York Times von Cohen und McMaster, als Arena, als Kampfbahn, in der nicht verbindliche Verabredungen miteinander die Welt regeln sollen, sondern die Auseinandersetzung. Zu diskutieren wäre, ob das schon so weit geht, dass nur noch der Stärkere das Recht hat, sich in der Welt durchzusetzen und dass es darauf ankommt, sich Bündnispartner zu suchen, heute den einen und morgen den anderen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Das ist eine Vorstellung, die sehr stark auf Kurzfristigkeit und Schnelligkeit der Interessendurchsetzung fokussiert ist. Das ist eine ganze Anderes als die Idee einer liberalen Weltordnung, die ja eher darauf gesetzt hat, dass es im mittel- und langfristigen wohlverstandenen Eigeninteresse der USA ist, auf kurzfristige Interessenmaximierung zu verzichten.
Dazu kommt: Die USA haben sich in den vergangenen Jahren verändert – politisch und gesellschaftlich - und sie werden sich mit Blick auf die Welt weiterhin neu justieren – und zwar eher, ganz unabhängig von Donald Trump, weg von Europa als auf Europa zu. Europa ist in dieser Sicht eine Region unter vielen anderen.
In absehbarer Zukunft wird die Mehrheit der US-Amerikaner keine europäischen, sondern asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Wurzeln haben. Deshalb, glaube ich, wird das Verhältnis der USA zu Europa auch nach Donald Trump nicht mehr das gleiche werden, was es einmal war. Das heißt nicht, dass es nicht besser werden kann, als es heute ist, aber es wird ein anderes sein, als es vor Donald Trump gewesen ist.
Wie Sylke Tempels Zitat belegt, hat der Rückzug der USA längst begonnen. Obama hatte bereits begonnen, die globale Präsenz der USA an die schwindenden Möglichkeiten der Supermacht anzupassen. Dieser Trend wird unter Trump radikaler, manchmal auch brachialer vollzogen. Manchmal hat man den Eindruck, es gäbe eigentlich gar keine Außenpolitik, alles sei nur ein Reflex auf innenpolitische Herausforderungen.
Der amerikanische Präsident schafft dadurch in vielen Bereichen Fakten, die ein „zurück auf Los“ nicht mehr möglich machen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die US-amerikanische Rolle – trotz gelegentlicher unterschiedlicher Auffassungen – seit Jahrzehnten als behütend gesehen haben, beginnt also zu bröckeln.
Das sieht man schon daran, dass wir verschiedentlich mit den USA über Kreuz liegen – ob in aktuellen Fragen wie dem Abkommen mit dem Iran, oder auch dauerhaft bei Fragen des freien Welthandels. Die WTO-Konferenz hat in Argentinien gerade gezeigt, wie groß die Auffassungsunterschiede inzwischen sind. Und wenn man sich Sylke Tempels Zitat nochmal vor Augen führt, dass es eben in der internationalen Politik kein Vakuum gibt, sondern dass es immer jemanden gibt, der das Vakuum füllt, dann merken wir das am stärksten in der Handelspolitik. Denn da, wo die USA die Idee eines gerechten und freien, oder zumindest mal regelbasierten Welthandels aufgeben, werden neue Regeln vorgeschlagen. Insbesondere durch China, das vermutlich zurzeit das einzige Land auf der Welt ist, das wirklich eine eigene, geopolitische Strategie verfolgt. Was den Chinesen nicht vorzuwerfen ist, sondern umgekehrt bei uns die Frage aufwirft, warum es uns eigentlich nicht gelingt, ähnlich strategische Fragestellungen zu stellen und zu beantworten.
Sicher: Die USA werden unser wichtigster globaler Partner bleiben. Wir werden diese Partnerschaft auch in Zukunft brauchen und pflegen und niemand soll denken, dass das bestgeordnetste Europa alleine in der Welt in der Lage wäre, die „liberal order“ zu verteidigen. Aber diese Partnerschaft wird allein nicht ausreichen, um unsere Interessen zu wahren in einer Welt, die von neuen politischen und wirtschaftlichen Machtpolen und konkurrierenden Gesellschaftsmodellen geprägt sein wird.
Auch werden wir in diese Partnerschaft zukünftig weit mehr investieren müssen als bisher. Dazu gehört, konstruktive Partner in Administration, Kongress, den Bundesstaaten und vor allem der Zivilgesellschaft noch gezielter als bisher anzusprechen. Beispielhaft lässt sich der intensive Austausch mit Gouverneuren und Bürgermeistern zu Fragen des Klimaschutzes nennen.
Dazu gehört aber auch eine stärkere Förderung von Austauschprojekten und Besuchsprogrammen, z.B. der politischen Stiftungen und der Zivilgesellschaft, aber auch ein intensiverer Austausch auch mit konservativen Think Tanks und Einrichtungen, die die Denke der derzeitigen Administration und breiter Gesellschaftsteile in den USA bestimmen.
Sylke Tempel wollte Teil dieser Arbeit sein. Sie sollte im kommenden Sommer zur ersten Gruppe der Fellows in der ehemaligen Thomas-Mann-Villa in Los Angeles sein. Frau Tempel schmiedete bereits Pläne: sie wollte aus der eher liberalen Metropole Los Angeles heraus Ausflüge ins Trump America hinein unternehmen – aus journalistischer Neugier, aber wohl auch, um dort europäische, deutsche Positionen zu vertreten und dafür zu streiten.
Ganz in diesem Sinne wollen wir mit unserem Deutschlandjahr verfahren, das im nächsten Herbst beginnen soll. Wir wollen über die üblichen Verdächtigen hinaus die Menschen in den Tiefen des amerikanischen Hinterlandes erreichen - neue Zielgruppen erschließen, die bisher weniger im Fokus des transatlantischen Austausches standen.
Das Auswärtiges Amt, das Goethe-Institut und der Bundesverband der Deutschen Industrie wollen das gemeinsam mit zahlreichen Partnern von Oktober 2018 bis Ende 2019 tun. Zahlreiche Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen sind in der Planung, angefangen bei Freiheit, Diversität, Verantwortung; über Digitalisierung und die Zukunft der Arbeit, bis hin zur Rolle der „German Heritage“ und zu unserer Kultur und Lebensweise.
Lassen Sie mich auch ein paar Worte zu der Region sagen, zu der Sylke Tempels Zitat besonders einschlägig ist: dem Nahen und Mittleren Osten. Der regionale Ordnungsrahmen dort war seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend durch die USA vorgegeben. Heute ist die Gestaltungskraft der USA geschwächt. Washington will und kann in Nah- und Mittelost nur noch eingeschränkt staatlichen Zerfallstendenzen entgegenwirken.
Das Vakuum, das der amerikanische Rückzug öffnete, hat sich tatsächlich sehr rasch gefüllt. Russland, aber auch der Iran haben die Dynamik des syrischen Bürgerkriegs Schritt für Schritt zu ihren Gunsten – und zu Gunsten des Regimes in Damaskus - gedreht. Vorläufiger Höhepunkt war das Treffen vor zwei Wochen zwischen den Präsidenten Putin und Assad, gefolgt von den Präsidenten Rohani und Erdogan. „Schwarze Seelen am Schwarzen Meer“ nannte dies eine deutsche Tageszeitung.
Das hätte Frau Tempel, glaube ich, gefallen.
Und als wären Syrien, Irak und Jemen nicht schon Krise genug, droht neues Ungemach in der Region: Die Anerkennung der Trump-Regierung von Jerusalem als die Hauptstadt Israels ist ein außerordentlich riskanter Schritt. Ein Schritt, den Washington übrigens ohne vorherige Abstimmung mit Europa vorgenommen hat. Wir alle wissen, welche weitreichenden Konsequenzen dieser Schritt haben kann.
Dass dies eine Rückorientierung der USA zum Nahen Osten einläutet, darf wohl bezweifelt werden. Es geht wohl eher um die Umsetzung eines Wahlkampfversprechens, das die präsidentielle Bilanz am Ende des Jahres schönt. Dieser Schritt zeigt übrigens auch, dass die Annahme, das Amt und seine etablierten Beraterinnen und Berater würden Präsident Trump schon zähmen, offensichtlich nur sehr bedingt zutrifft.
Eines ist klar: die Position der Bundesregierung, wie immer sie in Zukunft aussehen wird, zu dieser Frage bleibt unverändert. Übrigens nutzen Manche, die den Westen verächtlich machen, zurzeit das deutsche Beispiel. Meine Antwort darauf ist, dass bei uns ohne Regierung die Institutionen funktionieren, wohingegen es andere Länder gibt, wo es zwar eine Regierung gibt, aber keine funktionierenden Institutionen. Das darf uns einigermaßen ruhig stimmen. Das schlimmste Beispiel ist übrigens die belgische Erfahrung: zwei Jahre ohne Regierung und alles funktioniert. Wenn das die Leute mitkriegen, ist es eine echte Gefahr für uns in der Politik! Soweit sollten wir es nicht treiben.
Eines ist klar: eine Lösung der Jerusalemproblematik kann nur durch direkte Verhandlungen zwischen beiden Parteien gefunden werden. Alles, was die Krise verschärft, was die Zwei-Staaten-Lösung erschwert, ist kontraproduktiv.
Natürlich fragen wir uns alle, was Sylke Tempel zu dieser Entwicklung gesagt hätte. Vor allem, wie sie es gesagt hätte. Die Sicherheit Israels war in ihrer Sicht immer zentral für die unverbrüchliche Freundschaft zwischen unseren Ländern nach den Verheerungen, dem Völkermord des Zweiten Weltkriegs. Kann es Sicherheit für das jüdische und demokratische Israel geben, ohne dass ein lebensfähiger und demokratischer Palästinenserstaat daneben entsteht? Wir sehen jedenfalls das Schwinden der Chancen für eine Zwei-Staaten-Lösung mit großer Sorge.
Darüber, welche Folgen die Hauptstadtentscheidung auf die Zwei-Staaten-Lösung und die Sicherheit Israels hat, darüber werden wir diskutieren müssen. Wahrscheinlich werden wir mit vielen anderen zusehen müssen, welches Gewaltpotential dort erneut in Erscheinung tritt.
Auch mit Blick auf diese schwierige Fragen gilt für uns: So beschwerlich der Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung auch sein mag, wir werden ihn weiter unterstützen, auch indem wir auf beiden Seiten mit gesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten, die die Einhaltung der Menschenrechte unter schwierigen Bedingungen überwachen und einfordern.
Ich will es mir nicht leicht machen und an diesem Abend nur über Entwicklungen anderswo sprechen. Denn auch bei uns in Deutschland, bei uns in Europa geben gesellschaftliche Veränderungen Grund zur Sorge.
Der Schlachtruf der Brexiteers - „Take back control“ – ist ja sozusagen die europäische Variante zu „America first“ und das Mantra derjenigen in Europa und darüber hinaus geworden, die mit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Abgrenzung politisch punkten wollen. Nicht Gemeinsamkeiten und geteilte Werte stehen im Vordergrund, sondern Differenzen und nationale Egoismen.
Herfried Münkler hat in diesem Zusammenhang in der Neuen Zürcher Zeitung von einer „Sehnsucht nach Kleinräumigkeit und einer wachsenden Kontrollfähigkeit der Staaten“ geschrieben.
Vielerorts sehen wir eine Rückbesinnung auf Grenzen und die vermeintliche Stärke des Nationalstaats. Vielfalt und Individualität, Gleichstellung und Inklusion werden von den populistischen Parteien als Ausdruck übertriebener „politischer Korrektheit“ diffamiert und in Frage gestellt – die Wirkung dieser Kampfansagen reicht bis tief ins bürgerliche Spektrum, auch bei uns in Deutschland.
Die liberalen Eliten der westlichen Demokratien laufen Gefahr, in ihren oft selbstbezogenen Diskursen dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach Klarheit und Ordnung zu unterschätzen. Oder, wie man mit Blick auf die USA formulieren könnte: wer die Interessen des Rust Belts vergisst, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen können.
Wir müssen diese Herausforderung annehmen, weil eine Handels- und Mittelmacht wie Deutschland Offenheit und Öffnung braucht wie die Luft zum Atmen. Wir können uns nicht abschotten von den Problemen dieser Welt.
Und daher stehen wir vor zweierlei Herausforderungen: Zum einen müssen wir unsere neue Rolle in der Welt klarer definieren. Dazu gehört auch, unsere Interessen zu definieren und sich nicht zufrieden zu geben mit dem wohlfeilen Anspruch, eine wertegebundene Außenpolitik zu betreiben. Ich glaube, dass wir uns zur Formulierung unserer eigenen Interessen und zu einem strategischen Blick auf die Welt bekennen müssen. Zum anderen dürfen wir dabei nicht unsere eigenen Bürger vergessen.
Die Herausforderung, vor der wir hier stehen, wird in den jährlichen Umfragen im Auftrag der Körber Stiftung deutlich: Die außenpolitische Zurückhaltung in Deutschland ist nach wie vor stark – auch wenn sie über die Jahre leicht abgenommen hat. Das entspricht so gar nicht den Erwartungen, die von außerhalb an Deutschland herangetragen werden, ob nun in Europa oder auch darüber hinaus.
Wir müssen unseren Bürgerinnen und Bürgern daher mehr erklären, wie wir die Welt sehen und was auf uns zukommt! Dass wir uns nicht raushalten können, dass wir mitgestalten müssen, wenn wir nicht gestaltet werden wollen.
Das ist, im Zeitalter von „Fake News“ und der gezielten Beeinflussung öffentlicher Meinungen, schwer. Es geht um das Vermitteln – von Inhalten, aber auch von schwierigen Abwägungsprozessen und Zielkonflikten, vor denen die Politik zwangsläufig steht. Dagegen werden in den sozialen Netzwerken eher eindeutige Antworten, schwarz-weiß Thesen, richtig-falsch Aussagen von uns gefordert und gerade nicht komplizierte Abwägungsprozesse.
Es geht aber darum, dem Eindruck der „Alternativlosigkeit“ vorzubeugen. Das könnte ein wirksames Gegenmittel gegen die nur scheinbar einfachen Lösungen für komplexe Probleme sein, die uns Populisten und Stimmungsmacher suggerieren.
Wie gehen wir damit um? Ganz sicher nicht, indem nur die Außenpolitiker über Außenpolitik reden.
Das Auswärtige Amt hat deshalb seine Kommunikation zu außenpolitischen Themen in den vergangenen Jahren massiv geändert und wird das weiter tun müssen. Wir müssen die Zahl unserer Kanäle in den sozialen Medien erweitern. Wir schicken unsere Diplomatinnen und Diplomaten hinaus ins Land, in die Schulen und Universitäten, übrigens auch in Betriebsversammlungen und Lehrwerkstätten, zu Auszubildenden und Handwerksgesellen - mindestens so sehr wie zu Akademikern.
Wir müssen Unternehmen und Betriebsräte bitten, auch in ihren Veranstaltung über Europa und über das Interesse ihrer Beschäftigten an einem geeinten Europa zu reden, damit das nicht nur in den Leitartikeln der liberalen Medien erscheint, sondern diejenigen erreicht, die heute oftmals den Eindruck haben, dass Europa gegen ihre Interessen gerichtet ist.
Unsere Botschafter diskutieren in „Town Hall Meetings“ und fragen dort die Bürger, was sie von Europa erwarten, oder wie sie die USA sehen.
Unsere Kolleginnen und Kollegen belehren nicht und halten bloß Vorträge, sondern sie fragen und beziehen die Bürger in unsere Abwägungsentscheidungen ein. Nur so, davon bin ich überzeugt, erzeugen wir Teilhabe. Bei der Bürgerwerkstatt, zu der wir jedes Jahr ins Auswärtige Amt einladen, konnte man das wirklich hautnah spüren.
Auch die DGAP spielt eine sehr wichtige Rolle, bei der wir Sie weiter gerne unterstützen wollen. Als mitgliederbasierte Organisation mit regionalen Niederlassungen in ganz Deutschland bilden Sie eine wichtige Verbindung in die deutsche Öffentlichkeit. Als Think Tank liefern Sie Denkanstöße und Handlungsvorschläge für die außenpolitische Debatte. Die DGAP ist wichtig für die Kommunikation von außenpolitischer Materie. Noch intensiver würde ich mir wünschen, das nicht nur auf dem Expertenniveau zu tun, sondern tiefer hinein zu wirken in den Alltag unserer Gesellschaft.
Als exzellente Journalistin hat Sylke Tempel dazu einen immensen Beitrag geleistet. Sie hat die Zeitschrift „Internationale Politik“ auf eine neue Ebene gehoben und mit dem Berlin Policy Journal ein Forum für den außenpolitischen Austausch geschaffen. Sie hat mit zahlreichen Auftritten in Rundfunk und Fernsehen außenpolitische Themen auf verständliche Weise spannend gemacht und im wahrsten Sinne des Wortes ins Wohnzimmer geholt.
Ich kann die DGAP nur ermuntern, auf diesem Kurs weiterzumachen. Unsere Unterstützung werden Sie dabei haben.
Sylke Tempel hinterlässt nun ihrerseits ein Vakuum. Es ist an uns allen, dieses zu füllen, auch wenn dies sehr schwer sein wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.