Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Grußwort von Staatsministerin Müntefering anlässlich der heutigen Eröffnung des Wikimedia Summit in Berlin
Ich hatte kürzlich ein Date. Ein sehr modernes. Nicht auf Tinder, sondern mit „Alexa“.
„Alexa“ ist unterhaltsam, und weiß nahezu alles. Ich hatte mir also überlegt, was ich mit ihr anstelle und habe sie gebeten, mir ein Märchen aus Afrika vorzulesen.
Mit freundlicher Stimme hat mir meine neue digitale Flamme eine ganze Auswahl afrikanischer Sagen angeboten.
Nun, Sie kennen Alexa besser als ich und wissen, dass es sich dabei um ein Spracherkennungsprogramm handelt, dass Zugriff auf die im Netz verfügbaren Informationen nimmt.
Der Name ist übrigens klug gewählt - er stammt von der antiken Bibliothek von Alexandria, also dem einen Tempel des Wissens der Antike. Wenn man danach fragt, erhält man auch diese Antwort prompt.
Alexandria war ein wissenschaftliches und kulturelles Zentrum der Antike: Die erste Welt-Bibliothek der Geschichte.
Die Gelehrten des „Museions“, der wichtigen Bildungs- und Forschungseinrichtung und Zentrum der Alexandrininischen Schule, fanden ihr Wissen noch in steinernen Bücherregalen mit Unmengen an Literatur aus zahlreichen Ländern und unzähligen Wissensgebieten.
Gut 1.700 Jahre später sind Sie, sehr verehrte Damen und Herren, die Wikimedians, so etwas wie die neuen Museions. Sie sind die Wissenssammler unserer Zeit.
Aber ganz anders als ihre antiken Vorgänger haben Sie die Tore zu den Tempeln des Wissens geöffnet – und zwar für alle - nicht nur für die Eliten.
Es ist Ihnen gelungen, eine neue „Welt-Bibliothek“, einen neuen, digitalen Tempel des Wissens aufzubauen, und dazu auch buchstäblich das Wissen der Weltbevölkerung zu nutzen.
Dieser Ansatz ist dabei durchaus ein demokratischer. Ein basisdemokratischer.
Aber - lassen Sie mich das hier festhalten - er hat auch etwas gemein mit der Geschichte der Sozialdemokratie! Die Vorväter - und Mütter - meiner Partei haben sich in Fabriken versammelt und gegenseitig vorgelesen. Sie gründeten Arbeiterbildungsvereine. Denn nicht nur in der Antike, sondern selbst noch vor 150 Jahren war Wissen noch oft nur den Mächtigen und Reichen vorbehalten, ein Herrschaftsinstrument.
„Wissen ist Macht“ - einen der bekanntesten Leitsätze des englischen Philosophen Sir Francis Bacon griffen Karl Marx und Wilhelm Liebknecht auf - sie forderten: die Arbeiterklasse sollte über den Zugang zu Wissen auch politische Macht gewinnen. Die Grundlage für jede demokratische Entwicklung.
Als moderne Kuratoren einer neuen Weltbibliothek verfügen Sie neben Wissen auch über Macht - und „With great power comes great responsibility“. Mit großer Macht kommt große Verantwortung.
In ihrem Falle: Fakten zu sammeln, zu ordnen und sie einer kritischen Qualitätsprüfung zu unterziehen. Und mehr noch: das Wissen zur Verfügung zu stellen; es zu teilen und wo nötig zu aktualisieren und zu korrigieren.
Wikipedia ist die im Internet fünfthäufigst aufgerufene Seite der Welt. Für Wissen Suchende - ob in der Schule oder auf der Regierungsbank - ist Wikpesiaa nicht mehr wegzudenken.
Was es bedeutet, wenn Sie einmal nicht da sind - das haben wir am Donnerstag der letzten Woche in Deutschland gesehen; oder besser gesagt: wir haben eben nichts gesehen, weil man statt der üblichen Artikel im wahrsten Sinne des Wortes nur „schwarz“ sah.
Eine spektakuläre Streikaktion gegen die neue EU-Urheberrechtrichtlinie. Ich persönlich habe das um 9.20 Uhr zu spüren bekommen. Da hatte ich bereits zum zweiten Mal an diesem Tag versucht, eine Seite nachzuschlagen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Ich bin froh, dass Sie wieder online sind.
Der Gedanke, dass der freie Zugang zu Wissen und Informationen einer Gesellschaft mehr Gerechtigkeit bringt, das ist in unserer Demokratie inzwischen seit vielen Jahren gesellschaftlicher Konsens, wenngleich der „Aufstieg durch Bildung“ in unserer heutigen Gesellschaft wieder schwieriger geworden ist.
Als ich im Jahr 2000 Abitur machte, da war Wikipedia noch lange nicht so anerkannt wie heute und wurde wegen seiner Fehleranfälligkeit zuweilen scharf kritisiert. Also konzentrierten wir uns gezwungenermaßen auf die Quellen, die Seriosität versprachen. Viele Bücher gab es bei mir Zuhause zu meinem Leidwesen nicht. Aber in der städtischen Bibliothek war ich Stammgast.
Das Problem: dort stand der Brockhaus, DIE deutsche Enzyklopädie schlechthin, im Regal - das allerdings schon eine ganze Weile, denn darin stand auch die Mauer noch.
Wissen zu aktualisieren, zu kuratieren - auch das hat sich mit dem Internet, der hohen Taktzahl und der Vielfalt an Informationen verändert. Insgesamt ist das Wissen mehr, aber die Orientierung schwieriger geworden. Der Wald der Information wird immer größer. Wir müssen aufpassen, dass wir darin nicht die Richtung verlieren. Wir müssen in der Lage sein zu unterscheiden zwischen Information und Desinformation. Denn Orientierungslosigkeit kann uns auch wieder machtlos machen.
Deswegen lohnt es sich, immer wieder neu und kritisch darüber nachzudenken, wie Informationen im Internet heute entstehen - und hier eben auch: Wie eine Wissensdatenbank, die durch Partizipation und Dialog entsteht, eigentlich funktioniert und was sie leisten muss.
Was findet Eingang in Wikipedia, was nicht, und warum? Wie offen, transparent und überprüfbar kann und muss Wissen sein?
Die Frage des Faktenchecks ist auch eine für Wikimedia: Wie stellt Wiki das sicher, wer sind die Faktenchecker – können wir auf Schwarmintelligenz wirklich vertrauen ? Wo gibt es Schwächen ?
In Staaten wie etwa in China sehen wir massive Einschränkungen des digitalen Raumes. Aber auch in anderen Ländern, gleich in unserer Nachbarschaft wie etwa der Türkei, ist Wikipedia seit 2017 sogar voll gesperrt - unter dem dort allgegenwärtigen Vorwurf der „Terrorpropaganda“.
Neben Verboten und Restriktionen dringen zudem Trolle mit einer Flut von Hass und Beleidigungen in das demokratische Wissensmanagement unserer offenen Gesellschaften ein. Wikipedia ist hierzu ein Gegengewicht.
Ich bin überzeugt: Informations- und Pressefreiheit sind die besten Versicherungen freier Gesellschaften. Wir müssen auf Fakten statt „fake news“ setzen.
Wir setzen uns deshalb weltweit ein für Informationsfreiheit, wie etwa durch Journalisten-Trainings oder die Unterstützung von Qualitätsmedien.
Wir helfen auch beim Schutz derjenigen, die Wissen zusammentragen und zu einer offenen Gesellschaft beitragen: Mit der Phillip-Schwarz und der Martin Roth Initiative etwa helfen wir weltweit Wissenschaftler und Künstler zu schützen, die in ihren Heimatländern Repressionen ausgesetzt sind und oftmals Leib und Leben riskieren.
Liebe Wikimedians,
gleichzeitig müssen wir unseren Blick auch selbstkritisch darauf richten, wie Wissen eigentlich vermittelt wird: nämlich durch Sprache.
In der antiken Weltbibliothek „Alexandria“ sammelten die Gelehrten das Wissen der ihnen bekannten Welt: Zu lesen bekamen sie dabei möglicherweise einen Satz, der sie aus Rom erreichte: „Ex Africa semper aliquid quid novi.“
„Aus Afrika kommt immer etwas Neues.“ Dieses Zitat des römischen Schrifstellers Plinius stellt der große senegalesische Denker Felwin Sarr an den Anfang seines jüngst erschienenes Buches „Afrotopia“.
Plinius meinte damals vor allem exotische Tiere. Tatsächlich ist dieses Zitat aber ein frühes Beispiel für die seit der Antike existierende Neigung, den afrikanischen Kontinent zur Projektionsfläche der eigenen Fantasien zu machen.
Die Fremdzuschreibungen bestimmten die Sicht auf Afrika über Jahrhunderte – und sie existieren bis zum heutigen Tag.
Vor diesem Hintergrund scheint mir entscheidend zu verstehen, was Vielfalt in einer Wissensgesellschaft bedeutet und umgekehrt was mangelnde Vielfalt für Folgen haben kann.
Denn: wie das Wissen ist auch die Sprache ein Herrschaftsinstrument, oft benutzt, um Kulturen zu unterdrücken. Nicht selten in der Geschichte folgte Gewehren die Ideologie - und leider wurde nicht jede Kreide auf den Schultafeln dazu benutzt, das Wissen zu vermehren. Sondern auch, um Ideologie zu verbreiten. Mein Mann, der etwas älter ist als ich, erzählte mir, wie er nach dem Krieg in die Volksschule kam: Im Geschichtsbuch waren ein paar Seiten herausgerissen..
Wenn wir also heute zum ersten Mal die Aufarbeitung des Kolonialismus im Koalitionsvertrag verankert haben, dann muss immer auch die historische Dimension ins Bewusstsein rücken. Mehr noch: Wir müssen sie ins Heute übertragen.
Heute werden Schultafeln zu Bildschirmen, Kreide zu Tastaturen. Nachgeschlagen wird oft nicht mehr in Büchern, sondern in Wikipedia.
Wikipedia gibt es in insgesamt über 303 Sprachversionen;
aber nur 36 Wikis in ur-afrikanischen Sprachen. Keine dieser Wikis mit mehr als 90.000 Einträgen.
Wer also in Äthiopien in der Sprache Oromo etwas über „Kolonialismus“ herausfinden will, muss wegen fehlender Artikel in eigener Sprache, auf etwa englische oder französischsprachige Wikipedia-Beiträge zurückgreifen. Es ist nicht verwunderlich, wenn diese eine andere Perspektive, ein anderes Narrativ vorgeben.
Es ist dieser Umstand, der die Wikipedia als neue, demokratische Weltbibliothek so bedeutsam macht – und er überträgt Ihnen, den Macherinnen und Machern eine enorme Verantwortung. Denn: Sprache schafft Realität.
Durch den Gebrauch bestimmter Begriffe und Erzählungen werden Denkmuster vertieft oder auch gebrochen. Jeden Tag, auch in Deutschland, in unserer Gesellschaft. Die Rollenbilder für Mann und Frau etwa. Schwarz oder Weiß, Mann oder Frau, Christen oder Muslime: Wir müssen selbst dafür sorgen, dass die großen Fortschritte der Welt, die allgemeinen Menschenrechte, nicht nur ein Eintrag im Lexikon bleiben. Vielfalt braucht kein „Meinungsbild“, sondern Menschen, die für Menschenrechte einstehen.„
Liebe Wikimedians,
sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben die Pforten zu einer neuen Weltbibliothek für viele Menschen auf der Welt geöffnet.
Ich möchte Sie ermutigen: Lassen Sie alle hinein - und geben Sie acht, dass Vielfalt und Gleichwertigkeit das Innere dieses modernen Tempels des Wissen bestimmen.
A pro pos Tempel: 2011 hat es einmal eine Kampagne gegeben, Wikipedia in das Verzeichnis des nicht immateriellen Kulturerbens aufzunehmen. Ich finde, es lohnt sich angesichts seiner Bedeutung in der heutigen Zeit durchaus darüber nochmal zu diskutieren.
Sie alle, liebe Wikimedians, haben jedenfalls bereits jetzt gemeinsam Wissensgeschichte geschrieben.
Und das Schönste am Wissen ist: Wenn man nur will, wird es immer mehr. Also denken Sie daran: “With great power comes great responsibility.„
- Dank Wikipedia wissen wir übrigens auch, woher die meisten von uns dieses Zitat kennen: Von dem vielleicht größten Philosophen unserer Zeit: Stan Lee - in Spiderman!
Liebe Wikimedians,
ich wünsche Ihnen eine gute, eine nachdenkliche und eine der Zukunft zugewandte Konferenz.
Mit Alexa habe ich übrigens Schluss gemacht. Sie ist nicht besonders verschwiegen.
Herzlichen Dank!