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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth zur Vorstellung des Online-Archivs mit Erinnerungen von Zeitzeugen an die Okkupation in Griechenland von 1941 bis 1944
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrte Damen und Herren,
nur wenige andere Orte in Berlin stehen mehr für das Grauen des Nazi-Terrors als die Topografie des Terrors. Wir befassen uns heute hier mit dem, was der lange Arm des Hitler-Regimes zur gleichen Zeit zweitausend Kilometer entfernt in Griechenland angerichtet hat: diese Taten gehören zu den furchtbarsten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg.
Heute schließt sich gewissermaßen ein Kreis: Vor einigen Monaten habe ich an der Universität Athen das Zeitzeugenprojekt „Erinnerungskulturen“ vorgestellt. Umso mehr freut es mich, dass ab heute, ein gutes Jahr später, das Online-Archiv mit den Erinnerungen zahlreicher Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Forschung, den Lehrenden und einer breiten Öffentlichkeit weltweit zur Verfügung steht.
Wir im Auswärtigen Amt sind dankbar, dass wir dieses großartige Projekt unterstützen können. Die inhaltliche Arbeit lag voll und ganz in den Händen der Wissenschaft, denn es geht um die unabhängige Aufarbeitung historischer Fakten und Geschehnisse. In Zeiten, in denen Propaganda versucht, Wahrheit zu verdrängen, Lügen zu verbreiten und dumpfe Vorurteile unsere freiheitliche Ordnung bedrohen, ist dies wichtiger denn je.
„Erinnerungskulturen“ ist ein Projekt gegen das Vergessen. Nur wer die Geschichte kennt, kann dazu beitragen, dass sich ihre Tragödien niemals wiederholen. Das unermessliche Leid, das die deutsche Besatzung in den Jahren 1941 bis 1944 über Griechenland und seine Bevölkerung gebracht hat, darf nicht in Vergessenheit geraten. Das ist unsere gemeinsame Verpflichtung.
Dieses Projekt gibt den Zeitzeugen buchstäblich eine Stimme. Ihre Erinnerungen sind ein kostbarer, aber auch vergänglicher Schatz. Jeder, der einmal einem Zeitzeugen der Nazi-Verbrechen zugehört hat – fassungslos, erschrocken, berührt –, wird mir sicher zustimmen: Das vermag kein Buch, kein Film, kein Theaterstück zu vermitteln. Wir können dankbar sein, dass sie uns, solange sie es noch können, ihre ganz persönlichen Geschichten erzählen und uns an das dunkelste Kapitel in der deutsch-griechischen Geschichte erinnern.
Es geht aber auch um Schuld und Verantwortung. Persönlich tragen wir als jüngere Generationen selbstverständlich keine Schuld an den Massakern, die Deutsche an wehrlosen Männern, Frauen und Kindern während des Zweiten Weltkriegs in über hundert griechischen Dörfern und Städten mit mörderischer Gewissenlosigkeit begangen haben.
Und trotzdem spüre ich an Orten wie Kalavrita oder Distomo und auch hier in der Topografie des Terrors, dass es nicht reicht, diese banale Feststellung zu treffen. Ja, man kann sich auch ein zweites Mal schuldig machen. Wir, die Nachgeborenen, können uns schuldig machen.
Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, haben in Ihrer Rede im März 2014 in Lingiades genau von dieser „zweiten Schuld“ gesprochen.
Sie begründet sich, wenn wir uns der notwendigen Aufarbeitung verweigern und die Opfer aus unserer Erinnerung verbannen.
In Griechenland gehört das „finstere Jahrzehnt“ – also die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung – fest ins kollektive Gedächtnis der Menschen. Hierzulande ist das Gedenken nur sehr schwach ausgeprägt.
Lange Zeit war der deutschen Öffentlichkeit das Ausmaß der Verbrechen in Griechenland kaum präsent. Daher macht es mir Mut, dass seit einigen Jahren viele neue Publikationen den Blick vor allem auf Griechenland richten.
Ohne gemeinsames Erinnern und Gedenken kann Versöhnung nicht gelingen. Deswegen hat das Auswärtige Amt vor einigen Jahren den Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds eingerichtet, der zahlreiche Versöhnungs- und Bildungsprojekte zwischen Griechenland und Deutschland ganz konkret fördert.
Durch direkte Zusammenarbeit mit den sogenannten Märtyrerdörfern sowie mit den jüdischen Gemeinden in Griechenland versuchen wir, den Wunsch nach Versöhnung mit Leben zu füllen. Der Fonds soll zugleich die Erinnerungskultur durch unabhängige wissenschaftliche Studien fördern und das Wissen der deutschen Öffentlichkeit über die Weltkriegsverbre-chen stärken. Die Projekte reichen von Dokumentarfilmen, Buchpubli-kationen, künstlerischen Produktionen und Lehrfortbildungen bis zur baulichen Unterstützung von Synagogen.
Ich setze mich dafür ein, dass dieser Zukunftsfonds auch vom neuen Bundestag bewilligt wird, damit wir gemeinsam weitere Projekte verwirkli-chen können. Ich bin dankbar, dass immer mehr Partner in Griechenland dieses Angebot annehmen und bin zuversichtlich, dass auch die Akzeptanz der griechischen Regierung weiter steigt.
Dieses Zeitzeugenprojekt über die deutsche Besatzungszeit in Griechen-land stärkt eine gemeinsame deutsch-griechische Erinnerungskultur, die nichts ausspart und den Opfern ihre Würde zurück zu geben versucht. Es ist längst überfällig, Zeugnisse von Zeitzeugen systematisch zu erfassen, um sie einem breiten Publikum bekannt zu machen und sie vor dem Vergessen zu bewahren.
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Prof. Apostolopoulos für die Leitung dieses Projekts und bei Prof. Fleischer, der sich seit vielen Jahren unermüd-lich für die akribische wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der deutschen Besatzung in Griechenland einsetzt. Mein Dank geht auch an die „Stavros Niarchos Foundation“ sowie an die „Stiftung Erinnerung, Verant-wortung, Zukunft“, die dieses Projekt gemeinsam mit dem Auswärtigen Amt finanziert haben.
Ganz besonders freut es mich, dass heute zwei Zeitzeugen anwesend sind – Argyris Sfountouris und Efstathios Chaitidis – Sie haben als Kinder die Massaker in ihren Dörfern in Kozani und Distomo überlebt. Beide haben Sie zahlreiche Familienangehörige bei Vernichtungsaktionen verloren. Es ist uns eine Ehre, dass Sie Beide heute hier unter uns sind.
Ich kann nur erahnen, wie schmerzhaft die Erinnerung an diese furchtbaren Ereignisse für Sie sein muss.
Die Wege der Versöhnung sind lang und beschwerlich. Sie kosten Überwindung und Kraft. Es bedeutet mir viel, dass Sie uns Deutschen heute die Hand reichen.
Vergessen wir niemals: Deutsche und ihre willfährigen Helfershelfer haben zur Zeit der deutschen Besatzung so viel Leid über Griechenland und seine Bevölkerung gebracht. Wir können diese Verbrechen nicht ungeschehen machen. Aber wir können dabei mithelfen, dass sich das Unrecht, das geschehen ist, niemals wiederholt.
Wir wollen die Erinnerung an Zerstörungswahn, hemmungsloser Gewalt, blankem Hass und Mord wachhalten – nicht als Selbstzweck, sondern vor allem, um daraus Lehren für eine bessere Zukunft zu ziehen. Wir leisten damit auch einen Beitrag für ein freies, solidarisches und tolerantes Europa gemeinsamer Werte. Ein Europa ohne Fremdenhass, Antisemitismus und Nationalismus. Ein Europa, in dem wir ohne Angst verschieden sein können.