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Das Virus des Autoritären

20.04.2020 - Namensbeitrag

Namensbeitrag von Staatsminister Michael Roth, erschienen in der Welt

Wie unter einem Brennglas legt die Coronakrise die Probleme Europas schonungslos offen. Das Virus stellt die Europäische Union vor die größte Bewährungsprobe ihrer Geschichte. Längst steht die Zukunft unserer europäischen Werte- und Solidargemeinschaft auf dem Spiel. Gerade jetzt müssen wir noch enger zusammenrücken und gemeinsam kämpfen: gegen Corona und für unser Europa – whatever it takes!

Zu Beginn war das Krisenmanagement in den EU-Staaten stark national geprägt. Aber wir haben den Schalter dann doch zügig umgelegt: Mit enger Abstimmung, gegenseitiger Unterstützung und Teamspiel. Die EU und viele Mitgliedstaaten präsentieren sich jetzt von ihrer starken Seite. Der europäische Geist hat sich in beeindruckenden Aktionen gelebter Solidarität gezeigt. Um Menschenleben zu retten, mussten wir große Teile unserer europäischen Volkswirtschaften ins künstliche Koma versetzen. Millionen von Europäerinnen und Europäern fürchten nun um ihre Arbeitsplätze, Unternehmen und soziale Existenzen. Die vom Virus besonders betroffenen Länder sind dringend auf unsere Unterstützung angewiesen. Sie zählen auf Europa. Die Menschen dort müssen spüren: Wir sind keine Schönwetterunion, wir lassen auch in schwierigen Zeiten niemanden alleine.

Europäische Solidarität ist das Gebot der Stunde. Daher hat die EU jetzt in einem ersten Schritt ein beispielloses Rettungspaket in Höhe von 540 Mrd. Euro geschnürt. Damit wollen wir den Menschen, Unternehmen und Ländern in den größten Notlagen schnell und unbürokratisch helfen. In einem zweiten Schritt müssen wir Europa mit einem massiven Wiederaufbauprogramm wieder nachhaltig auf die Beine bringen. Es ist Zeit für einen „Marshallplan 2.0“! Dafür benötigen wir die geballte Kraft der EU. Wir müssen alles tun, um Europa zu stärken. Und wir müssen bereit sein, dafür gemeinsam europäisches Neuland zu betreten, auch was solidarische Instrumente und einen kraftvollen EU-Haushalt anbelangt! Politische und ökonomische Vernunft gepaart mit europäischer Solidarität sollten unser Handeln anleiten, nicht alte Vorurteile und Ideologien. Ganz Europa zählt dabei auf Deutschland. Unser Land hat eine besondere Verantwortung, ja eine historische Verpflichtung, jetzt solidarisch und mutig voranzugehen. Und als größter wirtschaftlicher und politischer Profiteur Europas liegt dies im ureigenen deutschen Interesse. Deutschland kann nicht stark sein, wenn Europa schwach ist. Europa ist unsere Lebensversicherung!

Der Kampf gegen das Virus stellt Europas Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit auf die Probe. Das gilt auch für die kommunikative Sphäre. Wir müssen entschlossen gegen Propaganda, gezielte Desinformation und Verschwörungstheorien vorgehen. Raus aus der Defensive, rein in die kommunikative Offensive! Es gelingt uns noch zu selten, positive Bilder der eigenen Solidarität zu setzen und in eine überzeugende europäische Erzählung einzubetten. Die EU muss in der emotionalen Wahrnehmung der Menschen stärker werden. Dabei geht es nicht darum, sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Es geht um die Selbstbehauptung Europas in einer Welt, in der das Autoritäre dramatisch an Kraft gewinnt und die Demokratie unter Druck gerät. Autoritäre Regime versuchen systematisch, unsere offenen, liberalen und pluralen Gesellschaften zu diskreditieren. Das Coronavirus wird dabei lediglich zum Brandbeschleuniger!

Mehr denn je geraten unsere Werte und Lebensweise jetzt unter Druck – nicht nur durch Mächte von außen. Wir kämpfen gegen Corona, aber auch gegen das Virus des Autoritären und dessen Ausbreitung inmitten Europas. Außergewöhnliche Zeiten erfordern zwar außergewöhnliche Befugnisse. Aber parlamentarische Kontrolle und freie Medien sind gerade jetzt wichtiger denn je. Niemand darf der Demokratie im Schatten der Pandemie die Luft abschnüren. Weder in Ungarn noch andernorts in Europa. Wenn fundamentale Prinzipien der EU verletzt werden, darf das weder verschwiegen noch ausgesessen werden. Das muss auch finanzielle Konsequenzen haben. Die EU musst jetzt dafür Sorge tragen, dass sie auch nach der Krise bleibt, was sie so einzigartig und kostbar macht: eine Wertegemeinschaft. Ein wichtiges Ziel unserer im Juli beginnenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist daher die Einführung eines Rechtstaats-Checks, mit dem alle Mitgliedsstaaten regelmäßig überprüft werden. Denn wir brauchen in der EU endlich wieder ein gemeinsames Verständnis davon, was Rechtsstaatlichkeit, was den Wesenskern unserer Werte ausmacht.

In den kommenden Monaten müssen wir Europa wieder in die Spur bringen und den Zusammenhalt stärken. Das wird eine zentrale Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft. Mit Blick auf die nationalen Abschottungsmaßnahmen wird es kein Selbstläufer, aus der EU wieder eine Gemeinschaft der Freiheit und Freizügigkeit zu machen. Wir müssen Schengen rasch wiederbeleben und uns innerhalb der EU möglichst eng abstimmen, wann und wie wir unsere Wirtschaft wieder hochfahren. Und wenn wir die Lehren aus der aktuellen Krise ernst nehmen, müssen wir endlich die Idee des sozialen Europas verwirklichen. Die notwendige Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion mit einer verbindlichen sozial- und wirtschaftspolitischen Koordinierung steht noch immer aus. Ziel muss es sein, die massiven sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte in den Euro-Staaten auszubalancieren und bis zum Jahr 2030 möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zu erreichen. Mit der Einführung des Kurzarbeiter-Programms „SURE“ betreten wir jetzt sozialpolitisches Neuland und halten Menschen auch in der Krise im Job. Darüber hinaus müssen wir rasch die Idee einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung in die Tat umsetzen. Corona hat uns zudem in schmerzhafter Weise gezeigt, dass wir in Europa ein flächendeckend modernes und krisenfestes Gesundheitssystem aufbauen müssen. Auch in Sachen Katastrophenschutz und Krisenvorsorge sollten wir uns besser aufstellen. Es gilt, zügig eine europäische Pandemie-Strategie zu erarbeiten und bei überlebenswichtigen Gütern wie Schutzausrüstung und Medikamenten Eigenproduktion anzustreben.

Die gute Nachricht ist: Die Krise zeigt, dass Nationalisten und Populisten Unrecht haben. Die Rückabwicklung ins Nationale ist ein gefährlicher Irrweg. Corona schert sich nicht um Grenzen. Nur mit einer gemeinsamen europäischen Antwort können wir diese Krise bewältigen. Nationale Egoismen, europäischen Kleinmut und zögerliches Handeln können wir uns nicht leisten. Deutlicher denn je wird: Wir brauchen ein stärkeres Europa, nicht weniger! Corona stellt zwar unseren Zusammenhalt auf eine harte Probe. Aber es kann zum Katalysator für mehr europäische Integration werden – wenn wir solidarisch zusammenstehen und entschlossen handeln. In der ungemütlichen Post-Corona-Welt werden wir ein starkes und solidarisches Europa mit verlässlichem Wertekompass brauchen. Der fortschreitende Klimawandel, die gesellschaftliche Wucht der Digitalisierung und die geopolitisch stürmische Großwetterlage werden uns allen enorme Kraftanstrengungen abverlangen. Jetzt geht es um die Weichen für eine gemeinsame und selbstbestimmte Zukunft. Die Stunde des vereinten Europas hat geschlagen!

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