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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Veranstaltung „Immer noch auf Reformkurs? Die Ukraine in der Transformation“

28.01.2019 - Rede

Bilder sagen bisweilen mehr als tausend Worte. Wer erinnert sich nicht an das gewaltige Meer von Europaflaggen in den Händen der Demonstrantinnen und Demonstranten auf dem Maidan in Kiew im Winter 2013/2014? Die unzähligen Europaflaggen wurden zum sichtbaren Symbol für die Proteste, die fortan auch unter dem Namen „Euromaidan“ in die Geschichtsbücher eingingen.

Fünf Jahre später wollen wir heute eine Zwischenbilanz ziehen: Ist die Ukraine immer noch auf Reformkurs? Oder ist sie sozusagen „lost in transformation“ – also unterwegs auf dem beschwerlichen Weg der Reformen und Transformation stecken geblieben?

Ich danke Frau Dr. Despot und dem Team von der „Akademie für Gute Regierungsführung und Empowerment in Europa“ (AGREE) für die Einladung zur heutigen Veranstaltung und für das großartige Engagement, das Sie in den vergangenen Jahren für die Ukraine gezeigt haben. Man spürt, dass Sie mit großem Herzblut dabei sind.

Kaum ein Land hat in den vergangenen Jahren international, in Europa und in Deutschland so viel Aufmerksamkeit, Unterstützung und Solidarität erfahren wie die Ukraine. Und das nicht nur wegen der Euromaidan-Proteste, sondern nicht zuletzt auch wegen der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und der andauernden militärischen Gewalt in der Ostukraine. Auch der aktuelle Konflikt im Asowschen Meer zeigt, wie fragil die Lage in der Ukraine immer noch ist.

In der „Revolution der Würde“ – wie sie in der Ukraine genannt wird – ist eines deutlich geworden: Sehr viele ukrainische Bürgerinnen und Bürger blicken sehnsüchtig nach Europa, sie orientieren sich an europäischen Werten und fordern vehement Reformen ein.

Auch die ukrainische Regierung, die aus dem Euro-Maidan hervorging, bekennt sich zu demokratischen Veränderungen, tiefgreifenden Reformen und einer umfassenden Modernisierung des Landes.

Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren mit einem „Aktionsplan Ukraine“ mit Rat und Tat an der Stabilisierung und den inneren Reformen des Landes beteiligt.

So wurde bereits im Sommer 2014 mit Unterstützung des Auswärtigen Amts die „Akademie für Gute Regierungsführung und Empowerment in Europa“ (AGREE) gegründet. Sie will Führungskräfte der ukrainischen Verwaltung bei der Umsetzung der Reformen insbesondere im Bereich der öffentlichen Verwaltung unterstützen. Wissenstransfer, praxisbezogener Erfahrungsaustausch, Kompetenzerweiterung sowie Vernetzung sollen unseren ukrainischen Partnerinnen und Partnern die Werkzeuge an die Hand geben, um die Verwaltung zu modernisieren.

Modernisierung und Transformation vollziehen sich nicht an einem Tag, sie sind bisweilen schmerzhaft, verlangen den Menschen viel ab, sie brauchen Zeit. Deshalb sind Geduld, Empathie und Beharrlichkeit so wichtig.

Fünf Jahre lang haben das AGREE-Projekt und die Europäische Akademie Berlin ukrainische Verwaltungsangehörige auf allen Verwaltungsebenen begleitet und damit einen wesentlichen Beitrag zu den Verwaltungsreformen geleistet.

In mehrwöchigen Lehrgängen und Trainings, mithilfe von Online-gestützten Lern- und Kommunikationsplattformen, in Workshop-Formaten in Deutschland und der Ukraine setzten sich die Teilnehmenden mit „good governance“ auseinander. Seither setzen sie ihre Kenntnisse über gutes Verwaltungshandeln, die Verhinderung und Bekämpfung von Korruption, kommunale Selbstverwaltung und öffentliches Finanzmanagement als Expertinnen und Trainer um.

Eine der Erfolgsgeschichten der ukrainischen Reformen ist die Dezentralisierung. Es geht darum, in der Ukraine die kommunale Selbstverwaltung zu verankern. Deutschland engagiert sich hier besonders. Die Arbeit von Professor Milbradt als G7-Sonderbeauftragter für Dezentralisierung wird in der Ukraine offenkundig sehr geschätzt. Er berät die ukrainische Regierung sowie Vertreterinnen und Vertreter aus den 800 Gemeinden, die sich auf freiwilliger Basis zusammengeschlossen haben, um mehr politische und finanzielle Verantwortung zu übernehmen.

Am 23. Dezember fanden in vielen dieser Gemeinden erstmals Kommunalwahlen statt.

In zehn Gebieten konnten sie wegen des Kriegsrechts nicht durchgeführt werden. Wir hoffen, dass sie so bald wie möglich auch dort nachgeholt werden. Denn es bleibt wichtig, dass die Menschen in der Ukraine spüren: staatliches Handeln wird durch kommunale Selbstverwaltung effektiver und sie bekommen dadurch mehr Mitspracherechte. Das stärkt die Demokratie!

Das Jahr 2019 steht im Zeichen der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Ukraine. Manche sprechen schon von einem Superwahljahr. Nun ist es vor Wahlen nirgendwo leicht, auch gegen Widerstände politisch Kurs zu halten. Aber gerade die Ukraine in ihrer schwierigen innen- und außenpolitischen Lage darf in ihren Reformbemühungen jetzt nicht nachlassen. Denn die Reformen stabilisieren das Land und machen es widerstandsfähig gegen innere und äußere Bewährungsproben.

Die Fortführung des schwierigen Reformweges ist im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und beim Kampf gegen die Korruption besonders wichtig. Das Hohe Antikorruptionsgericht, auf das die Ukrainerinnen und Ukrainer schon so lange warten, sollte seine Arbeit noch vor den Präsidentschaftswahlen aufnehmen. Das stärkt das Vertrauen in die Ukraine und darin, dass das Land weiter auf Reformkurs bleibt.

Mich freut vor allem, dass die ukrainische Zivilgesellschaft zu einer wichtigen Akteurin in der Politik geworden ist. Allerdings ist nach inakzeptablen Übergriffen auf Aktivistinnen und Aktivisten der Zivilgesellschaft eine konsequente Strafverfolgung und ein verlässlicher Schutz zwingend.

Der tiefgreifende Reformprozess in der Ukraine muss gelingen. Eine europäische Zukunftsperspektive für die Ukraine kann es nur geben, wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fest verankert sind, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft modernisiert werden und Korruption bekämpft wird. Der Weg dorthin ist nicht einfach, manchmal schmerzlich. Viele Schritte sind schon gemacht, viele positive Ergebnisse wurden bereits erreicht.

Aber eines ist auch klar: Der Reformprozess ist keine Einbahnstraße, auch wir sind gefordert! Fünf Jahre nach den Euro-Maidan-Protesten sind viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer, die ebenso europäisch denken und fühlen wie wir, ernüchtert und ungeduldig.

Und ich kann ihnen nur schwer erklären, warum wir von der Ukraine zwar stetig Reformen einfordern, aber selbst nicht bereit sind, den Menschen vor Ort ein attraktives Angebot zu machen. Wofür dann überhaupt Reformen?

Mir geht es vor allem darum, dieser jungen Generation eine hoffnungsvolle Perspektive zuhause aufzuzeigen. Ich möchte diesen jungen Menschen gerne zurufen: „Bleibt in Eurer Heimat – weil Ihr Lust auf Euer Land und auf Europa habt! Denn Ihr gehört zu uns.“

Deshalb werbe ich dafür, dass wir diesen Ländern deutlich mehr anbieten sollten als bisher – mindestens eine „Östliche Partnerschaft plus“. In diesem Jahr feiert die Östliche Partnerschaft ihren zehnten Geburtstag: Ein guter Anlass, um eine Zwischenbilanz zu ziehen und miteinander auszuloten, wie eine neue europäische Ostpolitik aussehen könnte.

Klar ist aber auch: Eine neue europäische Ostpolitik darf sich nicht dem Denken in geostrategischen Einflusssphären beugen. Sie darf vor allem niemals dazu führen, dass souveräne, unabhängige Staaten zwischen ihren traditionellen Bindungen zu Russland und ihrer Europaorientierung zerrieben werden. Niemandem, auch Russland nicht, steht ein Veto-Recht zu. Denn Hinwendung zu Europa bedeutet ja eben nicht zwangsläufig eine Abwendung von Russland. In diesen Fragen brauchen wir mehr Taktgefühl statt Paktgefühl!

Vieles muss die Ukraine selber richten und auf den Weg bringen. Aber sie sollte stets wissen: wir stehen den Menschen zur Seite - immer solidarisch, bisweilen kritisch und nie bevormundend. Allen, die dabei konkret helfen und anpacken, danke ich von Herzen!

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