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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Konferenz „Every Day is Roma Day – Rückschau und Ausblick. Fünf Jahre Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas“
-- es gilt das gesprochene Wort --
Meine Damen und Herren,
fünf Jahre sind inzwischen vergangen, seit das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in der Nähe des Reichstags eingeweiht wurde. Dieses Denkmal kam viel zu spät. Es erinnert an den oftmals „vergessenen Holocaust“ an den Sinti und Roma. Ihm wird bis heute in der breiten Öffentlichkeit immer noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei gehören die Verbrechen an den Sinti und Roma ebenso wie die Shoah der jüdischen Opfer zum dunkelsten Kapiteln der wechselhaften deutschen Geschichte.
Viele Jahre kontroverser, auch schmerzhafter Debatten über das Denkmal liegen hinter uns. Als Mitglied des Kuratoriums der Denkmal-Stiftung könnte auch ich manches erzählen. Ich erinnere nur an die Auseinandersetzungen über den Widmungstext.
Heute ist das Denkmal ein würdiger Ort der Erinnerung an die vielen Hunderttausend verfolgten und ermordeten Sinti und Roma, deren Leben durch den nationalsozialistischen Rassenwahn auf grausame Art und Weise zerstört wurden. Jedes einzelne Schicksal steht für unfassbares Leid, unsägliche Qual, für systematische Ermordung.
Nun können Denkmäler Geschehenes nicht ungeschehen, Opfer nicht wieder lebendig machen. Doch sie helfen dabei, das Gedenken, die Erinnerung, die Mahnung in die Mitte unserer Gesellschaft zu tragen. Das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma steht symbolisch für die besondere Verantwortung unseres Landes. Wir erkennen den Völkermord an den Roma und Sinti Europas an. Es ist unsere Pflicht, entschlossen und glaubhaft gegen Antiziganismus, Antisemitismus und Rassismus zu kämpfen.
Meine Damen und Herren,
heute leben in Europa zwischen acht und zwölf Millionen Sinti und Roma. In Deutschland sind es wieder 70.000 bis 100.000 Menschen. Was für ein Glück! Bis heute ist die größte ethnische Minderheit Europas aber eben immer noch die am meisten diskriminierte Minderheit Europas. Wer Roma ist, wird ausgegrenzt, stigmatisiert, beleidigt, seiner Würde beraubt. Das ist der Alltag - für viel zu viele.
Antiziganismus ist eben kein Problem von gestern, er ist auch heute noch tief in unseren Gesellschaften verwurzelt – auch hier bei uns in Deutschland. Studien zeigen, dass Sinti und Roma beim Zugang zu Bildung und dem Gesundheitssystem benachteiligt werden. Oftmals haben sie auch deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Nach einer Studie der Universität Leipzig aus dem vergangenen Jahr hätten fast 60 Prozent der Befragten in Deutschland ein Problem damit, wenn Sinti und Roma in ihrer Nähe wohnen.
Knapp die Hälfte der Befragten ist dafür, dass Sinti und Roma aus den Innenstädten verbannt werden sollten. Und 58 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Sinti und Roma besonders zu Kriminalität neigen. Das sind beunruhigende Zahlen, die deutlich machen, wie stark Stereotype und Klischees in unserer Gesellschaft immer noch verankert sind.
Der vielerorts offenen Diskriminierung und Stigmatisierung von Roma und Sinti müssen wir noch viel entschiedener entgegen treten. Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Menschen ohne Perspektive in ärmsten Verhältnissen und von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen leben. Unser Auftrag lautet: Wir kämpfen dafür, dass den Sinti und Roma endlich das zuteil wird, was ihnen zusteht – nämlich Würde, Achtung und die faire Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Ihr Platz ist in der Mitte und nicht am Rand unserer Gesellschaft.
Ja, in den vergangenen Jahren ist in Deutschland und Europa einiges geschehen. Deutschland unterstützt beispielsweise Projekte zur Verbesserung der gesellschaftlichen Integration der Roma auf dem Westbalkan. Dabei wird – neben einem verbesserten Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen sowie der Unterstützung von Existenzgründungen – vor allem darauf hingewirkt, dass deutlich mehr Roma-Kinder eine Schule besuchen. Und auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Programmen.
Ich habe jedoch nicht den Eindruck, dass wir genug tun. Ich vermisse in der öffentlichen Debatte vor allem die Vorbilder, die Mut machenden Beispiele, dass Roma in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind. Ja, es gibt sie, die talentierten, gut ausgebildeten, erfolgreichen Repräsentantinnen und Repräsentanten einer Generation von jungen, engagierten, selbstbewussten Roma. Reden wir über sie. Reden wir mit ihnen.
Geben wir Ihnen eine Chance - als Managerinnen, Lehrer, Professorinnen, Journalisten, Schauspielerinnen und Abgeordnete!
Um Vorurteile und Stereotype zu widerlegen sowie Fremdenhass und Intoleranz abzubauen, ist eine solide Wissensbasis zu Antiziganismus in Deutschland wichtig. Deshalb muss der Deutsche Bundestag endlich eine unabhängige Expertenkommission zur Bekämpfung von Antiziganismus einrichten. Mit dem Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus haben wir in den vergangenen Jahren sehr positive Erfahrungen gemacht, auf denen wir nun aufbauen können. Es tut mir leid, dass es meinen Mitstreiterinnen, Mitstreitern und mir in dieser Legislaturperiode nicht gelungen ist, die Widerstände vor allem in der Fraktionsführung von CDU/CSU zu überwinden. Würdigen möchte ich hier den Einsatz des ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für nationale Minderheiten Hartmut Koschyk.
Er hat mich sehr im Einsatz für die Expertenkommission unterstützt! Der neu gewählte Bundestag sollte diese Kommission unverzüglich einrichten.
Wo Schatten ist, ist auch Licht! Auch über Gelungenes und Positives möchte ich kurz sprechen. Es freut mich, dass die jahrelangen Forderungen der Vertreterinnen und Vertreter der Roma sowie des UNO-Menschenrechtsausschusses zum ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Lety gehört wurden. Nun soll die Schweinemastanlage auf dem Gelände des ehemaligen Lagers an einen anderen Ort verlegt werden. Endlich ist ein würdiges Gedenken an die Opfer der Roma in der Zeit des Nationalsozialismus an diesem Ort möglich.
Meine Damen und Herren,
Europas Kraft und Stärke liegt in seiner kulturellen Vielfalt. Kultur und Kunst der Roma erfahren bislang nicht die Wertschätzung und den Respekt, den sie selbstverständlich verdienen. Ohne sie wäre unser Kontinent ärmer, trostloser und langweiliger.
Kunst, Tradition und Sprache der rund zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa brauchen einen Ort des Austauschs und der Begegnung. Und einer dieser Orte ist Berlin. Darauf bin ich stolz, dafür bin ich dankbar.
Es gehörte für mich zu den schönsten Ereignissen meiner Amtszeit als Staatsminister, dass im Juni, mit tatkräftiger Unterstützung des Europarats, des Zentralrates der Sinti und Roma und der Open Society Foundation in Berlin der Startschuss für das Europäische Roma Institut für Kunst und Kultur (ERIAC) gegeben wurde.
Wir haben damit eine Institution geschaffen, die der größten Minderheit Europas Möglichkeiten für einen künstlerischen, kulturellen, intellektuellen und politischen Austausch bietet.
Die eigene Kultur zu erhalten und zu pflegen, sie einer breiten Öffentlichkeit näher zu bringen - das wird nicht nur die Identität der Roma in ganz Europa stärken, sondern auch dabei helfen, die grassierenden Vorurteile zu überwinden und ein neues Selbstbewusstsein zu fördern.
Dass die Bundesregierung die Aktivitäten des Instituts nachdrücklich unterstützt, ist gleichzeitig auch ein Signal an andere europäische Regierungen. Überall in Europa sollte es vergleichbare Angebote geben, um die Geschichte und Kultur von Sinti und Roma als einen festen Bestandteil der nationalen wie unserer gemeinsamen europäischen Geschichte und Kultur zu begreifen. Ich ermutige die Mitgliedstaaten des Europarats, die Angebote von ERIAC zu nutzen und gemeinsame Projekte in ganz Europa zu entwickeln.
Und trotzdem: für Selbstzufriedenheit besteht kein Anlass - weder in Deutschland noch in Europa.
Wir brauchen Institutionen wie die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, den Zentralrat der Sinti und Roma, die Bundesarbeitsgemeinschaft Romnokher, Verbände und Persönlichkeiten, die in Politik und Gesellschaft Flagge zeigen für die Interessen von Sinti und Roma. Bleiben Sie kritisch, bleiben Sie leidenschaftlich, bleiben Sie beharrlich, mutig und unverdrossen. Danke für Ihren und Euren unermüdlichen Einsatz. Nicht nur heute, sondern jeden Tag, denn: Every Day is Roma Day!