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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth beim Konzert „Requiem für Auschwitz“ zum Gedenken an die Opfer des NS-Vernichtungslagers Auschwitz

26.01.2020 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

Besucht man einen jüdischen Friedhof, so fallen sie einem sofort ins Auge: die Steine, die Hinterbliebene bei ihren Besuchen auf die Gräber legen. Dieser uralte Brauch erinnert an die Zeit des Auszugs aus Ägypten, an das nomadische Leben in der Wüste. Um die ewige Totenruhe zu schützen, die im Judentum eine wichtige Rolle spielt, wurden Steine zum Schutz vor wilden Tieren auf das Grab gelegt.

Gut sechs Kilometer nördlich von hier befindet sich der Jüdische Friedhof Berlin-Weißensee, einer der größten erhaltenen jüdischen Friedhöfe Europas. Direkt hinter dem schmiedeeisernen Eingangsportal treffen Besucherinnen und Besucher auf ein Rondell aus Gedenksteinen, die den Namen ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz, Stutthof oder Bergen-Belsen tragen.

Auf diesen Gedenksteinen liegen unzählige Steine von Hinterbliebenen, die heute kein Grab ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen können. An diesem Ort wird uns vor Augen geführt, mit welch gewaltigem Verlust die jüdische Gemeinde Berlin noch heute zu kämpfen hat, wie viele Opfer des Holocausts nach ihrem Tod niemals eine letzte Ruhestätte finden konnten.

An diese Menschen denke ich am heutigen Tag ganz besonders:

Denn die Nazis nahmen ihnen nicht nur das Leben, sondern sie verwehrten ihnen auch die Totenruhe. Frauen, Männer und Kinder wurden vergast, ihre Leichen in industriell angelegten Krematorien verbrannt. Der Boden in Auschwitz-Birkenau und anderen Vernichtungslagern ist von ihrer Asche bedeckt.

Blicken wir auf die ehemalige Sowjetunion, so wurden dort massenhaft Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma in Wäldern, Senken und Schluchten grausam erschossen. Bis heute konnte nur ein geringer Bruchteil dieser Massengräber gesichert werden. Vielerorts sind die sterblichen Überreste der Opfer auf Äckern und Wiesen verstreut. Es ist eine Schande!

Und deshalb sind wir heute hier: An diesem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau trauern wir hier im Berliner Dom mit einer Totenmesse um alle Opfer des Nationalsozialismus.

Wir trauern um Freundinnen und Freunde, die wir nie kennenlernen durften. Um Kinder, die ihre Lebensträume nie verwirklichen konnten. Um Musikerinnen, deren Klängen wir nie lauschen durften. Um Künstler, deren Werke wir nie zu Gesicht bekommen haben. Um Menschen, deren Güte und Wärme wir nie erfahren durften.

Heute erklingt für uns das „Requiem für Auschwitz“. Es wurde von dem niederländischen Sinto Roger Moreno-Rathgeb nach einem Besuch in Auschwitz komponiert und 2012 uraufgeführt. Aus seiner Musik sprechen Hoffnung ebenso wie Verzweiflung. Sein Werk lässt uns die Angst und die Todesqualen spüren, die Menschen in Auschwitz und anderen Lager erlitten haben.

Ja, manchmal vermag die Sprache der Musik eben viel mehr zu sagen und zu trösten als tausend Sätze. Da, wo es uns vor Scham und Trauer schwer fällt, die richtigen Worte zu finden, trifft die Musik von Roger Moreno-Rathgeb den richtigen Ton.

Ganz besonders freue ich mich, dass heute die internationalen Musiker der Roma und Sinti Philharmoniker unter Leitung von Riccardo M. Sahiti dieses Werk zur Aufführung bringen und gemeinsam mit einem jüdischen Chor aus Berlin, dem Synagogal Ensemble Berlin unter Leitung von Regina Yantian, auf der Bühne stehen.

Ein herzliches Dankeschön an alle, die diesen Abend möglich gemacht haben, vor allem dem Zentralrat der deutschen Sinti und Roma, dem Berliner Dom und seiner Gemeinde als Gastgeberin.

Meine Damen und Herren,

Und dennoch dürfen wir am heutigen Tag nicht nur zurückblicken. Denn wir leben auch heute wieder in brandgefährlichen Zeiten.

„Unser Erinnern hat uns gegen das Böse [nicht] immun gemacht. […] Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand“, so brachte es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Donnerstag in seiner Rede in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem auf den Punkt. Und er hat Recht.

Jüdische Kinder werden in Berliner Schulen gemobbt, weil sie Juden sind. Roma bekommen in Bad Hersfeld keine Wohnung, weil sie Roma sind. Geflüchtete werden in der Bahn angepöbelt, weil sie Geflüchtete sind.

Demokratieverachtung wird mit den Worten „Man wird doch wohl noch sagen dürfen...“ als legitime Kritik verharmlost. Bürgermeister verzichten auf eine Wiederwahl, weil sie der ständigen Bedrohungen müde sind und ihre Familien vor dem rechten Mob schützen wollen. Aufrechte Demokraten, die nicht schweigen und sich wegducken, werden mit dem Tode bedroht. Im Jahr 2020 stellen in Deutschland wieder Menschen unverblümt den Holocaust in Frage, sie verharmlosen und verfälschen die Geschichte. Sie verachten die Demokratie und hassen die Vielfalt. Sie suchen die Antworten auf die drängenden Fragen dieser Zeit im Nationalismus, in der Abschottung gegenüber allem Fremden, sie schüren Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus, sie säen Hass und Hetze.

Wir haben zu lange geschwiegen und abgewiegelt, als rote Linien schleichend und immer wieder überschritten wurden. Es reicht nicht mehr, sich in der Mehrheit zu wähnen. Jetzt heißt es für uns als Demokratinnen und Demokraten, dagegenzuhalten und sich klar und deutlich von der oft lauteren rassistischen und antisemitischen Minderheit klar abzugrenzen.

Das sind wir nicht nur den Opfern des Nationalsozialismus schuldig. Wir schulden es unserer Selbstachtung als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen...“

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