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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth zum Auftakt der Veranstaltungsreihe zur Erinnerung an die Kindertransporte in der NS-Zeit
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Pau,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
wie nahe Freiheit und Gefangenschaft, wie nahe Leben und Tod bisweilen beieinander liegen – daran erinnert seit 2008 eindrücklich das Mahnmal von Frank Meisler neben dem Bahnhof Friedrichstraße.
Vielleicht ist es Ihnen ja schon mal aufgefallen: Mitten im geschäftigen Trubel des Berufs- und Reiseverkehrs erinnern uns dort sieben Kinderfiguren aus Bronze daran, dass an diesem Ort über das Schicksal junger Menschen entschieden wurde.
Für tausende Kinder begann hier die Zugfahrt in einen grausamen Tod in den Konzentrationslagern der Nazis.
Stellvertretend für die schätzungsweise 1,5 Millionen jüdischen Kinder, die im Holocaust ihren Tod fanden, stehen bei dem Mahnmal fünf Figuren aus grauer Bronze. 1,5 Millionen Kinder wurden gequält, tot geschlagen, vergiftet oder vergast.
Für andere Kinder dagegen starteten am Bahnhof die Züge in die Freiheit und ein Leben in Sicherheit. Bei dem Mahnmal stehen dafür stellvertretend die zwei Kinderfiguren aus hellerer Bronze, die in die entgegengesetzte Richtung schauen. Mit den so genannten Kindertransporten, an die wir heute hier im Auswärtigen Amt erinnern wollen, konnten zwischen 1938 und 1945 tausende jüdische Kinder nach Großbritannien und in andere Staaten entkommen.
Wie war es im Jahr 1938 zu diesen Kindertransporten gekommen? In der Reichspogromnacht, der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, hatte der blinde Rassenhass des NS-Regimes einen ersten traurigen Höhepunkt erreicht. Synagogen wurden in Brand gesetzt, jüdische Geschäfte zerstört oder beschädigt. Es gab viele Tote. Die Nazis verschleppten 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager.
Die britische Regierung und wenig später auch die belgische Regierung reagierten prompt. Sie lockerten die Einreisebestimmungen für minderjährige Flüchtlinge. Eine politische Entscheidung, die rund 18.000 jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich, Tschechien und Polen das Leben retten sollte. Ein Privatmann, Nicholas Winston, organisierte die Transporte und beschaffte die – ausschließlich private – Finanzierung.
Wir dürfen heute einige der damals geretteten Kinder begrüßen. Sie hier willkommen zu heißen, bewegt mich sehr. Sie, verehrte Damen und Herren, mussten sich damals von Ihren Eltern und von Ihrer Heimat trennen.
Oftmals hatten Sie nicht viel mehr dabei als einen kleinen Koffer mit Ihren wichtigsten Habseligkeiten. Und Ihre Erinnerung – an die Familie, an Freundschaften und an Ihr Zuhause, das sie zurücklassen mussten. Ihnen wurde damals eine unbeschwerte Kindheit genommen, aber die Chance auf ein Leben in Freiheit geschenkt. Sie haben überlebt.
Sie traten damals eine Reise ins Ungewisse an. Bestimmt haben Sie sich voller Sorge gefragt: Wie sieht das Leben in dem anderen Land aus? Nehmen die Menschen mich freundlich auf? Wann sehe ich meine eigene Familie, meine Freunde, meine Heimat wieder?
Sie fanden später Zuflucht in Großbritannien, den Niederlanden, in Belgien, Schweden, in der Schweiz, in Dänemark, Frankreich, Spanien, im damaligen Mandatsgebiet Palästina, in den USA, in Norwegen, Australien und Kanada – deren Vertreterinnen und Vertreter ich heute ebenfalls hier begrüße.
Heute wissen wir: Vier von zehn Kindern sahen ihre Mütter und Väter nach dem Krieg nicht wieder, viele gingen in die USA oder nach Palästina, nur wenige kehrten zurück.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
neben vielen Zeitzeugen seid auch Ihr heute hier. Das freut mich sehr! Mit Eurer Anwesenheit und Eurem Einsatz tragt Ihr dazu bei, die Erinnerung wach zu halten. Ihr tragt dazu bei, dass sich auch nachfolgende Generationen mit der deutschen Geschichte, vor allem mit ihrem dunkelsten Kapitel, auseinandersetzen. Symbolisch stehen dafür diese goldenen Bänder, die wir heute Abend alle tragen. Die Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen ist unser gemeinsames Band, das uns über alle Generationen zusammenhält. Wir sind alle Teil einer Erinnerungsgemeinschaft, ob jung oder alt, Frauen oder Männer.
Denn Zukunft braucht Erinnerung. Nur wer die Geschichte kennt, kann verhindern helfen, dass sich ihre Tragödien wiederholen. Die Kinder, die mit den Kindertransporten aus Deutschland fliehen konnten, waren damals so alt wie Ihr heute. Sie wurden gerettet und können deshalb heute als betagte Menschen bei uns sein und ihre bewegende Geschichte erzählen. Welch ein Glück!
Kinder sind die Hoffnung auf eine bessere Welt in Frieden und Freiheit: Es liegt vor allem in Euren Händen und Köpfen, wie die Welt von morgen und übermorgen einmal ausschauen wird. Ich wünsche mir deshalb, dass Ihr die Geschichte der Kindertransporte weitererzählt. Ich wünsche mir, dass Ihr denjenigen helft, die Eure Hilfe benötigen. Und dass Ihr Euch auch in Zukunft dafür engagiert, dass jeder hier in Deutschland frei und ohne Angst leben kann – unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht und sexueller Identität.
Ich begrüße ebenso herzlich die deutschen und polnischen Auszubildenden, die Berufsschülerinnen und Berufsschüler, die vor kurzem in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz zusammengetroffen sind und gemeinsam Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau geleistet haben. Danke für Euer großartiges Engagement!
Meine Damen und Herren,
den mittlerweile befreundeten Staaten, ihren mutigen und entschlossenen Bürgerinnen und Bürgern, schulden wir großen Dank. Sie haben in unmenschlichen Zeiten ihre Menschlichkeit bewiesen. Ihr damaliges Engagement sollte uns allen ein Vorbild sein für unser heutiges Handeln.
Auch in Deutschland gab es Menschen, die die Kindertransporte unterstützt haben. Stellvertretend für alle möchte ich den jüdisch-deutschen Geschäftsmann Wilfrid Israel erwähnen, Besitzer eines Kaufhauses in der Spandauer Straße in Berlin-Mitte. Er setzte alle seine weitreichenden privaten und geschäftlichen Verbindungen ein, um jüdischen Kindern die Ausreise aus Deutschland zu ermöglichen. Albert Einstein schrieb einmal über Wilfrid Israel, dass er nie in seinem Leben in Kontakt mit einem Menschen war, der so edel, so stark und so selbstlos war.
Wilfrid Israel wurde 1943 in einem Passierflugzeug über dem Golf von Biscaya abgeschossen. Heute erinnert ein Stolperstein in der Spandauer Straße an ihn. Was wäre das für eine wunderbare Geste des Dankes und des Respekts, wenn die Stadt Berlin eine Straße oder einen Platz nach ihm benennen würde.
Auch heute noch müssen Menschen ihre Heimat verlassen. 60 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Fast die Hälfte davon sind jünger als 18 Jahre. Mehr als ein Drittel aller Flüchtlinge, die heute in Deutschland ankommen, sind Kinder. Öffnen wir unsere Herzen und helfen wir, wo immer es möglich ist. Das sollte uns unsere eigene Geschichte lehren.
Unsere Gesellschaft ist heute vielfältiger denn je: 20 Prozent aller Deutschen haben einen Vorfahren, der oder die nicht in Deutschland geboren wurde. Deutschland ist ein Einwanderungsland.
Trotzdem erleben wir gerade wieder Zeiten, in denen Diskriminierung, Ausgrenzung und Rassismus salonfähig zu werden drohen. Das dürfen wir nicht zulassen!
Gleichzeitig erleben wir jedoch auch eine große Kraft der Solidarität und des Mitgefühls in unserer Gesellschaft. Wir erleben Humanität durch alle Altersstufen und gesellschaftliche Schichten hinweg: Ohne die vielen tausend ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer wäre die Aufnahme und die Integration von Geflüchteten hier in Deutschland nicht möglich gewesen.
Ganz nach dem Vorbild der Gastfamilien von 1938, die damals ihre helfenden Hände ausgestreckt haben, wollen wir heute unser menschliches Gesicht zeigen.
Wir setzen uns dafür ein, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion oder kultureller Traditionen sich hierzulande wohl fühlen können – mit einem Platz in der Mitte unserer Gesellschaft und nicht an ihrem Rand. Wenn wir daran bisweilen zweifeln und die Aufgabe als zu schwer empfinden sollten, möge uns die Erinnerung an die Kinder, die vor rund 80 Jahren fliehen und überleben konnten, Kraft und Zuversicht schenken. Menschlichkeit lohnt sich. Immer und überall.