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„Europa und die Türkei – Partner in schwierigen Zeiten“ - Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth an der İstanbul Kültür Üniversitesi

07.05.2018 - Rede

Spektabilität, sehr geehrter Dekan, Herr Prof. Dr. Öztürk,
sehr geehrter, lieber Generalkonsul Birgelen,
liebe Studierende der İstanbul Kültür Üniversitesi,

wer im deutschen Fernsehen eine der zahlreichen politischen Talkshows einschaltet, fand sich zuletzt häufig in Debatten über die Türkei wieder. Oft – ich weiß das aus eigener Erfahrung – sind solche Diskussionen ziemlich erhitzt und kreisen früher oder später um die Frage, ob die Türkei denn ein europäisches Land sei.

Ich finde diese Diskussion aus mehreren Gründen schwierig:

Erstens hat die Europäische Union diese Frage grundsätzlich schon im Jahr 1999 beantwortet, als sie einstimmig entschied, dass mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können. Beitreten können nur europäische Staaten im geographischen Sinn.

Zweitens bringt uns die Erörterung dieser Frage keinen Schritt weiter, wenn wir bestimmen wollen, welche gemeinsame Politik die EU und die Türkei verfolgen sollten.

Für mich ist „europäisch“ eindeutig mehr als ein bloßer geographischer Terminus. „Europäisch“ zu sein heißt doch vor allem: Sich als Teil einer Wertegemeinschaft fühlen, sich für die Herrschaft der Demokratie und des Rechts zu begeistern. Und nationale Interessen zu Gunsten eines großen gemeinsamen Projektes zurückzustellen. Diese Interpretation mag zugegebenermaßen etwas euphorisch klingen und meiner Leidenschaft für die Europäische Union und europäische Politik geschuldet sein. Aber sie führt uns an die Substanz dessen heran, was hinter den gegenwärtigen Verwerfungen in unseren Beziehungen steht.

Letztlich geht es um die Frage, wo sich die Türkei im Koordinaten-System der Werte selbst verortet. Sie ist seit 1949 Mitglied im Europarat, seit 1952 Mitglied der NATO und seit 1973 Teilnehmerstaat der KSZE, aus der die heutige OSZE hervorging. Seit 2005 ist die Türkei Beitrittskandidat der Europäischen Union. Ich finde, das spricht für sich: die Türkei hat durch Zugehörigkeit zu diesen, auf gemeinsamen Werten gegründeten Organisationen, ihre eigenen Ambitionen formuliert.

Gerade aus diesen Organisationen – zum Beispiel aus dem Europarat und der OSZE - wurde zuletzt aber immer wieder Kritik in Richtung Türkei laut. Der Europarat hat in einem Gutachten von März 2017 Befürchtungen geäußert, dass die neue türkische Verfassung keine ausreichenden Kontrollmechanismen – sogenannte „checks and balances“- aufweist, um ein Abgleiten in ein autoritäres Regime zu verhindern.

Der OSZE-Beauftragte für Medienfreiheit, mein langjähriger Amtskollege und Freund Harlem Désir, hat seit seinem Amtsantritt im Juli 2017 schon gut ein halbes Dutzend Mal Kritik am Zustand der Pressefreiheit in der Türkei geübt. Ich würde mir mehr Signale von der Türkei wünschen, dass sie sich dieser Kritik ernsthaft stellt und sich mit ihr auseinandersetzt.

Der schwierigste, gleichzeitig aber auch der zentrale Teil der europäisch-türkischen Partnerschaft ist das wirtschaftliche Verhältnis zwischen Europäischer Union und der Türkei. Es steht außer Frage, dass die EU und die Türkei enge Partner sind. Besonders deutlich wird dies an den Wirtschaftszahlen: Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei. Umgekehrt lag die Türkei im Jahr 2017 auf Platz 5 der wichtigsten Handelspartner der EU. Es versteht sich von selbst, dass es das Anliegen beider Seiten ist, diese Beziehungen zu bewahren und auszubauen.

Die EU und die Türkei sind aber auch deshalb gut beraten zusammenzuarbeiten, weil wir eine Vielzahl von Bewährungsproben nur gemeinsam lösen können. Hierzu gehört etwa der Kampf gegen den Terrorismus. Dass die Türkei das europäische Land ist, das mit Abstand die meisten Terroropfer zu beklagen hat, wurde vielen Deutschen erst spät bewusst – als nämlich im Januar 2017 das Brandenburger Tor in Berlin in den Farben der türkischen Flagge erleuchtet wurde: zum Gedenken an die Opfer des schrecklichen Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub „Reina“. Um Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten und unser Gesellschaftsmodell gegen den Wahn verblendeter Terroristen zu verteidigen, braucht es gemeinsame Anstrengungen. Darin sind wir uns sehr einig.

Ebenso können wir Flucht- und Migrationsbewegungen nur gemeinsam bewältigen. In der Türkei sind mittlerweile mehr als dreieinhalb Millionen Flüchtlinge registriert. Damit leistet Ihr Land einen überwältigenden Beitrag zur Bewältigung der humanitären Krise, die der blutige Konflikt in Syrien ausgelöst hat.

Diese Lasten müssen gemeinsam getragen werden – es geht nicht an, dass einzelne Länder diese alleine schultern. Die EU sollte daher weitere 3 Mrd. EUR für die Versorgung von Flüchtlingen im Lande bereitstellen.

Gleichzeitig müssen wir auch die Ursachen für Flucht und Vertreibung bekämpfen. Vorrangig ist dabei, dass endlich Frieden in Syrien einkehrt. In ihrer Doppelfunktion als NATO-Mitglied und Teil der Astana-Gruppe mit Russland und Iran kommt der Türkei eine sehr wichtige Brückenfunktion zu. Niemand zweifelt daran, dass gerade die Türkei als Nachbarstaat Syriens ein legitimes und dringliches Interesse an der Beendigung des Konflikts hat. An dieser Stelle muss ich aber auch sagen: Der Einmarsch in Afrin hat uns in Deutschland sehr besorgt – und sorgt für heftige Kontroversen. Die vorgebrachten Gründe für die Militäroperation überzeugen uns nicht.

Von einem engen Freund und NATO-Alliierten hätten wir uns gewünscht, dass er sich enger mit uns abstimmt und auf geäußerte Bedenken eingeht. In der jetzigen Situation schränkt das Vorgehen der türkischen Armee in Afrin unsere Möglichkeiten leider ein, eine politische Lösung für den Konflikt zu finden.

Trotz aller Differenzen ist es wichtig, auch in schwierigen Zeiten den Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen. Dies ist auch der Anlass meiner Reise. Ich werde anschließend weiter nach Ankara reisen, wo ich mit meinem Amtskollegen, Europaminister Ömer Çelik, zusammentreffen werde. Ebenso war es gut und richtig, dass Präsident Erdoğan sich Ende März mit den Spitzen der EU-Institutionen im bulgarischen Varna zum Gespräch getroffen hat.

Gleichzeitig sollten wir uns aber nichts vormachen: Im Verhältnis EU-Türkei liegt derzeit viel zu viel im Argen. Besonders deutlich wird dies, wenn wir uns den jüngsten Länderbericht der EU-Kommission ansehen. Er stellt massive Rückschritte bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fest.

Bei der Lektüre wird deutlich: Da läuft gerade etwas in die völlig falsche Richtung – nicht nur nähert sich die Türkei der EU derzeit nicht mehr an, sie bewegt sich sogar in großen Schritten politisch weg von ihr. Dem gegenüber steht das wiederholte Bekenntnis der türkischen Regierung zu Europa und zu dem Weg der europäischen Integration. Es ist gut, dass die türkische Regierung an diesem Ziel festhält. Ihre politischen Handlungen weisen aber oftmals leider in eine komplett andere Richtung.

Bisweilen hört man aus Ihrem Land Stimmen, die Kritik an der türkischen Politik als Ausweis von „Türkeifeindlichkeit“ oder gar „Islamophobie“ bewerten. Auch ist zu hören, das Ausland habe kein Interesse an einer starken Türkei. Ich kann diese Rhetorik nicht verstehen und kann an dieser Stelle nur wiederholen: Sich der EU annähern zu wollen, heißt auch, ihre Werte und Grundprinzipien teilen zu wollen. Ich wünsche mir – und hier spreche ich für die gesamte Bundesregierung – eine starke Türkei, die sich europäischen Werten vorbehaltlos verpflichtet.

Die EU ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist zu allererst eine Union der Werte. Unsere Grundwerte – Demokratie und Pluralismus, Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit – sind nicht verhandelbar. Eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Gerichte, denen die Bürgerinnen und Bürger vertrauen können, faire Prozesse und die Einhaltung der Menschenrechte sind das Fundament Europas. Ohne Meinungs- und Medienfreiheit gerät dieses Fundament ins Bröckeln. Fehlen sie, dann leidet darunter die Qualität der öffentlichen Diskussion und damit auch der Wettbewerb um die besten politischen Ideen. Früher oder später tritt dann die unweigerliche Folge ein: Die Demokratie selbst gerät ins Wanken. Die zahlreichen Inhaftierungen von Journalisten und Wissenschaftlern zeugen leider davon, dass dieser Prozess in der Türkei bereits ein gefährliches Stadium erreicht hat.

Angesichts der Entwicklungen in der Türkei wird in Deutschland und der EU häufig die Frage gestellt, ob es überhaupt noch richtig ist, Beitrittsverhandlungen zu führen. Als Freund der Türkinnen und Türken sage ich ganz klar:

Die EU darf die Tür nicht von sich aus schließen. Aus vielen Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürger Ihres Landes weiß ich: Die EU ist für viele Menschen ein wichtiger politischen Anker, ja eine Hoffnung. Sie sehen in ihr eine wirkungsvolle Instanz, die wirtschaftliche Interessen, sozialen Fortschritt mit hohen Standards bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verknüpft.

Gleichzeitig müssen wir aber auch feststellen: Der Beitrittsprozess ist, solange sich die politische Lage in der Türkei nicht ändert, faktisch eingefroren. Das heißt auch: Je länger der aktuelle Zustand anhält, umso weniger ist der Beitrittsprozess das politisch richtige Instrument, um den beiderseitigen Interessen und Erwartungen an eine Partnerschaft gerecht zu werden. Wir müssen daher auch überlegen, wie wir die Zusammenarbeit verbessern und zukunftsfähig machen wollen.

Ich denke hier an die Modernisierung der Zollunion und die Aufhebung der Visapflicht für türkische Staatsangehörige für Reisen in den Schengen-Raum. Hier haben wir klare Absprachen, aber auch Erwartungen und – bei der Visaliberalisierung sehr konkrete – Kriterien formuliert. Ohne positive Schritte, ohne eine Kurskorrektur bei der Rechtsstaatlichkeit sind Fortschritte in den beiden Bereichen in der EU kaum jemandem zu vermitteln. Das sage ich auch als direkt gewählter Abgeordneter des Bundestags, der sich bei Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern über die Türkei sehr kritischen Fragen stellen muss.

Immer wieder werde ich auch mit Forderungen konfrontiert, die Finanzhilfen bzw. Vorbeitrittshilfen zu streichen, die der Türkei auf Grund ihres Status als EU-Beitrittskandidat zugesagt wurden. Die Bundesregierung sollte keine Entscheidungen treffen, die kurzfristig innenpolitischen Applaus einbringen, unseren langfristigen Interessen aber schaden. Vielmehr sollten wir die Vorbeitrittshilfen klug und gezielt einsetzen, damit sie im Interesse der Menschen hier und in der EU verantwortungsvoll ausgegeben werden.

So ist es mir ein ganz besonderes Anliegen, Mittel in den Universitäts- und Jugendaustausch zu stecken, in Programme wie Erasmus. Es freut mich, dass die Mittel im neuen EU-Budget verdoppelt werden.

Denn das größte Potenzial der EU-Türkei-Beziehungen liegt in ihrem unerschöpflichen Reichtum an gesellschaftlichen Kontakten und Freundschaften. Dabei kommt gerade Ihnen als jungen Menschen eine überragende Bedeutung zu. Viele von Ihnen waren bereits in der Europäischen Union, manche von Ihnen haben Verwandte und Freunde dort, die Sie regelmäßig besuchen. Wenn ich mich mit jungen Türkinnen und Türken unterhalte, fällt mir immer wieder auf: Es sind die gleichen Fragen und Hoffnungen, die junge Menschen sowohl in der Türkei als auch in der EU umtreiben.

Ich freue mich sehr, dass die Zahl der türkischen Erasmus-Studierenden angestiegen ist. zuletzt im Studienjahr 2016/17 auf fast 3.700. In umgekehrter Richtung ist der Trend leider weniger positiv: im Studienjahr 2016/17 kamen nur noch 3.300 aus der EU hierher in die Türkei.

Es müssen noch viel mehr Studierende in beide Richtungen reisen. Denn unsere europäische Erfahrung zeigt: Das gegenseitige Kennenlernen und der Austausch sind die besten Mittel gegen Hass, Angst und Klischees. Denn wie sagte schon Mark Twain: „Reisen ist tödlich für Vorurteile!“ Lassen Sie uns gemeinsam diesen Aufbruch wagen!

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