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Europa muss den Aufbruch in die digitale Selbstbestimmung wagen
Beitrag von Europa-Staatsminister Michael Roth, erschienen im Handelsblatt.
Längst ist das Digitale auch geopolitisch. Das Rennen um die Technologievorherrschaft rückt ins Zentrum eines neuen globalen Wettstreits. Die USA und China sind die Schrittmacher. Manch einer sieht bereits einen technologischen „Kalten Krieg 2.0“ in vollem Gange. Andere befürchten, Europa könnte zur digitalen Kolonie werden. Derweil sind Deutschland und die Europäische Union erst jüngst aus dem technologischen Dornröschenschlaf erwacht.
Die längst überfällige Debatte über den Mobilfunkstandard 5G war ein lauter Weckruf. 5G wird zum Zentralnervensystem unserer digitalen Gesellschaft und Wirtschaft. Es geht also um Weichenstellungen, die die digitale Zukunft Europas auf lange Zeit prägen werden. Nicht zuletzt die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger steht auf dem Spiel. Hundertprozentigen Schutz gegen Spionage, politische Einflussnahme und Sabotage wird es im digitalen Labyrinth der Netze und Daten gleichwohl nie geben.
Umso wichtiger, dass wir ganz genau hinschauen: Wem können wir beim Ausbau unserer digitalen Infrastruktur vertrauen, mit wem zusammenarbeiten? Die EU-Kommission hat dazu vergangene Woche deutliche Empfehlungen zur Verminderung von Sicherheitsrisiken ausgesprochen.
Das Thema 5G zwingt uns also zu schwierigen Entscheidungen. In Sachen Chancen und Risiken neuer Schlüsseltechnologien ist die Debatte über 5G aber erst der Anfang. Höchste Zeit, dass wir über unseren analogen Tellerrand hinausblicken und den digitalen Aufbruch für Europa wagen! Dabei muss für uns der europäische der maßgebliche Handlungs- und Ordnungsrahmen sein.
Denn die weltpolitische Großwetterlage der vergangenen Jahre hat uns in teils schmerzlicher Weise gezeigt: Mehr denn je brauchen wir europäisches Handeln! Wenn Europa das digitale Zeitalter aktiv gestalten und prägen will, geht das nur gemeinsam. Um digital selbstbestimmt und „souverän“ zu werden, brauchen wir eine „Ein-Europa-Politik des Digitalen“.
Dazu müssen wir die nationale Kleinstaaterei überwinden und den europaweiten Wildwuchs an Initiativen und Programmen in einer gemeinsamen europäischen Strategie bündeln.
Wir müssen massiv in Forschung investieren
Im Zuge einer „Digital-Inventur“ sollten wir klären, wo wir mehr Synergien schaffen und in welchen Bereichen wir am besten mit vertrauenswürdigen Partnern zusammenarbeiten können. In ausgewählten Feldern gilt es, technologische Eigenständigkeit anzustreben. Es muss unser Anspruch sein, bestimmte Schlüsseltechnologien zu beherrschen und in Europa selbst zu besitzen.
Dazu gehören etwa die Bereiche Künstliche Intelligenz, Quantencomputer, Blockchain und Chiptechnologien. Wir müssen uns zudem industriepolitisch viel strategischer aufstellen, digitale Champions aufbauen, den einheitlichen digitalen Binnenmarkt vorantreiben sowie gezielt Aus- und Weiterbildung fördern. Und vor allem massiv in Forschung und digitale Infrastruktur investieren.
Das muss sich auch beim zukünftigen Finanzrahmen der EU angemessen widerspiegeln. Denn als selbstbestimmte Wertegemeinschaft kann Europa im digitalen Zeitalter der „Tech-Geopolitik“ nur bestehen, wenn wir Innovationsmotor sind.
Würde und Selbstbestimmung des Menschen müssen im Zentrum einer europäischen Digitalpolitik stehen – damit die Digitalisierung für die Bürgerinnen und Bürger funktioniert und nicht gegen sie gerichtet ist. Ein europäischer Weg führt über hohe ethische, Datenschutz- und Sicherheitsstandards und muss zu mehr demokratischer Teilhabe, Wohlstand und Freiheit beitragen.
Er begreift den digitalen Raum als Vehikel für eine lebendige und vielfältige Zivilgesellschaft, anstatt ihre Handlungsspielräume einzuengen. Und der europäische Weg bietet auch für den globalen Gestaltungsanspruch der EU große Chancen: Denn wir können uns entschieden vom Datenkapitalismus US-amerikanischer Tech-Giganten einerseits und dem chinesischen Modell mit Staatskontrolle andererseits abgrenzen. Schließlich können wir unsere Standards zum Exportschlager machen.
Im Jahr 2020 wird der globale Wettlauf um die Technologievorherrschaft weiter an Fahrt aufnehmen. Das digitale Zeitalter dürfte stürmisch werden. Europäischer Kleinmut ist fehl am Platz. Die EU-Kommission steigt daher zu Recht aufs Gaspedal und macht den „Mega-Trend“ Digitalisierung zur Priorität. Während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr müssen wir das Thema gezielt vorantreiben.
Nicht zuletzt am Erfolg einer ambitionierten europäischen Digitalpolitik wird sich bemessen, wie es um die Zukunft eines starken, souveränen und solidarischen Europas bestellt ist.