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Der Brexit zeigt den wahren Wert Europas
Staatsminister für Europa Michael Roth im Handelsblatt zu den Auswirkungen der Brexit-Debatte: Der beste „Deal“ sei immer noch die EU-Mitgliedschaft.
„Alexa, was ist eigentlich der Brexit?“ Würde die Stimme des digitalen Sprachdienstes europäisch denken, müsste ihre Antwort wohl so lauten: Der Brexit ist ein bereits dreieinhalb Jahre währendes Scheidungsdrama, das nur Verlierer kennt. Ziel ist eine saubere Trennung, Freunde will man trotzdem bleiben.
Im Dickicht dieses Scheidungsdramas mit all seinen technischen Verästelungen und politischen Finten den Überblick zu behalten fällt selbst Experten schwer. Viele Menschen haben die Nase schlicht gestrichen voll davon. Doch Großbritannien ist immer noch in der EU. Zum dritten Mal wurde der Ausstieg verschoben. Ein ungeregelter Austritt ohne Vertrag wurde zunächst zumindest ausgeschlossen. Und entgegen der Ankündigung von Boris Johnson liegt auch niemand „tot im Graben“, obwohl die Trennung zum 31. Oktober noch nicht erfolgte.
Viel zu lange schon laborieren Großbritannien und die EU an ihrer Scheidung herum. Es war schmerzhaft, es hat ungeheure Ressourcen und Kräfte auf allen Seiten gebunden. Kräfte und Ressourcen, die wir für die Bewältigung zahlreicher Bewährungsproben innerhalb und außerhalb der EU so nötig gebraucht hätten. Unzählige Stunden haben wir mit der Ausarbeitung und Abstimmung von Texten, in Arbeitsgruppen, Ministerräten, bei EU-Gipfeln und in den Parlamenten verbracht.
Nicht zu Unrecht bezeichnet der scheidende EU-Kommissionspräsident Juncker den Brexit als „Zeitverschwendung“. Unterdessen sind auch in Großbritannien die folgenschweren Auswirkungen sichtbar: Der Scheidungsprozess hat gesellschaftliche Gräben vertieft. Das Land ist gespalten, die politischen Fronten sind verhärtet.
Immerhin: Als EU haben wir viel über uns selbst gelernt! Heute sind wir uns viel bewusster als früher, dass wir als EU-Bürger wertvolle Rechte haben; dass wir innerhalb der EU ohne Einschränkung umziehen, leben und arbeiten können, dass uns alle Türen offenstehen. Wir haben gelernt, dass die EU – Nord und Süd, Ost und West – zusammensteht, wenn sie existenziell bedroht ist, und dann als „EU der 27“ mit einer Stimme spricht.
Dieser Zusammenhalt ist umso wichtiger in Zeiten, in denen populistische und nationalistische Kräfte das europäische Haus einzureißen versuchen. Und wir haben bewiesen, dass der Wert der EU-Solidarität mehr ist als ein Lippenbekenntnis. Das „kleine“ Irland, vom Brexit hart getroffen wie kein anderes Land, konnte sich stets darauf verlassen, dass wir seine Interessen in den Verhandlungen entschieden vertreten. Derweil haben europafeindliche Bewegungen ihr Momentum verloren. Die Zustimmung zur EU hat im Zuge des Brexits in vielen Ländern Höchstwerte erreicht. Und der zermürbende Scheidungsprozess hat weiteren Austrittsfantasien den argumentativen Wind aus den Segeln genommen.
Mehr noch, er wirkt abschreckend und befördert die Rückbesinnung auf den Wert unserer Union. Und natürlich haben wir viel über britischen Parlamentarismus, die ungeschriebene Verfassung und die großartige Debattenkultur gelernt. Wir haben mutige Menschen – jung und alt – im Parlament, in Gerichten und auf der Straße gesehen, die sich mit Kräften dagegen wehren, dass ihre EU-Mitgliedschaft unter die populistischen Räder gerät. Denn sie sind stolz darauf, Bürger der EU zu sein, und sie möchten dies auch bleiben.
Nun geht das Scheidungsdrama abermals in die Verlängerung. Ausgang weiterhin ungewiss. Ungewiss auch deshalb, weil das Vereinigte Königreich am 12. Dezember wieder wählt. Aber egal mit welcher Regierung wir in Zukunft den Scheidungsprozess abwickeln: Die Probleme, die es zu lösen gilt, bleiben die gleichen.
Sollte Großbritannien schließlich den Scheidungsvertrag annehmen, müssen wir anschließend gemeinsam aushandeln, wie wir die zukünftigen Beziehungen fair und gedeihlich ausgestalten. Aber ebenso wie nach langjährigen Ehen wäre dieser nächste Schritt mitnichten ein Selbstläufer. Die EU wird prinzipientreu bleiben und auch weiterhin keine faulen Kompromisse machen.
Eine Annahme des Austrittsabkommens bis zum 31. Januar wäre besser als ein Schrecken ohne Ende mit weiteren Verzögerungen. Vielleicht will Großbritannien doch noch in der EU bleiben? Die Neuwahlen bieten den proeuropäischen Stimmen die Chance, endlich die Reihen zu schließen und ihrem Willen Ausdruck zu verleihen. Es ist kein Zeichen von Schwäche – weder in einer Partnerschaft noch in einer Demokratie – eine so tief greifende Entscheidung nochmals zu überdenken. Klar ist: Egal, wie glimpflich der Vollzug des Scheidungsprozesses selbst im besten Fall ausfallen mag – der beste „Deal“ ist noch immer die EU-Mitgliedschaft.