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„Ich rate dringend zu einem Europa der Tempomacher“

07.02.2019 - Interview

Staatsminister für Europa Michael Roth im Interview mit der Frankfurter Rundschau

Herr Roth, mit dem INF-Vertrag ist eine wichtige Säule der europäischen Sicherheitsordnung bedroht. Was müssen Deutschland und die anderen EU-Staaten unternehmen, damit die wichtigen Elemente der bisherigen Verteidigungspolitik bewahrt bleiben und eine neue Strategie entwickelt wird?

Für uns Europäerinnen und Europäer ist das ein weiterer Weckruf, weil der russische Bruch des INF die europäische Sicherheit gefährdet. Die bipolare Ordnung existiert schon lange nicht mehr. Eine multipolare Weltordnung gibt es noch nicht, stattdessen erleben wir eine große Unordnung. Deshalb brauchen wir neue Abrüstungsinitiativen, die alle Staaten einbindet, die über die fraglichen Waffensysteme verfügen. Wir müssen uns auch mit neuen Gefahren beschäftigen wie beispielsweise Cyberwaffen und autonomen Waffen – Waffengattungen, über die vor Jahrzehnten noch niemand sprechen musste. Für die EU ist Abrüstung ein zentrales Interesse.

Müssen die EU-Staaten nicht zusätzlich darüber diskutieren, wie sie sich künftig verteidigen müssen, weil sie sich nicht länger auf den Bündnispartner und Sicherheitsgaranten USA verlassen können? Muss nicht viel stärker als bislang über eine gemeinsame Armee und auch über die atomare Abschreckung gesprochen werden, wenn möglich nach dem Brexit auch mit Großbritannien?

Traurig aber wahr: Die US-amerikanische Politik ist derzeit mehr auf Abgrenzung und Abschottung und nicht auf Zusammenarbeit ausgerichtet. Wir Europäerinnen und Europäer müssen deshalb mehr Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen. Wir haben uns in der EU jüngst auf eine ständige strukturierte Zusammenarbeit bei der Verteidigung, Pesco genannt, verständigt. Die EU will nicht nur militärisch, sondern auch bei Rüstungskontrolle und Abrüstung enger kooperieren. Und wir wollen beim zivilen Krisenmanagement noch besser werden!

Die EU will aber nicht nur auf Verteidigung und mehr Militär bei der Sicherheitspolitik setzen.

Für uns Europäerinnen und Europäer geht es vor allem auch um mehr Diplomatie und Stabilisierung, Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Damit wollen wir Konflikte einhegen und bestenfalls verhindern. In diesem doppelten Ansatz liegt eine ganz besondere europäische Stärke, für die Wirkung auch international noch stärker ins Zeug legen sollten.

Allerdings gelingt es der EU immer seltener mit einer Stimme zu sprechen. Beim Brexit ist es zwar bislang gelungen, bei Venezuela, der gemeinsamen Asylpolitik und vielen anderen Themen allerdings nicht. Das hängt auch mit dem Rechtsruck einiger Regierungen in der EU zusammen. Viele fürchten, diese Tendenz werde sich bei den Wahlen zum europäischen Parlament fortsetzen. Wie sehen Sie das?

Nationalisten und Populisten eint ihre Verachtung gegenüber dem vereinten Europa. Sie wollen es zerstören. Dies zu verhindern, muss bei allem notwendigen Wettbewerb der Parteien bei der Europawahl die gemeinsame Anstrengung aller Demokratinnen und Demokraten sein. Wir brauchen zudem mehr Mehrheitsabstimmungen beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich rate dringend zu einem Europa der Tempomacher, bei dem Staaten in bestimmten Fragen voran schreiten, um zu beweisen, dass solidarische Teamlösungen allemal besser sind als nationale Alleingänge und Blockaden.

Ursache des politischen Stimmungswandels sind zahlreiche Krisen, die rechtspopulistische Kräfte für sich nutzen konnten und fortschrittliche Kräfte wie im Fall Ungarn oft schwach wirken lassen. Was muss sich ändern?

Die EU muss sich intensiver als bisher mit diesen Entwicklungen auseinandersetzen. Wir müssen die vorhandenen Instrumente zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit verbessern. Ich schlage deshalb einen verbindlichen Grundwerte-TÜV vor, dem sich alle Mitgliedstaaten unterziehen. In der Vergangenheit haben wir zu lange darauf gehofft, dass es schon nicht so schlimm werde und sich das Problem mehr oder weniger von alleine erledigen werde. Das war ein Fehler. Im Falle der Beschränkung der Unabhängigkeit der Justiz durch die polnische Regierung zeigen die bisherigen Verfahren ja durchaus erste Erfolge. Und über Victor Orban haben seine Freunde von der Europäischen Volkspartei zu lange die schützende Hand gehalten. Haushaltsverstöße sind durch entsprechende Kennziffern und Kriterien relativ leicht zu bemessen. Das ist bei der Infragstellung von Grundwerten zugegebenermaßen schwieriger. Aber bei der Verletzung der Medienfreiheit oder Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit dürfen niemals politische Rabatte gewährt werden. Allerdings sind derartige Prozesse langwierig. Es ist ein langer Atem nötig.

Sollte der Kampf gegen EU-skeptische Kräfte nicht auch mit mehr positiven Projekten begleitete wie dem Aachener Vertrag zwischen Deutschland und Frankreich, mit dem die Nachbarregion der beiden Staaten entwickelt werden soll. Und welche zusätzlichen Vorhaben könnten das sein?
Genau darum geht es Deutschland und Frankreich mit dem Aachener Vertrag. Wir bieten Nationalisten und Populisten die Stirn, in dem wir die konkreten Vorzüge eines Abbaus von Grenzen, von mehr Integration und mehr Zusammenarbeit für die Bürgerinnen und Bürger belegen. Es geht dabei um einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, um gemeinsame Sicherheit, gemeinsame Bildungsangebote und ein gemeinsames Gesundheitswesen.

Interview: Andreas Schwarzkopf​​​​​​​

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