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Rede von Staatsminister Michael Roth zur Gedenkzeremonie im Rahmen des “European Roma Holocaust Day” – 75. Jahrestag der Liquidierung des sog. „Zigeunerlagers“
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrte Damen und Herren,
Im Mai 1944 erfuhr Franziska Kurz von der Polizei, dass ihre vier Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren nach Auschwitz deportiert worden waren. Bereits 1939 hatten die NS-Behörden ihren Mann als „Zigeunermischling und Asozialen“ eingestuft, den Eltern das Sorgerecht entzogen, die Kinder in ein Heim gesteckt und als Forschungsobjekte missbraucht. In einem Brief beschrieb die Mutter das unfassbare Gespräch mit dem Polizisten und dessen zynisch-brutale Antwort: „Ich fragte, was wollen Sie denn noch von meinen Kindern; die Antwort war kurz, vernichten.“
Am 2. August 1944 ermordeten die Nationalsozialisten mehrere Tausend alte und kranke Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern von Birkenau, darunter auch Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz.
Gedenken wie diese sind so unsagbar wichtig. Denn sie geben den Opfern des grausamen Massenmords an den Sinti und Roma vor 75 Jahren ein Gesicht, eine Geschichte. Zeitzeuginnen haben diese furchtbare Nacht heute Vormittag eindrücklich geschildert. Ihnen und allen anwesenden Überlebenden gilt mein aufrichtiger Dank für Ihre Bereitschaft und meine Bewunderung für Ihren Mut, die dunkelsten Kapitel Ihres Lebens mit uns zu teilen, gerade da dies immer wieder die Wunden der Erinnerung und des Verlusts aufreißt.
Dass diese Leidensgeschichten der Opfer auch künftigen Generationen zugänglich gemacht werden, ist eine zwingende Voraussetzung dafür, dass so etwas nie wieder geschieht. Das wahrhafte Zeugnis ist unverzichtbar, um das Narrativ der NS-Mörder endlich zu überwinden, das mit seinen Vorurteilen und Klischees bis heute fortlebt. Allen, die sich darum verdient machen, ob in Form von Videodokumentationen, als Tonaufnahmen “Voices of the Victims” auf der Plattform RomArchive oder anderen Medien, danke ich von Herzen.
Der niederländische Sinto Zoni Weisz sprach in seiner unvergesslichen Rede vor dem Deutschen Bundestag vor fünf Jahren auch vom „vergessenen Holocaust“ an den Roma und Sinti in Europa. Der Völkermord an über 500.000 Sinti und Roma in Europa war kein isoliertes Ereignis. Über Jahrhunderte waren sie diskriminiert und als Kriminelle stigmatisiert worden. Der Rassenwahn der Nazis fiel auf fruchtbaren Boden. Seine vermeintlich wissenschaftliche Basis diente als schamloser Vorwand für Ausgrenzung und Entrechtung, die in Zwangssterilisationen, Deportation, Zwangsarbeit und Ermordung mündete.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs änderte sich nichts an der tiefen Verwurzelung von Rassismus und Antiziganismus in unserer Gesellschaft. Jahrzehntelang wurde der Völkermord an den Sinti und Roma aus dem historischen Gedächtnis und der öffentlichen Erinnerung verdrängt. Es gab ihn schlicht nicht.
Erst 1982 hat die Bundesregierung die Verantwortung für diesen Völkermord anerkannt. Dies ist vor allem der Bürgerrechtsbewegung und dem unermüdlichen Einsatz des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma zu verdanken.
Wenn auch spät, für viele zu spät, mehrten sich die Lichtblicke in der europäischen Erinnerungskultur in den vergangen Jahren. 2012 wurde ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin errichtet. 2018 begannen die Vorbereitungen zur Einrichtung eines Gedenkorts an der Stelle des ehemaligen „Zigeunerlagers“ Lety in Tschechien. Vor wenigen Wochen wurden im Rahmen des Projekts „Erinnerung bewahren“ drei Roma-Gedenkorte eingeweiht, die an die lange vergessenen Opfer von NS-Massenerschießungen in der Ukraine erinnern.
Die Bundeskanzlerin und der polnische Ministerpräsident haben heute gemeinsam die Schirmherrschaft für diese Gedenkveranstaltung übernommen. Ein Zeichen, über das ich mich freue. Ich danke dem Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma, dem Verband der Roma in Polen und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau für die gemeinsame Ausrichtung.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ja, es gibt unbestreitbare Erfolge und Entwicklungen, die hoffen lassen. Dennoch werden Sinti und Roma auch im Jahr 2019 nach wie vor diskriminiert, ausgegrenzt und bedroht. Nicht nur von Bürgerinnen und Bürgern auf der Straße und in den sozialen Medien, auch von Politikerinnen und Politikern. Wer Sinti und Roma zählen und ausfindig machen möchte, nur weil sie Sinti und Roma sind, handelt rassistisch. Bei der Bekämpfung des zeitgenössischen Antiziganismus stehen wir vor einer gewaltigen Bewährungsprobe, die wir nur gemeinsam bewältigen können - in Schulen und Familien, am Arbeitsplatz und in Behörden, in Vereinen und Organisationen.
Ich freue mich, dass in Deutschland im März 2019 endlich eine unabhängige Expertenkommission Antiziganismus eingesetzt wurde, die Vorschläge erarbeiten soll, wo wir Fehler beheben und was wir besser machen können.
Seit einigen Jahren widmet sich die International Holocaust Remembrance Alliance der Aufarbeitung des Völkermords an den Sinti und Roma und treibt den wissenschaftlichen Austausch zu heutigen Formen von Antiziganismus voran. Ich hoffe, dass wir unter dem deutschen Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance 2020/2021 daher auch eine internationale Definition verabschieden können, was Antiziganismus im Kern ausmacht.
Der Kampf gegen Antiziganismus erfordert Mut und Solidarität. Wir brauchen noch viel mehr Partnerinnen und Partner in Europa, die sich entschieden für die größte ethnische Minderheit Europas und ihre Rechte einsetzen. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die klar vernehmbar Stop sagen, wenn Rechtspopulisten alte Reflexe und schlimme Vorurteile bedienen.
Erst vor wenigen Wochen haben wir beim Westbalkan-Gipfel in Poznan eine Erklärung angenommen, bei der sich unsere Regierungen zu konkreten Zielen zur Roma-Inklusion verpflichtet haben. Sie ist überschrieben mit „Von Worten zu Taten“. Bei aller Genugtuung gibt es bei meinen Freundinnen und Freunden der Roma nach wie vor Skepsis. Es wurden schon oft Resolutionen beschlossen. Geändert hat sich aber viel zu wenig.
In der Europäischen Union gibt es nach wie vor viel zu tun. Trotz einer bestehenden EU-Strategie sehen wir immer noch große Defizite bei Integration und Inklusion von Roma, vor allem bei Bildung, Beschäftigung, Wohnraum und Gesundheit. Deutschland wird die EU-Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 nutzen, um das Bewusstsein für Versäumnisse zu schaffen und eine Nachfolgestrategie für die Zeit nach 2020 voran bringen, bei der die Mitgliedstaaten verbindlich Verantwortung für die Fortschritte in ihren Ländern übernehmen sollen.
Auch während des deutschen Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarats ab Mitte November 2020 wird die Bekämpfung von Antiziganismus im Mittelpunkt unseres Engagements stehen. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass die Bekämpfung von Antiziganismus in der Arbeit des Europarats eine noch wichtigere Rolle spielen wird.
Sehr geehrte Damen und Herren,
meine Botschaft an Sie alle lautet: Sinti und Roma gehören zu uns. Sie tragen dazu bei, dass unsere Gesellschaften bunt und vielfältig bleiben. Dafür steht das vereinte Europa. Und wir müssen es noch entschlossener gegen seine Feinde verteidigen - gegen Nationalismus, Abschottung und Rassismus.
Ich freue mich, dass ERIAC, das Europäische Roma-Institut für Kunst und Kultur, von Berlin aus seit 2017 daran arbeitet, ihren Beitrag zu Kunst, Kultur und Geschichte Europas sichtbarer zu machen. Dazu gehört selbstverständlich die Erinnerung an den Völkermord von vor 75 Jahren. Gemeinsam mit vielen anderen werde ich ERIAC weiterhin tatkräftig unterstützen. Das verspreche ich Ihnen.
Ich wünsche mir, dass künftig Sinti und Roma in unseren Parlamenten und Regierungen, in Wirtschaft und Medien, Kultur und Sport angemessen vertreten sind und ihre Stimme erheben. Dafür müssen wir vor allem die Köpfe und Herzen der jungen Menschen gewinnen. Das wird Otto, Sonja, Thomas und Albert nicht wieder lebendig machen, aber dafür sorgen, dass niemals wieder eine Mutter das grausame Schicksal von Franziska Kurz erleiden muss.
Vielen Dank!