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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth beim 5. EBS Law Congress

25.10.2018 - Rede

Staatsminister Roth spricht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden bei der Konferenz „Europa im Wandel.“

-- es gilt das gesprochene Wort --

An Universitäten komme ich besonders gern. Auch wenn mein Studienabschluss mittlerweile doch einige Jahre zurückliegt, erinnere ich mich gerne an die Zeit, als ich selbst noch in solch einem Hörsaal gesessen habe. Zugegebenermaßen: bei uns an der Uni Frankfurt war es bei weitem nicht so chic wie bei Ihnen heute.

Es freut mich, dass ich heute mit Ihnen meine Gedanken zu Europa teilen kann. Eines aber vorweg: Ich bin heute nicht gekommen, um hier bloß eine Rede zu halten und danach gleich wieder zu verschwinden. Was mich vor allem interessiert, sind Ihre eigenen Vorstellungen und Ideen von Europa. Denn Europa ist vor allem auch Ihr Projekt!

Und was Europa in diesen schwierigen Zeiten besonders dringend braucht, sind Mitmacherinnen und Mutmacher wie Sie. Das heißt mitnichten kritiklos gegenüber Europa zu sein. Es geht vielmehr darum, dass Sie sich aktiv einbringen und die Debatten über Europa selbstbewusst mitprägen anstatt nur entnervt zu lamentieren, was da alles in Brüssel und Berlin schief läuft.

Mal ganz konkret gefragt: Wie wollen Sie, liebe Studierende, dass der Kontinent, auf dem Sie leben, im Jahr 2030 aussieht? Halten Sie der Politik doch mal den Spiegel vor.

Als Europa-Staatsminister erlebe ich immer wieder, wie ich das europäische Projekt und die EU in Schutz nehmen muss, wie ich Vorurteile, Stereotype und Feindbilder entkräften muss. Hierfür sind gute Argumente immer gefragt. Und dazu können auch Sie beitragen, indem Sie in Ihrem Studium selbst zu profunden Europa-Expertinnen und -Experten werden.

Auch ich kann es nicht verhehlen: Ja, ich mache mir Sorgen um unser Europa. Diese Zeiten sind für überzeugte Europäerinnen und Europäer alles andere als leicht. Ich selbst mache nun Europapolitik, seit ich 1998 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, seit Dezember 2013 bin ich Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. In dieser Zeit habe ich viele Krisen kommen und gehen gesehen.

Und aktuell steckt Europa wieder mal im Krisenmodus. Und ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage: Selten zuvor war die EU innen- und außenpolitisch an so vielen Fronten gefordert wie in den vergangenen Jahren: Schuldenkrise, Brexit, kontroverse Debatten über die Aufnahme von Geflüchteten, wirtschaftliche Ungleichgewichte zwischen Nord und Süd, hohe Arbeitslosenzahlen in Teilen der EU, Wahlerfolge von populistischen und nationalistischen Parteien.

Im Vergleich dazu fällt auf ein anderes Thema immer noch zu wenig Licht in der breiten Öffentlichkeit – eben weil es eher immateriell ist und nicht so leicht zu fassen ist: die Lage der Rechtsstaatlichkeit. Es gibt in einigen Mitgliedstaaten der EU Entwicklungen und Tendenzen, die mir große Sorgen bereiten. Ich denke beispielsweise an Polen, Ungarn oder auch Rumänien.

Wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt werden, wenn rechtsstaatliche Grundprinzipien wie Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz aufgeweicht, ja ausgehöhlt werden, dann steht das Fundament für unser friedliches und regelbasiertes Zusammenleben in Europa auf dem Spiel.

Als angehende Rechtswissenschaftlerinnen wissen Sie nur zu gut um die herausgehobene Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für ein Gemeinwesen. Der Rechtsstaat schützt den Einzelnen vor staatlicher Willkür. Er unterwirft staatliches Handeln festen Regeln und setzt ihm Grenzen. Der Rechtsstaat macht die Ausübung staatlicher Gewalt anfechtbar und durch Gerichte überprüfbar. Kurz gesagt: In einem Rechtsstaat darf der Staat nicht alles mit mir machen!

Kein Staat, keine Regierung – unabhängig davon, durch welche parlamentarische Mehrheit sie auch legitimiert sein mag – hat das Recht, diese individuellen Freiheitsrechte zu verletzen. In einem Rechtsstaat regiert nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts.

Wir können stolz darauf sein, was wir in den vergangenen sieben Jahrzehnten gemeinsam in Europa erreicht haben. Die Europäische Union ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt und eine Währungsunion. Sie ist vor allem auch eine Wertegemeinschaft, eine Rechtsstaatsfamilie, ein einzigartiges Demokratieprojekt!

Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, der Schutz von Minderheiten sowie Presse- und Meinungsfreiheit – diese Werte, die auch in Artikel 2 des EU-Vertrags fest verankert sind, sind das unverkennbare Markenzeichen der EU.

Diese Aufzählung von Werten ist kein bloßer Kriterienkatalog, keine Checkliste für gutes Regieren: Diese gemeinsamen Werte sind der Kern unserer europäischen Identität! Sie sind Ausdruck unserer gemeinsamen Geschichte und Kultur, unserer Prägung durch die jüdisch-christliche Religionstradition, unseres philosophischen Erbes und der Aufklärung. Nicht zuletzt sind unsere Werte Ausdruck der Höhen und Tiefen unserer wechselhaften Geschichte, sie sind die Lehren aus Leid, Krieg und Diktatur.

Es sind eben diese gemeinsamen Werte, die uns im Innern stark machen und uns zusammenschweißen. Es sind eben diese Werte, nach denen sich die Menschen in der DDR und in den mittel- und osteuropäischen Staaten vor fast 30 Jahren sehnten. Und es sind eben diese Werte, deren Strahlkraft bis heute ungebrochen ist – das beweist uns der Blick auf unsere Nachbarschaft: Auf dem Maidan in Kiew wehte vor einigen Jahren die Europaflagge, weil man dort an Europas Werte glaubt. Flüchtlinge aus Afrika und dem Mittleren Osten setzen ihr Leben aufs Spiel, weil sie in Europa auf ein menschenwürdiges Leben und auf Sicherheit vor Krieg, Terror und Verfolgung hoffen.

Doch der Bestand dieser Werte ist in Europa keine reine Selbstverständlichkeit, sie müssen jeden Tag aufs Neue gepflegt und verteidigt werden. Die Europäische Union ist eine Rechtsgemeinschaft. Unser europäisches System kann nur funktionieren, wenn wir untereinander auf die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit vertrauen können.

Deswegen ist die Frage der Ausgestaltung des Justizsystems und der Gewaltenteilung eben nicht mehr eine rein nationale Angelegenheit. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: In der EU ist das klassische Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten aufgehoben. Für mich gibt es sogar die Pflicht zur Einmischung!

Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass wir unsere Werte konsequent einhalten und schnell reagieren, wenn sie in Bedrängnis geraten. Dabei geht es auch um unsere eigene Glaubwürdigkeit: Denn nur wenn wir unsere Grundwerte nach innen uneingeschränkt vorleben, können wir sie auch nach außen glaubhaft von anderen einfordern.

Diese besondere Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit muss sich auch in unserem Handeln und im Handeln der europäischen Institutionen widerspiegeln. Die Bundesregierung unterstützt die Kommission bei ihren Anstrengungen, die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union zu schützen. Es ist richtig, dass die Kommission ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen eingeleitet hat, und dass dieses Verfahren gerade ernsthaft und fair im Rat behandelt wird.

Wichtig ist dabei: Die Europäischen Institutionen müssen wegen der Diagnose, dass in Polen die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft gefährdet ist, einen Dialog mit Polen führen. Dafür ist das Verfahren nach Artikel 7 der richtige Rahmen. Diese Diagnose wird im Übrigen auch von der unabhängigen Venedig-Kommission und von zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern der polnischen Zivilgesellschaft wie zum Beispiel Juristenverbänden geteilt.

Der erhobene Zeigefinger steht niemandem gut, weder den europäischen Institutionen, und noch weniger der deutschen Bundesregierung. Darum geht es auch gar nicht. Es geht hier auch nicht um einen bilateralen Konflikt zwischen Deutschland und Polen, sondern um eine gesamteuropäische Angelegenheit.

Nun werde ich immer wieder gefragt, ob die vorhandenen Mechanismen nicht ein stumpfes Schwert seien. Das sehe ich nicht so. Aber ich gebe gerne zu, dass es schwieriger ist, Demokratiesünden als Haushaltssünden zu bewerten. In der Fiskalpolitik steht der EU mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ein Instrumentenkasten mit zahlreichen Indikatoren und Kennziffern zur Verfügung. Aber auch hier streiten wir politisch darüber, ob beispielsweise der Aufbau einer sozialen Grundsicherung einen Verstoß gegen die Haushaltsregeln darstellt.

Aber der Dialog über unsere Werte im Allgemeinen und über die Rechtstaatlichkeit im Besonderen muss in der EU ganz generell auf einer breiteren Basis geführt werden. Deswegen setze ich mich dafür ein, die Rechtsstaatlichkeit in Europa durch Positiv-Instrumente zu stärken!

Wir haben schon erste Instrumente, die auf eine generelle Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zielen. Beispielsweise haben die Mitgliedsstaaten 2014 einen Rechtsstaatsdialog im Allgemeinen Rat eingeführt, der eine jährliche Debatte vorsieht, um die Situation der Grundwerte in der EU zu diskutieren. Solche Instrumente müssen wir noch stärker nutzen.

Ich setze mich für einen regelmäßigen Peer Review zur Rechtsstaatlichkeit ein. Die Idee ist angelehnt an den Universal Periodic Review des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen. Er soll in einem ersten Schritt nur für jene Mitgliedstaaten verbindlich sein, die freiwillig daran teilnehmen. Die Grundlage für jährliche Diskussionen und möglichen Empfehlungen wären Berichte der zu überprüfenden Mitgliedstaaten sowie eines Expertenpanels. Ein solcher Peer Review-Mechanismus würde unparteiisch Empfehlungen für alle Mitgliedstaaten formulieren.

Die Europäische Kommission hat außerdem einen Vorschlag vorgelegt, um im EU-Budget die Höhe der Haushaltsmittel an die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundprinzipien zu knüpfen. Die Kommission stützt sich dabei auf die genannte Argumentation von der EU als Rechtsgemeinschaft, in der wir uns auch bei der Vergabe von Haushaltsmitteln aufeinander verlassen müssen, was z.B. eine funktionierende Justiz voraussetzt.

Sie sehen also: Derzeit sind Vorschläge und Ideen im Umlauf, wie wir die Rechtsstaatlichkeit in Europa stärken können.

In der aktuellen Debatte höre ich immer wieder, die westlichen Länder der EU – einschließlich Deutschland – würden das Thema Rechtsstaatlichkeit nutzen, um Druck auf andere, vor allem mittelosteuropäische Regierungen auszuüben.

Dieses Argument verstehe ich nicht: Rechtsstaatlichkeit ernst zu nehmen, ist doch keine Frage von Interessenpolitik oder von Machtpolitik! Hier geht es um die Grundwerte der Europäischen Union, die wir in jedem Mitgliedsland verteidigen müssen. Meine Einschätzung und Kritik wäre dieselbe, wenn wir über in Entwicklungen in Frankreich, Spanien oder Schweden sprechen würden.

Beim Thema Rechtsstaatlichkeit müssen wir immer und in jedem Mitgliedsland genau hinsehen – selbstverständlich auch in Deutschland. Insgesamt stelle ich fest: Wir haben in Deutschland eine freiheitliche und demokratische Grundordnung, wie wir sie noch nie in unserer wechselhaften Geschichte hatten.

Natürlich arbeiten die Institutionen auch in Deutschland nicht perfekt im Sinne von Fehlerlosigkeit. Ganz bestimmt nicht wir Politikerinnen und Politiker, und ebenso wenig tun es Richterinnen und Juristen. Entscheidend ist aber: Der Rechtsstaat wird systematisch respektiert.

Aber auch uns Deutschen hat die Grundrechteagentur vor einigen Jahren mal ins Stammbuch geschrieben: Wir müssen entschiedener gegen Antisemitismus in unserem Land vorgehen. Auch wir müssen uns also anstrengen.

Und auch in Deutschland gibt es Stimmen, die die Rechtsetzung und Rechtsprechung als solche diskreditieren und beispielsweise behaupten, sie würde in Wahrheit die Agenda entfremdeter Eliten umsetzen und dabei einem vermeintlichen Volkswillen widersprechen. Ich halte diese Vorwürfe für absurd, aber alleine ihre Existenz zeigt doch schon: Wir müssen auch bei uns in Deutschland entschlossen für die Akzeptanz unseres Rechtsstaats kämpfen.

Warum brenne gerade ich als Europapolitiker so stark für das Thema Rechtsstaatlichkeit? Weil wir in der heutigen Situation in Europa nicht ohne gemeinsame Werte zusammenhalten können. Es geht in unserer Situation darum, die Bruchlinien zu kitten, die sich in der Europäischen Union aufgetan haben.

Die Bundesregierung möchte eine Europäische Union, in der alle mitgenommen werden: kleine und große Mitgliedstaaten, genauso wie die westlichen und östlichen, die aus dem Norden und dem Süden. Es darf keine Zwei-Klassen-Union geben, in der der Rechtsstaat nur für einige gilt und für andere nicht.

Wir brauchen eine Europäische Union, in der unsere gemeinsamen Werte die Basis für unseren Zusammenhalt darstellen. Wir brauchen diesen Zusammenhalt im Inneren, um die gemeinsame Kraft aufzubringen, die Zukunft des 21. Jahrhunderts mitzugestalten.

Ich wünsche Ihnen gute Gespräche und eine erfolgreiche Konferenz!

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