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Grußwort von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Buchvorstellung und Lesung „Die Hoffnung auf einen Kuss - Auschwitz, Liliane und ich“ in der Französischen Botschaft

11.12.2019 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort --

« L‘Espérance d‘un baiser » – wenn wir als Deutsche diesen Buchtitel hören, kommen unweigerlich die Gedanken, die wohl viele von uns mit Frankreich, unseren französischen Nachbarn und der französischen Sprache verbinden. Wir denken an die Liebe, an romantische Zweisamkeit.

Und ganz falsch liegen wir damit ja auch nicht: Denn die Liebe ist zentraler Bestandteil Ihrer Lebenserinnerungen, lieber Herr Esrail. Aber in Ihrem Buch geht es um alles andere als um heile Welt und Romantik. Es geht um Hunger und Entkräftung, um Zwangsarbeit und Selektion, um Todesangst und nackten Überlebenskampf. Aber es geht eben auch um die unbändige Kraft der Liebe, die uns die Kraft gibt, in diesen düstersten Momenten der Verzweiflung nicht die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verlieren.

1925 wurden Sie als Sohn sephardischer Juden in der heutigen Türkei geboren, aufgewachsen sind Sie im französischen Lyon. Mit der deutschen Besatzung Frankreichs 1940 nahm Ihr Leben dann eine entscheidende Wende. Ab 1943 betätigten Sie sich als Dokumentenfälscher im Widerstand, bis Sie am 8. Januar 1944 aufgegriffen, in das Lager Drancy verschleppt und wenige Wochen später nach Auschwitz deportiert wurden.

In Drancy verliebten Sie sich als damals 18-jähriger Hals über Kopf in Liliane Badour. In Auschwitz gelang es Ihnen, trotz widrigster Umstände, Nachrichten von Liliane zu erhalten. Sie schreiben selbst, dass Sie in der Hölle von Auschwitz die Hoffnung auf einen Kuss von Liliane am Leben gehalten hat. Wer kann sich heutzutage so viel Kraft vorstellen, die von einem einzigen Kuss des geliebten Menschen auszugehen vermag. Die Nazis säten Hass. Sie hingegen vertrauten der Liebe zu ihrer späteren Frau. Und Sie überlebten.

Diese tiefe Liebe werden wir in der deutschen Fassung Ihres Buchs wahrscheinlich trotz der besten Übersetzung niemals so intensiv nachempfinden können wie im französischen Original. Doch als Beauftragter für die deutsch-französische Zusammenarbeit freut es mich ganz besonders, dass Ihre Lebenserinnerungen nun auch in der deutschen Übersetzung vorliegen und für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich sind.

Denn in Deutschland ist immer noch zu wenig bekannt über den Holocaust, der ja nicht in erster Linie eine nationale, sondern eine europäische Tragödie ist. Es ist wichtig, dass Orte wie Drancy, aus dem über 65.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder deportiert wurden, in unserem gemeinsamen Gedächtnis verankert werden. Und dass ein Ort wie Gurs, wohin Jüdinnen und Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland deportiert wurden, wieder in das Bewusstsein unserer beider Länder rückt, so wie sich das eine deutsch-französische Ausstellung im kommenden Jahr zum Ziel gesetzt hat.

Mit der deutschen Übersetzung von « L‘Espérance d‘un baiser » schaffen wir einen wichtigen Zugang zur französischen Erinnerungskultur. Ich danke der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas ganz besonders, dass sie mit Unterstützung des Auswärtigen Amts und der Französischen Botschaft Berlin dieses großartige Projekt umgesetzt hat.

Zukunft braucht Erinnerung. Wenn wir unsere Geschichte kennen, können wir besser mit den inzwischen lebensgefährlichen Bedrohungen unserer offenen Gesellschaften und pluralistischen Demokratien umgehen. Ob in Deutschland oder Frankreich, heute stellen Menschen unverblümt den Holocaust in Frage, leugnen den Faschismus, verachten die Demokratie, hassen die Vielfalt, verharmlosen und verfälschen die Geschichte. Sie suchen die Antworten auf die drängenden Fragen dieser Zeit im Nationalismus, in der Abschottung gegenüber dem Fremden, und schüren Antisemitismus und Rassismus.

Es ist eine Schande, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland und Frankreich wieder Sorge um ihre Sicherheit haben müssen, dass Gräber geschändet und Synagogen angegriffen werden. Wie wir diesen Entwicklungen gemeinsam begegnen können, ist auch Thema der deutsch-französischen Konsultationen zur Bekämpfung des Antisemitismus, die wir dieses Jahr bereits zum zweiten Mal abhalten konnten.

Der schreckliche Angriff auf eine Synagoge in Halle vor zwei Monaten hat gezeigt: Wir haben zu lange geschwiegen und abgewiegelt, als rote Linien schleichend und immer wieder überschritten wurden. Hier heißt es für uns als Demokratinnen und Demokraten, dagegenzuhalten und sich klar und deutlich von der oft lauteren rassistischen und antisemitischen Minderheit abzugrenzen.

Orte wie Auschwitz müssen als Mahnung an heutige und künftige Generationen erhalten bleiben. Dies sind wir Opfern wie Überlebenden schuldig. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass sich die Bundesregierung und die Länder vergangene Woche geeinigt haben, den dauerhaften Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau mit 60 Millionen Euro zu fördern. Deutschland muss sich dauerhaft zu seiner historischen Verantwortung bekennen.

Lieber Herr Esrail,

die Zeit in Auschwitz hat Ihr Leben existenziell bedroht. Doch Sie haben sich nicht für Hass und Rachsucht gegenüber Deutschland entschieden. Nein, Sie reichen uns Deutschen die Hand - als Zeichen der Versöhnung und Freundschaft. Versöhnung kostet Überwindung und Kraft. Versöhnung ist eine Geste, die man nicht erbitten, die man nur geschenkt bekommen kann. Und ich bin dankbar für dieses große Geschenk.

Versöhnung heißt aber nicht, die dunklen Kapitel der Geschichte dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Und auch das leben Sie! Ob als Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees oder als Präsident der Union des Déportés d’Auschwitz, Sie stehen seit vielen Jahren für die Aufarbeitung der NS-Verbrechen und für die deutsch-französische Aussöhnung ein.

Gemeinsam mit Ihrer Frau haben Sie unzählige Schulen besucht. Auch morgen werden Sie Schülerinnern und Schülern am Lycée Français hier in Berlin Rede und Antwort stehen. Sie haben Ausstellungsprojekte wie etwa „Mein Bruder, meine Schwester“ 2011 in Berlin begleitet. Als Anerkennung für Ihrer beider Engagement hat der Bundespräsident Ihnen 2013 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Es ist ein großes Geschenk, dass Sie anderen Menschen immer wieder Einblicke in die dunkelsten Kapitel Ihres Lebens gewähren, auch wenn das die erlittenen Traumata wieder ins Bewusstsein holt. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht war, dieses Buch zu schreiben. Umso dankbarer bin ich, dass Sie diesen schwierigen Teil unserer gemeinsamen deutsch-französischen Geschichte so detailliert beleuchtet haben. Sie haben beschrieben, was deutsche Täter französischen Opfern angetan haben. Sie haben nicht den Hass, sondern die Liebe siegen lassen. Was kann es schöneres geben?

Sehr geehrte Damen und Herren,

nun lassen wir die Worte von Herrn Esrail auf Deutsch sprechen. Vielen Dank an Florian Stetter, der sich bereit erklärt hat, die Lesung des Buchs zu übernehmen. Herr Stetter, Sie haben das Wort.

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