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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Bürgerveranstaltung „Vor 100 Jahren: Der Krieg, Europa und wir“ in Saarbrücken
„Opa, warum hast Du ein Glasauge? Und warum hörst Du so schwer?“ Diese Fragen brachten mir als Kind den Ersten Weltkrieg näher. Mein Urgroßvater Gustav Pielert, 1890 geboren, zahlte für seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg einen hohen Preis. Er wurde als einfacher Matrose in der Schlacht vom Skagerrak schwer verwundet. Er verlor ein Auge und das Hörvermögen auf einem Ohr. Mein Urgroßvater starb hoch betagt mit fast 96 Jahren. Seine lebendigen, tragischen, zu Herzen gehenden Geschichten über seinen Dienst in der kaiserlichen Kriegsmarine und die tragischen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg erinnere ich noch heute. Wenn es das Glasauge von Uropa Gustav nicht gegeben hätte, wäre es mir vermutlich wie den meisten unserer Landsleute gegangen: die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg erscheint blass und fern, nicht mehr als ein abstrakter Lehrstoff im schulischen Geschichtsunterricht.
Hingegen hat sich der Erste Weltkrieg bei unseren europäischen Nachbarn tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt, ob in Großbritannien, Belgien oder Frankreich, wo noch heute vom « Grande Guerre », dem Großen Krieg gesprochen wird. In Deutschland wird er weitgehend verdeckt von dem, was ihm mittelbar folgte: Faschismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg.
Dabei war die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ der erste globalisierte, industriell geführte Massenkrieg in der Geschichte der Menschheit. Über 17 Millionen Menschen verloren im Ersten Weltkrieg ihr Leben. Viele weitere Millionen wurden verletzt, verstümmelt oder vertrieben. Unermessliches Leid, das niemals in Vergessenheit geraten darf – auch daran erinnert uns das Glockenläuten heute um 13:30 Uhr.
Nach dem Ende der Kampfhandlungen herrschte in den 1920er und 30er Jahren ein trügerischer Frieden. Auch wenn nach dem 11. November 1918 kein Schuss mehr fiel: In den Köpfen und in den Herzen der Menschen wollte sich einfach kein echter Frieden einstellen. Nur wenige Jahre später begann Deutschland einen noch furchtbareren Krieg, der die Welt abermals in den Abgrund stürzte.
Trotz dieser unheilvollen Geschichte ist aus einem Europa der Kriege ein Europa des Friedens geworden. Was uns in den vergangenen sieben Jahrzehnten auf unserem Kontinent, zumindest in der Europäischen Union, gelungen ist, ist eigentlich ein kleines Wunder: Aus erbitterten Feinden, die die Waffen aufeinander gerichtet haben, sind enge Partner geworden, die nicht nur friedlich und respektvoll mit- und nebeneinander leben, sondern in vielen Bereichen eng zusammenarbeiten. Ohne die Bereitschaft unserer französischen Freundinnen und Freunde zur Versöhnung wäre das niemals möglich gewesen.
Gerade hier in der Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich wissen Sie nur zu gut, wovon ich spreche. Hier im Saarland war die Zeit nach dem Waffenstillstand vom 11. November 2018 eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen, eine Zeit großer Ungewissheit. Das Abkommen sah unter anderem vor, dass die besetzten Gebiete sowie das linke Rheinufer geräumt werden mussten. In Saarbrücken und anderen Städten an der Saar zogen bald französische Truppen ein.
Es war zunächst völlig unklar, ob das Gebiet an der Saar wieder Teil Frankreichs werden würde oder bei Deutschland bleibt. Mit dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags wurde das „Saargebiet“ zunächst dem Völkerbund unterstellt, erst 1957 wurde es nach einer Volksabstimmung in die Bundesrepublik eingegliedert.
Die Nähe zu Frankreich ist aber geblieben. Gerade die Grenzregion hier an der Saar ist immer so etwas wie ein Labor für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich gewesen, in dem neue Ideen erfolgreich erprobt werden. Und diese Rolle als Leuchtturm für ganz Europa, der Orientierung gibt und Mut macht, wollen mit einem erneuerten Élysée-Vertrag stärken. Wir arbeiten derzeit mit Hochdruck daran.
Mehr als 70 Jahre Frieden und die deutsch-französische Freundschaft sind ein kostbarer Schatz. Aber wir dürfen wir uns nicht darauf ausruhen. Denn 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs scheint es, dass wir erneut in einer Zeit des Umbruchs leben, einer neuen Zeitenwende.
Lassen Sie mich nur einige Beispiele nennen: Das Wiedererstarken von Nationalismus und Populismus, der Rückfall in Protektionismus und Abschottung in der Handelspolitik, die sich wandelnde Rolle der USA in der internationalen Ordnung oder das Auseinanderdriften von Interessen innerhalb der Europäischen Union.
Wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es auch heute wieder einen Wettstreit zwischen sich widersprechenden Narrativen und Gesellschaftsmodellen. Wir erleben, wie unsere scheinbar etablierte internationale Ordnung von einigen offen in Frage gestellt wird.
Um Frieden und Wohlstand in der Welt zu wahren und zu fördern, brauchen wir aber ein globales Miteinander, das sich auf Regeln stützt. Wir brauchen nachhaltige, funktionierende Strukturen, die auf Zusammenarbeit und Teamgeist setzen, um wirksam auf die Krisen und Konflikte in der Welt zu reagieren, ja sie nach Möglichkeit sogar zu verhindern.
Und es bedarf aktiver Fürsprecherinnen und Fürsprecher für diese Art der globalen, solidarischen Zusammenarbeit – Menschen und Institutionen, die beharrlich, mutig und entschieden für den internationalen Teamgeist kämpfen und über die Einhaltung der gemeinsamen Regeln wachen.
Eine der Lehren aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg lautet: Scheitert eine internationale Staatenorganisation – damals der Völkerbund –, schwinden die Chancen auf einen dauerhaften Frieden. Das Voranstellen nationaler Eigeninteressen und Egoismen vor zwischenstaatlicher Solidarität und internationaler Zusammenarbeit war eine der verhängnisvollsten Schwachstellen des Völkerbundes. Das kommt uns heute im Jahr 2018 wieder bekannt vor. Haben wir etwa abermals aus der Geschichte so wenig gelernt?
Selbstverständlich verfolgt jeder Staat eigene wirtschaftliche und politische Interessen – das ist auch legitim. Klar ist aber auch: Eine Welt, in der nationale Egoismen die Oberhand gewinnen, ist eine Welt von Konflikten, Unsicherheit und Instabilität. Aus der Rhetorik des Respekts wird eine Sprache des Hasses, der Lüge, der Verachtung. Darum müssen wir uns heute mit noch mehr Engagement, Leidenschaft und Beharrlichkeit für globale Zusammenarbeit, Wahrhaftigkeit und Fairness einsetzen.
Zwingend dafür ist, dass Europa geschlossen und solidarisch auftritt und mit einer Stimme spricht. Denn wie könnten wir Europäerinnen und Europäer glaubhaft für eine regel- und wertebasierte internationale Ordnung eintreten, wenn wir es nicht einmal im Kleinen, in der Europäischen Union, schaffen, eine solche Ordnung im Innern erfolgreich durchzusetzen?
Wenn der Sinn für die Solidarität in der europäischen Staaten- und Wertegemeinschaft und das Wissen um den Wert des Friedens verloren gehen, dann riskieren wir, das sich neue Risse auftun. Noch können wir verhindern, dass aus dem hochsommerlichen, dumpfen Donnergrollen ein Orkan wird, der weltweit eine Schneise der Vernichtung zu schlagen droht.
Nehmen wir die Warnzeichen endlich ernst! Nun liegt mir nichts ferner, als in Pessimismus oder gar Fatalismus zu verfallen! Wenn Europa den Slogan „Europe United“ lebt und sich auf seine Stärken besinnt, kann es auch in Zukunft eine tragende Säule der internationalen Ordnung und des Teamspiels sein.
Allerdings werden gemeinsame europäische Lösungen auch uns einiges abverlangen – nämlich Geduld und Kompromissbereitschaft. Europäische Lösungen sind naturgemäß nicht per se identisch mit deutschen Positionen.
Europa verfügt nicht nur über ein außerordentlich starkes wirtschaftliches Gewicht und eine dynamische Innovationskraft. Auch unser Ansehen als wichtigster Geber von humanitärer Hilfe und Mitteln der internationalen Zusammenarbeit, die Anziehungskraft Europas und seiner Werte – all diese Stärken erlauben es uns, die globale Ordnung maßgeblich mitzugestalten.
Dabei setzen wir in erster Linie auf die Allianz mit Freunden, die unsere Werte teilen. Aber die Zahl der schwierigen, ja verantwortungslosen Partner und Akteure nimmt eben nicht ab. Der Autoritarismus ist weltweit auf dem Vormarsch, die Demokratie schrumpft. Ein bitterer Befund! Sie alle spüren das doch, wie schwierig es ist, mit politischen Führern wie Putin, Xi, Erdogan, aber auch Trump umzugehen. Wie kommen wir zu vernünftigen, auf konkrete Ergebnisse gerichteten Austausch, ohne unsere Werte und Grundprinzipien zu relativieren?
Welche Rolle vermag Deutschland dabei zu spielen? Unser Land sollte sich dafür einsetzen, Brücken zwischen Ost und West, Nord und Süd zu bauen und das transatlantische Bündnis und die EU als Ganzes zusammenzuhalten. Es darf niemals wieder einen Zweifel daran geben, dass unser ganzer Einsatz dem vereinten Europa, der friedlichen Konfliktlösung und dem internationalen Teamgeist dient.
Ein Ziel liegt mir ganz besonders am Herzen: Gerechtigkeit! Eine stabile, friedliche Weltordnung ist zwingend darauf angewiesen. Das wurde in der Vergangenheit allzu häufig vernachlässigt.
Die Globalisierung hat vielen Millionen, wenn nicht Milliarden von Menschen ein besseres Leben ermöglicht und neue Zugänge zu Wissen, Bildung und Kultur geschaffen. Aber in den vergangenen drei Jahrzehnten hat sich – weltweit betrachtet – die Armutsrate um mehr als die Hälfte verringert, während der Wohlstand rasant gewachsen ist.
Viele Menschen blicken heute mit Sorge oder gar Angst auf die Globalisierung. Es sind Menschen, deren Arbeitsstellen ins billigere Ausland ausgelagert, deren Fertigkeiten durch neue Technologien ersetzt wurden. Oder Menschen, die sich fremd und heimatlos im eigenen Land fühlen, die ihre vertrauten Lebensentwürfe, Traditionen und Gewohnheiten bedroht sehen.
Wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht durch eine nachhaltige, vorsorgende Sozialpolitik flankiert wird, dürften sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger von unserer auf Ausgleich und Kompromissfähigkeit fußenden Demokratie entfremden. Eine beängstigende Analogie zu der Nachkriegszeit ab 1918, aus der wir lernen können, ja müssen, dass Nationalismus und Abschottung keine zukunftsweisenden, vernünftigen Antworten sind, sein dürfen. Wer meint, vorhandene Ängste in der Gesellschaft durch Demagogie, Fake News und Hass verstärken zu müssen, repräsentiert nicht das Volk. Nein!
Lassen Sie uns diesen politischen Scharlatanen das entgegen stellen, was die Demokratie stark und wehrhaft gemacht hat: fairer Streit in der Sache, Wahrhaftigkeit, Kompromissbereitschaft, Klarheit, Haltung, Herzlichkeit. Vergessen wir nie, was François Mitterand noch in seiner letzten Rede vor dem Europaparlament sagte: « Le nationalisme, c'est la guerre » - „der Nationalismus ist der Krieg“.
In der heutigen Zeit müssen wir ein besonderes Augenmerk auf die gesellschaftlichen Auswirkungen globaler Wirtschaftsbeziehungen legen – indem wir Chancengleichheit und Bildung fördern und konsequent gegen Armut und soziale Benachteiligung vorgehen.
Und wir müssen dafür werben, dass Vielfalt zwar bereichernd ist und uns stärker macht, aber ohne ein gemeinsames Verständnis von Werten nicht funktionieren kann. Diese Werte verpflichten uns alle. Hier sehe ich uns alle in der Pflicht, den gesellschaftlichen Dialog darüber zu befördern, wieviel Vielfalt möglich und wieviel Gemeinsamkeit nötig ist.
Werden wir in 100 Jahren auf ein Europa zurückblicken, das alle Voraussetzungen dazu hatte, eine kraftvolle Stimme für Freiheit, Demokratie, Vielfalt, Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt zu sein? Oder zerbrechen wir doch an unseren internen Widersprüchen? Werden wir auf eine Welt zurückblicken, die der wachsenden Ungleichheit, den Bewährungsproben der globalen Migration und des Klimawandels, den Bedrohungen des Friedens nichts entgegenzusetzen wusste, obwohl sie doch alle nötigen Mittel dazu hatte? Oder auf eine Weltgemeinschaft, die die Zeichen der Zeit erkannt und rechtzeitig gehandelt hat?
Europa muss stärker, besser, demokratischer, souveräner werden. Nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, jede Bürgerin und jeder Bürger tragen dafür Verantwortung.
Deshalb finde ich es großartig, dass der Regionalverband Saarbrücken das abwechslungsreiche Programm des heutigen Tages zusammengestellt hat, um an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnern und gleichzeitig die Folgen für das Hier und Jetzt zu beleuchten.
Zukunft braucht Erinnerung – und der Blick in die Vergangenheit schärft immer auch den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Vor dem Hintergrund von zwei furchtbaren Weltkriegen liegt es an uns allen, den Sirenengesängen des Nationalismus und des Populismus zu widerstehen.
Es ist höchste Zeit, die Kräfte zu bündeln für den Frieden, die Menschenrechte, die Demokratie. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder und Enkelinnen niemals wieder die traurigen Geschichten von Glausaugen und anderen Versehrungen von Krieg und Barbarei zu hören bekommen, wie sie mir noch mein Urgroßvater Gustav erzählte. Nur dann hätten wir wirklich die richtigen Lehren gezogen aus der furchtbaren Tragödie vor 100 Jahren, derer wir heute erinnern.