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„Es ist Zeit für mehr Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik“

12.06.2023 - Namensbeitrag

Gemeinsamer Namensbeitrag von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock mit den Außenministerinnen und Außenministern Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande, Rumäniens, Sloweniens und Spaniens (Deutsche Übersetzung)

Angesichts von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit bewiesen: Indem sie an der Seite der Ukraine steht – diplomatisch, finanziell und militärisch. Indem sie ihrer Energieabhängigkeit von Russland ein Ende setzt. Und indem sie der Ukraine ebenso wie der Republik Moldau die klare Perspektive einer EU-Mitgliedschaft bietet.

Für die Zukunft ist klar: Diese Fähigkeit, schnell und entschieden zu handeln, wird zentral sein für die Rolle der EU als ein außenpolitischer Akteur – der willens und bereit ist, für die Werte und Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger in einer immer unsichereren Welt einzutreten.

Wir brauchen eine EU, die solide und greifbare Ergebnisse liefert. Wie jüngste Entwicklungen zeigen, müssen wir auch unsere Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten verbessern – jetzt mehr denn je. Und in einer sich erweiternden Union erfordert erfolgreiche europäische Integration Institutionen, die wirksam funktionieren.

In der Vergangenheit war jedoch schnelles und entschiedenes Handeln der EU nicht immer gegeben. Der Großteil der Entscheidungen in der EU-Außenpolitik erfordert Einstimmigkeit – was in einigen Fällen unsere Handlungsfähigkeit verzögern kann. Wir haben uns trotz und nicht wegen dieser Regeln auf zehn Sanktionspakete gegen Russland geeinigt, aufgrund seines Angriffskriegs gegen einen souveränen Staat.

Daher setzen wir uns für eine verstärkte Anwendung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ein – so wie dies bereits im Vertrag über die Europäische Union angelegt ist.

Wir wollen alte Gräben überwinden – zwischen denjenigen, die mehr Mehrheitsentscheidungen befürworten, und denjenigen, die sie ablehnen. Wir schlagen weder Vertragsänderungen noch langwierige akademische Debatten vor. Während die Diskussion über eine wirksamere GASP Teil einer allgemeinen Debatte über qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in anderen Politikbereichen ist, schlagen wir zum jetzigen Zeitpunkt einen pragmatischen Ansatz vor: Einen Fokus allein auf Fragen der EU‑Außen- und Sicherheitspolitik und die flexiblere Anwendung von Bestimmungen, die bereits im Vertrag über die Europäische Union enthalten sind. Denn das kann für alle funktionieren.

Erstens schlagen wir vor, „konstruktive Enthaltungen“ nach Artikel 31 Abs. 1 des Vertrags über die Europäische Union verstärkt zu nutzen. Mitgliedstaaten haben bereits begonnen, zu dieser einfachen, aber äußerst wirksame Option zu greifen. Sie haben so ermöglicht, dass ein Beschluss gefasst wird – und zwar, indem sie nicht gegen eine Entscheidung gestimmt und damit nicht die anderen 26 Mitgliedsstaaten am Weiterkommen gehindert haben.

Wir haben gesehen, wie wirksam „konstruktive Enthaltungen“ sein können, als der Rat der Außenministerinnen und Außenminister letzten Oktober über die neue EU‑Ausbildungsmission für das ukrainische Militär abgestimmt hat. Wir wollen auf diesen Trend aufbauen – und wir werden unsere eigenen Positionen systematisch dahingehend überprüfen, ob wir – statt dagegen zu stimmen – auf eine „konstruktive Enthaltung“ umschwenken können.

Zweitens schlagen wir vor, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der Praxis zu testen. In bestimmten Bereichen der EU‑Außenpolitik sind Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit nach Artikel 31 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union bereits zulässig. Hat beispielsweise der Rat einstimmig eine zivile EU‑Mission beschlossen, könnte die operative Umsetzung dieser Mission mit qualifizierten Mehrheitsentscheidungen festgelegt werden. Wir könnten qualifizierte Mehrheitsentscheidungen auch nutzen, wenn wir auf Basis Gemeinsamer Standpunkte der EU in internationalen Menschenrechtsforen Entscheidungen treffen.

Zudem schlagen wir vor, unsere Entscheidungsmechanismen in Bereichen anzupassen, in denen keine formale Abstimmung erforderlich ist, aber in der Praxis dennoch im Konsens entschieden wird. Gibt beispielsweise der Hohe Vertreter eine öffentliche Erklärung im Namen der EU ab, könnte der Text durch einen Durchführungsbeschluss des Rates nach Artikel 31 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union mit qualifizierter Mehrheit vereinbart werden. Das würde unsere Kommunikation beschleunigen und unserer europäischen Stimme mehr Nachdruck verleihen.

Drittens wollen wir Brücken oder – in EU-Sprech – „Passerellen“ bauen. Mit der Passerelle-Klausel nach Artikel 31 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union kann der Europäische Rat einstimmig beschließen, in bestimmten Bereichen der EU-Außenpolitik qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zum Standardverfahren zu machen. Wir schlagen vor, die Nutzung dieser „Brücke“ in genau definierten Bereichen in der GASP zu prüfen.

Wir verstehen, dass einige EU‑Partner Bedenken gegen qualifizierte Mehrheitsentscheidungen in der EU‑Außenpolitik haben – und wir nehmen diese Bedenken ernst.

Für uns ist und bleibt das Streben nach Konsens im Zentrum unserer europäischen DNA – denn die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu sehen und offen für konstruktive Kompromisse zu sein macht uns aus. Daher werden wir unser Möglichstes tun, um den Sorgen aller EU‑Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen – damit die bestmöglichen Entscheidungen für unsere gemeinsamen Interessen getroffen werden. Wir arbeiten dafür, unsere Zusammenarbeit im Geiste gegenseitigen Vertrauens zu stärken.

Selbstverständlich können Mitgliedstaaten sich auf die in Artikel 31 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehene Notfallbremse berufen – aus wesentlichen und zu benennenden Gründen nationaler Politik. Darüber hinaus werden wir – zusätzlich zur bestehenden Notfallbremse – an einem „Sicherheitsnetz“-Mechanismus arbeiten. Dieser soll sicherstellen, dass wesentliche nationale Interessen auch weiter in Bereichen der GASP berücksichtigt bleiben, in denen Mehrheitsentscheidungen durch Passerellen ausgeweitet werden. In dieser und anderen Fragen werden wir auch den Rat unabhängiger Fachleute einholen, um Ideen zu sondieren.

In diesen schwierigen Zeiten stehen wir für eine EU ein, die ein handlungsfähiger, effizienter und entschlossener Akteur ist – und der Freiheit, Sicherheit und Wohlstand seiner Bürgerinnen und Bürger schützt. Der EU ist es immer gelungen, sich in schwierigen Zeiten weiterzuentwickeln. Jetzt ist es wieder an der Zeit zu handeln.

Unterzeichnerinnen und Unterzeichner

Hadja Lahbib, Ministerin der Auswärtigen Angelegenheiten, der Europäischen Angelegenheiten und des Außenhandels und der Föderalen Kulturellen Institutionen Belgiens

Annalena Baerbock, Bundesministerin des Auswärtigen Deutschlands

Jean Asselborn, Minister für Auswärtige und Europäische Angelegenheiten Luxemburgs

Wopke Hoekstra, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Niederlande

Bogdan Aurescu, Minister für Auswärtige Angelegenheiten Rumäniens

Tanja Fajon, Ministerin für Auswärtige Angelegenheiten Sloweniens

José Manuel Albares Bueno, Minister für Auswärtige Angelegenheiten Spaniens

www.politico.eu

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