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Grußwort von Staatsministerin Michelle Müntefering bei der Auftaktveranstaltung des Geschichtsfestivals „War or Peace: Crossroads of History

17.10.2018 - Rede

Vor 100 Jahren lag bereits eine revolutionäre Stimmung in der Luft: Nur wenige Wochen später, am 9. November 1918, rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die „deutsche Republik“ von einem Fenster des Reichstages aus.

Das Fenster ist heute der Balkon des Abgeordnetenrestaurants über dem Besucherzentrum des Bundestages - gen Kanzleramt gerichtet.

Zwischen Schnitzel und Eintopf erinnert eine stille Tafel die Parlamentarier an diesen bedeutenden Moment deutscher Geschichte.

Berlin ist heute mehr noch zu einem Ort geworden, an denen Geschichte und Erinnerung untrennbar miteinander verbunden sind.

Vor 100 Jahren endete zugleich, was einige Historiker wie der US-Diplomat George F. Kennet die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichneten: der Erste Weltkrieg, der eine Reihe von Krisen nach sich zog, die im Aufstieg und der Machtübernahme Hitlers und damit im Zweiten Weltkrieg endeten.

Ob diese Kausalität so stimmt, oder welche Umstände die letztlich entscheidenden waren, darüber lässt sich heute noch diskutieren und sicher auch trefflich streiten.

Das überlasse ich Historikern und Geschichtsforschern.

Ganz so einfach ist es aber sicher nicht, denn mit den Haager Friedenskonferenzen und dem Völkerbund gab es auch gleich nach dem Ersten Weltkrieg das Ziel, in einer internationalen, multilateralen Struktur dauerhaft Frieden zu sichern. Und doch wurde danach - mit der Shoah - Schlimmeres, Unvorstellbares wahr.

In Deutschland selbst kommt es zunächst zu einem demokratischen Frühling, einem „Weimarer Frühling“. Im Januar 1919 finden freie Wahlen statt, bei denen erstmals auch Frauen zugelassen sind.

Mit Marie Juchacz, ebenfalls eine Sozialdemokratin, spricht am 19.1. 1919 zum ersten Mal eine Frau im Parlament.

Und es wird noch eine ganze Weile dauern, bis Frauen im Parlament auch in Hosen auftreten dürfen, bis ihnen das Grundgesetz gleiche Rechte sichert.

Bis heute bleibt es eine Aufgabe, diese garantierten Rechte umzusetzen.

In Weimar jedenfalls bekommt die junge Republik eine Verfassung!

Letztlich scheitert diese erste deutsche Demokratie jedoch, auch weil das Vertrauen der Menschen in die eigene demokratische Stärke fehlte, aber auch, weil Extremisten massiv gegen sie ankämpften.

Aber ich will heute nicht Geschichte referieren, sondern etwas dazu sagen, warum es wichtig ist, DASS wir uns mit der Geschichte auseinandersetzen.

Und sehen Sie es mir nach, wenn ich dazu noch ein Paar Personen der Sozialdemokratie bemühe - denn diese Geschichte ist eben auch eng mit der ältesten demokratischen Partei Deutschlands

Ein Blick in die Geschichte!

Mancher könnte jetzt meinen, es gäbe derzeit wichtigere Probleme, jetzt andere Aufgaben zu lösen:

Klimawandel, Migration, soziale Ungleichheiten - große, globale Herausforderungen.

Mancher könnte sogar dagegen halten und sagen: Wir müssen vielmehr in die Zukunft schauen.

Und doch gibt es gute Gründe, warum wir gerade heute die Auseinandersetzung mit Geschichte, also auch den Blick in die Vergangenheit, so dringend brauchen.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

die Frage nach einer globalen Ordnung, die Frieden schafft, stellte sich nach 1918. Und: Auch heute suchen wir nach einer neuen, globalen Ordnung.

Bereits 1924 nahmen die Sozialdemokraten übrigens die Forderung nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ in ihr Heidelberger Programm auf.

Die „Vereinigten Staaten von Europa“ - wie weit scheint das heute angesichts aktueller politischer Entwicklungen entfernt?

Am wichtigsten ist aber und bleibt: Aus der Geschichte zu lernen. Weil Fortschritt möglich ist und bleibt.

In diesem Jahr jährt sich auch - zum 70. Mal - die Verabschiedung der Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Für mich einer der bedeutsamsten Momente der Menschheitsentwicklung.

Aber, verehrte Damen und Herren, was folgt daraus? Was bleibt davon übrig, in den kommenden 100 Jahren?

Sicher ist, wir müssen etwas tun.

Mit der Internationalen Kulturpolitik setzen wir in der Tat vor allem auf Austausch und Begegnung. Wir bauen sie aus.

Denn diese „dritte Säule“ der deutschen Außenpolitik wird wichtiger!

Wir müssen stärker wegkommen von einer Außenpolitik der Staaten und hinkommen zu einer Außenpolitik der Gesellschaften.

Gerade in einer globalisierten Welt ist die Verständigung und die Beteiligung der Zivilgesellschaften, das was wir noch stärker unterstützen müssen.

Hier beim Geschichtsfestival „War or Peace: Crossroads of History“ sehen wir, dass das Interesse an Geschichte und das Verstehen wollen in der ganzen Breite der Gesellschaft, und gerade bei einer jungen Generation auch da ist!

Ich freue mich deswegen sehr, Sie hier im Maxim-Gorki-Theater begrüßen zu können.

Die Vorfreude, die sich spüren lässt, hier im Raum soll sich in den nächsten Tagen auch erfüllen.

Ich bin sicher, dass dieses Geschichtsfestival wie bereits 2014 ein Erfolg wird und ich sage deswegen den Projektverantwortlichen, der Bundeszentrale für Politische Bildung und dem Maxim-Gorki-Theater, ganz herzlich DANKE, das Sie das möglich machen.

Ich finde das Konzept überzeugend: an einem Ort – einem Theater, der wie kaum ein anderer für gemeinsame Schaffensprozesse, aber auch für vielfältige Perspektiven und für Internationalität steht, reden wir über das Wissen um Geschichte.

Wir reden darüber, wie Geschichte immer wieder neu erzählt und angeeignet wird - wie Geschichte auch instrumentalisiert wird.

Und wir reden darüber, wie Selbst- und Fremdbilder gebrochen und wieder neu konstruiert werden, und wie daraus neue Deutungsmuster entstehen.

Es ist wichtig, dass diese Fragen auch Gegenstand der politischen Bildung sind.

Deswegen unterstützen wir als Auswärtiges Amt dieses Festival.

Es ist gut, dass die Bundeszentrale auch daran arbeitet, die wichtige politische Bildung zu einem Teil der internationalen Kultur- und Bildungspolitik zu machen.

Das Ende des ersten Weltkrieges ist ein bedeutendes Ereignis, nicht nur aus außenpolitischer Sicht - wir erinnern gemeinsam mit unseren Partnern in der ganzen Welt daran.

Dieses Festival versammelt dazu über 300 junge Menschen aus ganz Europa und weiteren Ländern.

Gemeinsam mit Ihnen wollen wir uns mit den historischen Zusammenhängen von Krieg und Frieden und AUCH mit aktuellen Herausforderungen auseinandersetzen - in einem offenen, kreativen und künstlerischen Diskurs.

Unter der Vielzahl von Bewerbern wurden Sie ausgewählt teilzunehmen, auch weil Sie Engagement und Interesse für gesellschaftspolitische Themen mitbringen.

Und eines ist ganz sicher: Wir brauchen mehr junge Leute wie Sie, die mitmachen!

Hier und heute wird außerdem deutlich, was für ein großes Geschenk es für die heutige Generation ist, immer mehr Möglichkeiten zu erfahren, für eine längere Zeit in einem europäischen Nachbarland zu leben, zu studieren, zu arbeiten, eine neue Sprache zu lernen - und darüber auch neue Freunde, neue Beziehungen oder gar eine neue Heimat zu finden.

Bestes Beispiel dafür sind die über eine Million „ERASMUS Babys“ – die wahrlich eine europäische DNA haben.

Ein schöneres Symbol für das Zusammenwachsen als echte Familien kann es für das Friedensprojekt Europa kaum geben.

Diese Kinder machen Hoffnung angesichts einer Welt in Unordnung, in der der Populismus einmal mehr versucht, das Gift der Angst in unsere Gesellschaften zu indizieren.

Der beste Schutz davor sind das Wissen und die Erkenntnis, dass Frieden, Freiheit und Demokratie keineswegs selbstverständlich sind.

Sie sind kein natürlicher Zustand von Gesellschaften, der, sobald er einmal erreicht ist, ohne weitere Anstrengungen fortbesteht. Sie müssen immer wieder aufs Neue erkämpft und auch verteidigt werden.

„Ungefährdet ist Demokratie nie“, - so sagte der ehemalige Vizepräsident des Deutschen Bundestages und Abgeordnete aus meiner Heimat, Heinz Westphal. Er sprach aus den Erfahrungen einer anderen Zeit.

Eine Zeit fernab der Demokratie, der Freiheit und des Friedens, die unserer Generation Mahnung bleiben muss.

Seine Warnung war für mich stets Leitbild und Orientierung, doch wie aktuell mir seine Worte wieder einmal ins Gedächtnis kommen würden, das hätte ich mir vor wenigen Jahren nicht vorstellen können.

Doch gerade heute, da Europa vor neuen Herausforderungen steht und alte Gewissheiten der Welt sich zunehmend aufzulösen scheinen, braucht es den Einsatz für die Demokratie.

Demokratie muss stark sein und in ihr die Demokraten. Extremisten dürfen, wie 1933 geschehen, keine Chance haben. Sie müssen die Minderheit bleiben. Deswegen ist es für uns an der Zeit, laut zu werden.

Gerade heute muss klarer denn je sein, dass dieser Frieden, dass Demokratie und Menschenrechte immer wieder neu erkämpft werden müssen.

Das ist meine Botschaft auch an Sie, die junge Generation:

Nicht verzweifeln, sondern helfen, einen Unterschied zu machen.

Sich auf die Seite derer stellen, die für Fortschritt und für Frieden eintreten. Verantwortung tragen wir heute alle.

Denn: Wer sich nicht einmischt, der muss sich nicht wundern, wenn er von Dümmeren regiert wird, als er selbst.

Und deswegen dürfen wir die Gestaltung unser aller Zukunft auch nicht allein Regierungen und den Twitter-Accounts dieser Welt überlassen.

Florian Henkel von Donnersmark - der ist so weit ich weiß mal nicht in der SPD - hat neulich in Venedig im Interview gesagt: Jeder Politiker, der für ein Amt kandidiert soll erstmal einen Geschichtskurs besuchen. Ich meine ein Anfang wäre auch gemacht, wenn einfach noch mehr Politiker mal ins Gorki Theater kommen würden und am Geschichtsfestival teilnehmen würden.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

angesichts von den großen Fragen unserer Zeit, angesichts Migration, Mobilität, Globalisierung, oder einer immer schneller voranschreitenden Digitalisierung wird sich zeigen, ob wir gelernt haben, zusammenzustehen und Probleme gemeinsam zu bewältigen.

Es geht aus meiner Sicht im Grunde vor allem um eine Frage: Stimmen wir zu, wenn gesagt wird, „wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht“ - oder meinen wir, dass wir zusammen mehr erreichen können?

Ich bin überzeugt, dass Frieden und Wohlstand nur dann langfristig gesichert werden können, wenn die internationale Gemeinschaft es schafft, gemeinsam kluge, nachhaltige und gerechte Lösungen für die Fragen unserer Zeit zu finden.

Ich bin fest davon überzeugt, dass die richtigen Antworten im 21. Jahrhundert nur in einem transnationalen Dialog gefunden werden können.

Dies gilt auch für die Zukunft und die künftige Rolle Europas in der Welt. Gerade jetzt, wenn sich bislang verlässliche Partner aus ihrer Verantwortung zurückziehen und Krisen und Konflikte in der Welt weiter zunehmen, müssen wir den Zusammenhalt Europas weiter stärken.

Es ist Zeit für „Europe United“.

Und das heißt nicht, dass in Europa immer alle einer Meinung sein müssen.

„Europe United“ erfordert vielmehr einen konstruktiven Umgang mit Unterschieden und die Bereitschaft, aus der Vielfalt etwas Gemeinsames entstehen lassen.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

„Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“, hat Willy Brandt einst gesagt. Die Frage, wie Frieden gesichert und gestaltet werden kann, ist keine abstrakte politische Frage.

Im Gegenteil: Sie fordert konkretes Handeln des Einzelnen ein - sei es mit der Stimme bei demokratischen Wahlen, in Meinungsäußerungen oder bei zivilgesellschaftlichem Engagement.

Und lassen Sie mich dem Blick in die Zukunft, der sich aus der Erinnerung speist, noch eines anfügen:

Wir Deutschen neigen hin und wieder dazu, den Blick auf uns selbst zu richten oder die Welt aus unseren Augen zu betrachten und darüber zu vergessen, dass auch die Augen, die Perspektive des Gegenübers, des anderen, ebenso bedeutsam ist.

Gerade mit Blick auf den ersten Weltkrieg müssen wir aber - auch als Europäer - an Afrika denken. Deshalb finde ich es wichtig, dass das Festival auch unserem Nachbar-Kontinent in den Blick nimmt.

Mit Achille Mbembe haben Sie einen der wichtigsten Vordenker Afrikas und bedeutendsten Intellektuellen, der die heutige Keynote-Speech halten wird.

Ich habe viel von seinem Blick auf die Dinge gelernt - ganz besonders den notwendigen kritischen Blick auf den europäischen Kolonialismus, der eng mit dem Imperialismus des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden ist.

„Was heißt Teilen im 21. Jahrhundert?“ fragt er uns heute. Er trifft damit den Kern des Zusammenlebens in der Gesellschaft.

Lieber Achille Mbembe! Ich meine: Wir müssen begreifen, dass es uns langfristig nur gut geht, wenn es auch anderen gut geht.

Das ist der Kern internationaler Kulturpolitik, die auf Dialog, Verständigung und Zusammenarbeit setzt - und das ist auch die Idee des Multilateralismus!

Das ist es, was wir in einer kulturell vielfältigen, grenzüberschreitend verflochtenen und postkolonialen Gesellschaft brauchen: Koproduktion und Kooperation, auch um die eigene Position im nationalen wie auch globalen Kontext bestimmen und in Bezug zur Position des Anderen setzen zu können.

Nur mit dieser Fähigkeit der kulturellen Intelligenz, können wir Empathie erfahren und Vertrauen entwickeln.

Meine Damen und Herren,

die Lehren der Geschichte an nachfolgende Generationen weiterzugeben bleibt uns Aufgabe und Verpflichtung. Die Kolonialzeit ist ein Teil der europäischen Geschichte, der schmerzhaft ist. Doch wer die Wahrheit liebt, der muss sich erinnern können.

Erinnern und Wahrheit - das wollen wir ermöglichen helfen. Dafür brauchen wir Räume der Freiheit, Mut, und immer auch Optimismus dazu, dass wir einen Unterschied machen können.

Eine junge Generation hat dabei die Aufgabe, ihre eigenen Zugänge zur Auseinandersetzung zu finden. Meine Unterstützung dazu haben Sie.

Dieses Festival verkörpert eine junge, zukunftsgerichtete, auf Austausch und Dialog setzende Erinnerungskultur.

Neben einer ganzen Anzahl von hervorragenden Projekten und Arbeiten steht auch die Jugendbegegnung mit dem Titel „Youth for Peace“ unter der Schirmherrschaft des Auswärtigen Amts und wird vom Deutsch-Französischen Jugendwerk vom 14. - 18. November hier in Berlin durchgeführt.

500 Jugendliche aus über 50 Ländern diskutieren dabei über den Ersten Weltkrieg, und wie wir einen Unterschied machen können, in der Erinnerungskultur. Damit bauen wir auf den Diskussionen des heute beginnenden Geschichtsfestivals „War or Peace“ auf.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer!

Es gibt gute Gründe zur Hoffnung, dass Europa auch weiter eine starke, freie Demokratie sein wird. Den besten Grund sehen wir heute hier: Dass Sie alle hier sind, sich engagieren, in Vereinen und Verbänden aktiv sind und miteinander ins Gespräch kommen und kritisch nachfragen.

Ihnen wünsche ich in den folgenden vier Tagen in Berlin eine anregende, unvergessliche Zeit voller neuer Impulse und spannender Begegnungen.

Ich versichere Ihnen: Wir werden Sie alle brauchen. In Europa, bei Ihnen daheim, in den Gesellschaften. Wir brauchen Menschen, wie Sie, denen die Welt, wie sie ist, nicht egal ist! Wir brauchen Demokraten, die wählen gehen. Auch besonders im kommenden Jahr - bei der Europawahl.

Denn es gilt: Es gibt keinen Automatismus in der Geschichte. Wir machen sie selbst!

Herzlichen Dank!

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