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Rede von Staatsministerin Müntefering zur Jubiläumsfeier „50 Jahre Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller“

16.11.2019 - Rede

Nach einer arbeitsreichen Sitzungswoche in Berlin ist es schön, heute bei Ihnen sein zu können.
Das aktuelle Thema in Berlin, die Rente, ist sicher wichtig - aber für Sie ja noch ganz weit weg. Mit 50 Jahren erreicht man zumindest im Parlament gerade die Volljährigkeit.


Vielleicht kennen Sie im Bundestag das Kunstwerk „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke. Ein großer Kasten in einem der Höfe, der mit Kies und Erde gefüllt ist und aus dem Pflanzen sprießen. In dessen Mitte steht der beleuchtete Schriftzug „DER BEVÖLKERUNG“. Die Erde mit ihren Samen bringen Abgeordnete aus ihren Wahlkreisen mit und können so das florale Kunstwerk mit gestalten.

„Der Bevölkerung“ bezieht sich auf den Schriftzug, der am Reichstag, über dem Eingang gegenüber vom Kanzleramt angebracht ist: „DEM DEUTSCHEN VOLKE“.

Der Künstler spielt mit dem Bedeutungsunterschied zwischen „Volk“ und „Bevölkerung“. Denn: Der Begriff Bevölkerung schließt alle Menschen ein, die in einem Land leben. Hans Haacke hat sich bei seiner Aktion von einem Satz Bertolt Brechts inspirieren lassen: „Wer in unserer Zeit statt 'Volk' 'Bevölkerung' […] sagt, der unterstützt schon viele Lügen nicht.“


Ich habe darüber vor einem Jahr mit dem Literaturwissenschaftler Heinrich Detering diskutiert, an dessen Werk über „Kulturpessimismus und Sprachkritik“ oder zur „Sprache der parlamentarischen Rechten“ ich hier gar nicht erst anzuknüpfen versuche. Hingegen kam mir unsere Unterhaltung unlängst wieder in den Sinn, als ich auf der Plenar-Etage stehend auf die Pflanzen der „Bevölkerung“ herunter blickte und mich an die Begegnung in der ehemaligen Villa Thomas Manns in Kalifornien erinnerte.


Der wohl wortgewaltigste deutsche Erzähler des letzten Jahrhunderts nahm dort seine über 50 BBC-Interviews gegen Hitler auf. Lion Feuchtwanger, dessen Villa einen Steinwurf entfernt ist, war bereits in das kalifornische Exil ausgereist, Adorno, Einstein oder Brecht waren seine Gäste.


Heinrich Detering und ich trafen uns an diesem kulturhistorischen Ort in der Delegation des Bundespräsidenten, denn der Deutsche Bundestag hatte das Geld bereitgestellt und das Auswärtige Amt die Mann-Villa zurückgekauft und renovieren lassen, um dort ein Residenzprogramm einzurichten. Das wurde unterstützt vom Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, dem ich zu dieser Zeit bereits angehörte.


Zu den ersten Stipendiaten gehörte auch Professor Detering selbst, der den Dialog- und Denkraum für das Sinnieren und Publizieren über das künftige transatlantische Verhältnis nutzte. Das Thomas Mann Haus ist ein konkretes Beispiel für die Ausgestaltung der Internationalen Kulturpolitik. Diese können sie sich als eine universelle Sprache vorstellen, die weniger auf Worte, als auf das gemeinsame Schaffen setzt.


Ob Stipendien- und Residenzprogramme, Literaturfestivals, Buchmessen oder das PEN-Zentrum Deutschland, das in diesem Jahr 20 Jahre alt wird: Die internationale Kulturpolitik will und fördert Kooperation und Koproduktion. Sie will nicht national repräsentieren, sondern international diskutieren.


Und da im Verband der Schriftsteller ja auch Übersetzerinnen und Übersetzer engagiert sind: Das Auswärtige Amt unterstützt auch Übersetzungen. So wollen wir deutsche Literatur einem größeren Publikum bekannt machen und umgekehrt erschließen sich mit ins Deutsche übersetzter Literatur aus Afrika, Asien oder Südamerika neue Welten und wir stärken das gegenseitige Verständnis. „Dichter übersetzen Dichter“ etwa ist eines der spannenden Programme des Goethe-Instituts, hinter denen oft engagierte Autoren und Schriftsteller stecken.


Unsere Programme richten sich allerdings nicht nur an bereits etablierte Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Mit Schreibwerkstätten für Frauen im Irak etwa fördern wir seit 2016 die demokratische Beteiligung von Frauen in Flüchtlingscamps. Viele von ihnen sind vor dem IS geflüchtet. Das Schreiben hilft ihnen, das Erlebte zu verarbeiten, sich auszudrücken und neues Selbstbewusstsein als Kultur schaffende Frauen zu gewinnen.


Nahed, aus Damaskus, die heute mit mir hier ist, habe ich in Bochum kennengelernt, als sie gerade, wenige Monate nach ihrer Flucht aus Syrien, ihren ersten Roman in einem Kairoer Verlag herausgebracht hat. Nahed, Du hast einmal gesagt, du wollest die Geschichtsschreibung nicht anderen überlassen - und das Lächeln helfe dir, zu überleben. In meinem Bundestagsbüro staune ich immer wieder, wie Du die deutsche Sprache für dich erschließt. Ich wünsche dir noch viele Menschen, die deine Geschichten und die von jungen Frauen wie dir hören können.


Sie sehen: Das Innen und Außen können wir kaum mehr trennen. In einer globalisierten Welt muss also auch die Außenpolitik stärker eine Antwort auf die Frage geben: In was für einer Welt wollen wir leben? Politik ist eben nicht nur die Verfasstheit von Staaten, sie ist auch das „WIE“, das Miteinander.


Das Miteinander, verehrte Damen und Herren, das leidet - besonders durch den Auftrieb rechter, nationalistischer Parteien. Und andersherum befürchte ich, diese Veränderungen in der Gesellschaft, die wir alle spüren, haben etwas damit zu tun, wie wir dieses Miteinander organisieren: Denn die Auswüchse des Kapitalismus, ungleich verteilte Bildungschancen, und eine völlig veränderte Kommunikation bestimmen unser gesellschaftliches Miteinander nicht unwesentlich mit.
Deswegen sind Kulturfragen immer auch Gesellschaftsfragen: Und Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik.
Die Sprache im Deutschen Bundestag ist auch nicht immer geeignet, das Miteinander zu verstärken. Da müssen wir uns was einfallen lassen.

Doch gefährlich wird es da, wo die Sprache weder für das Deutsche Volk, noch für die Bevölkerung ist, sondern völkisch. Wenn etwa von „Denkmal der Schande“ oder dem „Vogelschiss der Geschichte“ gesprochen wird. Das sind zwei Beispiele.

Doch aus der täglichen Erfahrung in der Politik, im Bundestag (15 Stunden saß ich allein an diesem Donnerstag auf der Regierungsbank, nicht weit entfernt von der AfD-Fraktion), kann ich Ihnen sagen: Nationalismus hat wieder Auftrieb im Land - und leider in der Welt. Durch Sprache wird versucht, ganz gezielt die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Weil das Sagbare am Ende immer auch das Machbare ist. Was zur Sprache kommt, das kommt zur Welt, das ist der Grund, warum Sprache so wichtig ist: Weil sie Umgang, weil sie Leben formt.
Gestern meldeten sich zahlreiche Journalistinnen und Journalisten zu Wort, die Drohungen erfahren. Die Anschläge von Halle und der Mord an Walter Lübke zeigen erneut: Erst sind es Worte, dann Taten.
„Es ist ein schreckliches Schauspiel, wenn das Irrationale populär wird“, sagte Thomas Mann.

Wir müssen aufpassen, dass wir als Demokratinnen und Demokraten nicht als gaffende Zuschauer vor der Bühne enden. Und das braucht eben - Frau Leping hat es eben gesagt - Solidarität.

Sehr verehrte Damen und Herren,



Sie traten vor 50 Jahren an, um die „Situation der Schriftsteller in der Bundesrepublik“ zu verbessern. In einer politischen Zeit, in der Intellektuelle, Künstler, Forscher und eben vor allem Schriftsteller dazu beigetrugen, den moralischen Kompass unseres Landes mit der Macht des Wortes wieder neu auszurichten.

Wenngleich ich noch gar nicht geboren war: Es wurde die Zeit meiner Helden. Der Geist Erich Frieds, Paul Celans oder Wolfgang Hildesheimer, erreichten mich auch viele Jahre später noch. Auf meinem Stiftemäppchen stand neben “Guns n' Roses” und “Red Hot Chili Peppers” auch „Gruppe47“.

Politiker, besonders meiner Partei, pflegten engen Austausch, ja Freundschaften, mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Willy Brandt traf sich regelmäßig mit Günther Grass oder Ingeborg Bachmann, Helmut Schmidt fand seinen Kompass nicht nur bei Kant, sondern auch bei Lenz.


Mein Mann pflegt eine innige geistige Beziehung zur Literatur und Gedankenwelt Camus, Frank-Walter Steinmeiers Verbindung zu Thomas Mann reicht weit über die Wiedereröffnung seines Wohnhauses hinaus. Diese Verbundenheit zwischen Kunst und Politik ist heute selten geworden. Ich wage zu behaupten, das tut weder der einen, noch der anderen Seite gut.

In seiner Rede vor den Vereinten Nationen sagte Willy Brandt 1970: „Gute Politik braucht die Literatur als sprachliches Korrektiv. Je enger der Kontakt zwischen Literatur und Politik, umso besser ist das Sprachbewusstsein.“ Man könnte auch sagen: Hüten Sie sich vor Politikern, die nicht lesen.


Sehr verehrte Damen und Herren,



in meiner Ruhrgebietsfamilie wurde nicht viel gelesen. Aber Zuhause las meine Familie mir auf mein frühkindliches Drängen hin vor. Als ich in die Schule kam, hatte sie die beste Idee: Jeden Monat durfte ich mir im Buchhandel ein Buch aussuchen. Ärger gab es trotzdem, wenn ich mich mit der Taschenlampe unter der Decke erwischt wurde. „Demokratie und Geborgenheit“, erwartete Astrid Lindgren von der Kinderliteratur. Unter meiner Decke im Ruhrgebiet fand ich sie.


Später haben mich Celans Gedichte vielleicht mehr über das Grauen von Ausschwitz gelehrt als die eigentlichen Geschichtsstunden. Weil die seelische Beschreibung eben auch das Bewusstsein zu berühren vermag. Wenn wir heute über die Bekämpfung von Antisemitismus sprechen und über die pädagogische Vermittlung nach dem Tode der Zeitzeugen sollten wir diese Stimmen, auch die der Lyrik, nicht vergessen.


Die Kunstvermittlung ist eine Kunst. Dazu brauchen wir leibhaftige Lehrer in den Schulen - und lebendige Geisteswissenschaften. Es verwundert nicht, dass in manchen Ländern, in denen Nationalismus heute wieder auf dem Vormarsch ist, besonders die Geisteswissenschaften unter Druck geraten: Gelder werden gekürzt, wissenschaftliche Diskurse diffamiert, kurz: kritische Geister mundtot gemacht.


„In den Gefängnissen dieser Welt sitzen Leute, die nichts anderes gemacht haben, als kritische Bücher zu schreiben. Am Tag der AutorInnen hinter Gittern weisen wir auf ihr Schicksal hin, jeden Tag kämpfen wir für sie. Demokratie braucht freie Kunst und freien Meinungsaustausch“, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas vorgestern.


Als Auswärtiges Amt setzen wir etwas dagegen: Wir haben die Philipp Schwarz- und Martin Roth-Initiative ins Leben gerufen, mit denen wir verfolgten WissenschaftlerInnen und KüstlerInnen Schutz geben. Und wir unterstützen auch das PEN, das mit “Writers in Exile” hilft, wenn Schriftsteller in Not geraten.


Sehr verehrte Damen und Herren,



die Intellektuellen und auch ihre Debatten und Diskurse haben unsere Republik jahrzehntelang geprägt, bis heute. Ihre Bedeutung ist nicht zu überschätzen. Genauso wie die Rolle, die ein Verband wie Ihrer einnimmt, damit Sie zusammen eine starke Stimme haben und diese auch erheben können.

Als sich der Verband der Schriftsteller 1969 gründete, proklamierte Heinrich Böll vor der Gründungsversammlung das „Ende der Bescheidenheit“. Und so kam es auch. Viele selbstbezeichnete Einzelgänger taten sich zusammen, um Tacheles über die Arbeitsbedingungen der Autoren und Übersetzer zu reden und den Gesetzgeber zum Handeln zu zwingen.
Der Ruf von der Gründungsversammlung in Köln wurde auch ein paar Kilometer rheinaufwärts gehört. Alle - der damals drei - Fraktionen im Bundestag in Bonn nahmen sich den ersten Anliegen des Verbands an. Der wachsende Einfluss des Verbands wurde nur ein Jahr später besonders sichtbar, als Bundeskanzler Willy Brandt auf dem Kongress sprach. Brandt, der bekanntlich selber als Journalist und Korrespondent tätig war, begrüßte Ihren Einsatz.


Einen gewissen Anteil am Erscheinen Brandts wird der Gründungsvorsitzende Dieter Lattmann gehabt haben, der später selber Bundestagsabgeordneter für die SPD wurde. Dieter Lattmann verstarb leider im letzten Jahr. Bis zuletzt erinnerte er regelmäßig und mit Nachdruck daran, welchen wertvollen Schatz wir mit der von ihm initiierten Künstlersozialversicherung in Deutschland haben.


Heute arbeiten wir im Parlament weiter und wieder an Verbesserungen für Künstlerinnen und Künstler. Denn die Arbeitsbedingungen unterscheiden sich oft stark von geregelter Erwerbstätigkeit. Für sie tritt Anfang 2020 nun eine Sonderregelung in Kraft, die den Zugang zum Arbeitslosengeld in Phasen mit weniger Aufträgen erleichtert. Es ist kein Geheimnis, dass die SPD sich eine Verlängerung dieser Frist auf drei Jahre vorstellen kann.

Dazu haben wir den Anspruch für verkürzte Anwartschaftszeiten verbessert, bei Verdienstobergrenze und Befristungszeiten. So haben Sie auch einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn Sie einige gut bezahlte Aufträge haben und dennoch nicht auf die 12 Monate kommen. Unsere Kulturpolitiker wollen weitere Vorstöße wagen: Bei Krankenpflege- und Rentenversicherung etwa. Und, manchmal muss man auch im Tor stehen: Wir konnten bereits im letzten Jahr die Abschaffung der Buchpreisbindung verhindern.

Sehr verehrte Damen und Herren,



unsere Meinung sagen zu können, das ist ein Privileg - das gibt es nicht überall auf der Welt. Als Außenpolitikerin erlebe ich das. Ich bin froh, dass ich Nachhause kommen kann in ein Land, in dem das Grundgesetz es ausdrücklich so will. Den Widerspruch, die Kritik, den Diskurs. Das allein verpflichtet uns, es auch zu tun. Darin müssen wir im Parlament aber auch insgesamt als Demokratinnen und Demokraten wieder besser werden.


Es geht darum, uns auszudrücken, uns einzumischen, kritische Geister sagen: „Sand und nicht Öl im Getriebe zu sein“. Dafür aber brauchen wir Freiräume. Freie Kunst und Kultur. Denn: Eine Gesellschaft, deren Kultur eingeschränkt und in ihrer Vielfalt begrenzt wird, verliert ihre Seele.


Verehrte Damen und Herren,



Künstlerinnen und Künstler helfen, Freiheit zu stärken. Der Blick zurück auf die letzten 50 Jahre macht deutlich, dass sie heute nun wirklich die „Bescheidenheit“ ablegen dürfen. Sie können stolz auf das Erreichte sein und dies feiern. Feiern ist darüber hinaus gut für den Zusammenhalt.


Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass unser Fest ein Fest der „Bevölkerung“ ist. Ein Fest der Demokratie, mit und für: Demokraten.


Übrigens: Es soll einen Abgeordneten gegeben haben, der einen Hanf-Samen in die Erde geschmuggelt hat. Es lohnt sich also, die Bevölkerung gut im Auge zu behalten.



Glückauf!

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